Wahn in der Datenbahn

Das Internet ist ein Ärgernis. Wer etwas sucht, ertrinkt im Datenmeer. Das Netz vergeudet die Zeit der Surfer sinnlos. Ohne technisches Fachwissen schafft niemand den Anschluss. Geld ist im World Wide Web nicht zu machen. Das globale Dorf ist in Wahrheit ein titanischer Schrottplatz.

Von Peter Hossli

alptraum.jpgAn Stelle nützlicher Daten zeigt das Internet plötzlich und unaufgefordert kryptisch anmutende Wörter und Zeichen. «This page», heisst es schwarz auf weiss in der aufblitzenden Sprechblase des Computerbildschirms, «contains information of type «application/x-livescreen».»

Gelesen werden könnten diese Informationen nur «with the appropriate plug-in.» Was man nun tun wolle, «Plug-in» oder «Cancel»?, fragt der Rechner.

Stefan B. Mettler, 38, Ökonom mit Uni-Abschluss, drückt auf «Plug-in». Es passiert nichts. Plötzlich noch eine verschlüsselte Nachricht. «Error», Fehler, versteht der des Englisch kundige Surfer natürlich bestens. «The requested item could not be loaded by the proxy.» Was ein Proxy ist, weiss Mettler nicht. Und dann das: «TCP Error: Broken pipe.» Der stumme Schrei der Maschine flösst Angst ein. Es droht der Kollaps. Wie befürchtet, stürzt der Computer ab, erstarrt würdelos. Auf dem Bildschirm flimmert die ungeliebte Bombe. Unverzüglich fordert der Macintosh den Neustart.

Gedauert hat die ganze Aktion eine geschlagene Stunde. Ohne nennenswertes Resultat. An Altersschwäche der Maschine oder an der Software kanns nicht liegen. Der Anschluss funktioniert erst seit einem Tag einwandfrei. Berappen muss Mettler den Provider, die Firma, die die Internet-Verbindung zum Computer herstellt, aber bereits seit zwei Monaten.

Damals kam das Fenstercouvert. Eine Diskette, das Passwort, viel Papier. Trotz ausführlicher Bedienungsanleitung gelang es dem Bald-Internauten wochenlang nicht, eine taugliche Verbindung herzustellen. Erst der Freundin, einer ETH-Studentin, die eine Nacht lang an Mettlers widerwilligem Computer herumbastelte, glückte der Zugang.

Von wegen «Plug and Play», erkannte der geknickte Mettler. Wer den Stecker einsteckt, hat beim Internet die Gewissheit zum Spielen noch lange nicht.

Dabei solls ein Wunderwerk sein. Das Internet, ein Medium, von den anderen Medien täglich gehypt, das alles kann: Die Welt verbinden, der Welt die Demokratie bringen, Geld vermehren, Wissen konservieren und ganz allgemein das Leben mündiger und aktiver Menschen erleichtern. Das Paradies auf Daten.

«Zukunft», «Erfolg», «Dynamik», «Geschwindigkeit», «Freiheit», «Business», bringe dereinst das Netz, steht in Leitartikeln und Büchern.

Grosse Worte für einen Datenverbund unter Computern, der dauernd verstopft ist, einen Überfluss an Datenschrott produziert und enorm viel Zeit völlig unproduktiv vergeudet. Wie man mit Daten, die auf dem Internet zirkulieren, Geld verdienen soll, hat noch niemand schlüssig zeigen können. Die seit drei Jahren mit nahezu religiösem Eifer wiederholten Internet-Zauberworte – Demokratisierung, globales Dorf oder Interaktivität – entpuppen sich als Worthülsen, die Internet-Propheten als Schaumschläger und geldgierige Blender.

Der Daten-Superhighway? Eine verstopfte Quartierstrasse mit Schlaglöchern.

Die unendliche digitale Geldvermehrungsmaschine? Ein Fass ohne Boden.

Das Medium der globalen Demokratie? Elitarismus sondergleichen.

Das Massenmedium? Eine Spielzeug für Technokraten und ein permanenter Intelligenztest für die entnervten Nutzer.

Die Vereinigung aller arbeitenden Maschinen dieser Welt? Mit jeder Neuausgabe der sich konkurrierenden Browser-Entwickler sinkt die Kompatibilität.

Das Internet? Ein Ärgernis.

Dabei füllt kein Thema seit 1994 mehr Seiten in Zeitungen und Magazinen als die Mythen, Hoffnungen und Träume rund um die drei grossen W: World Wide Web. Das Internet – unser aller Yin und Yang, zugleich Rettung und Verheissung.

Wer nicht mindestens als Surfer dabei ist, suggerieren Propheten und Quacksalber, habe den Anschluss längst verpasst. Ohne eigene Homepage fehle der Zugang zur Welt. Eine Visitenkarte ohne E-Mail-Adresse diene höchstens als zu klein geratener Notizzettel, beschied ein Kollege dem Ökonomen Mettler. «Nur wer vernetzt ist, existiert», schrieb «Der Spiegel».

Globales Dorf

Wer vernetzt ist, liesse sich daraus ableiten, der hat auch eine Stimme. Wer eine Stimme hat, der nimmt an der globalen Demokratie teil, sagen linke Utopisten, die sich vom Internet eine gerechtere Welt erhoffen. Jeder könne jetzt seine Meinung sagen, nicht bloss die gigantischen US-Manipulatoren an den Schalthebeln der Kommunikationsriesen.

Die Realität sieht anders aus. Was haben die meisten Internet-Talker zu sagen oder zu zeigen? Oft banale Redundanz, etwa das Fotoalbum des Neugeborenen, die Kochrezepte des Wettermanns.

Wer sagt was? Auf die Maus klicken mehrheitlich 20- bis 30-jährige, top ausgebildete, gut verdienende Männer. Sozialhilfeempfänger oder Menschen ohne Computerwissen telefonieren. Homepages gestalten sie keine.

Vom globalen Sprachrohr ist das Internet weit entfernt. Fast drei Viertel der Menschheit hat kein Telefon. Nur drei Prozent der Weltbevölkerung hat Zugang zu einem PC. Die phänomenalen Wachstumsraten der Computerindustrie – in der Schweiz fast 20 Prozent – werden im Norden mit dem Verkauf von Zweitgeräten erzielt. Erstkäufern sind die Computer zu teuer oder zu kompliziert. Die angeblich rassen-, geschlechter-, sprachen-, kultur-, alters-, grenzen- und wohlstandsübergreifende Internetgemeinde ist weiss, männlich und lebt in Europa, Amerika oder Japan. Wer kein Englisch kann, findet im Netz kein Gehör.

Die Liste der häufig besuchten Web-Sites führen Browserfirmen wie Microsoft oder Netscape und Internet-Suchmaschinen wie Yahoo! oder Hot Bot an, dicht gefolgt von CNN, «Time» oder den «New York Times». Keine Beat-Breu-Fan-Seite oder die Homepage der zapatistischen Befreiungsbewegung Mexikos. Auf gleicher Höhe mit den US-Mediengiganten zu sein, ist weltfremde Illusion.

Netz-Alltag

Der Netz-Alltag Stefan B. Mettlers entpuppt sich oft als bizarrer Alptraum, als Abfolge unheilvoller, nicht kontrollierbarer Katastrophen, als ständige Herausforderung für den technischen Laien.

Im digitalen Fahrplan der SBB eine Verbindung zwischen Baden und Zermatt finden, kostet ihn gut und gern eine halbe Stunde – wenn die störungsanfällige Eisenbahn-Site einmal nicht abstürzt. Das Attachment, ein per E-Mail mitgeschicktes Dokument im Windows-Format, kann der Mac-Nutzer nicht öffnen. Will er abends E-Mails verschicken, bekommt er häufig ein «no connection» zur Antwort. Die Daten des Flugplanes der Swissair sind zeitweise einfach nicht vorhanden. Olympia auf Internet? Auch auf www.nagano.com herrschte öfters Nebel.

Beim Surfen stösst Mettler täglich auf leere Seiten mit dem Hinweis «URL not found», Adresse nicht gefunden. So schnell wie neue Inhalte im Netz erscheinen, verkümmern alte. Ums Auffrischen sorgt sich niemand. Längst verkaufte Vorstadt-Villen liegen noch immer auf Immobilien-Sites. Der Müll verstopft das Netz.

Mit Bildern, Tönen oder Videofilmen angereicherte Sites verlangen vom überforderten Nutzer mühsam herunterzuladende Zusatzprogramme, so genannte Plug-ins. Die Frustration ist besonders gross, wenn nach 40 Minuten Ladezeit sich das Plug-in auf halben Weg in der Telefonleitung festkrallt. Die Verbindung bricht ab. Es bleiben zwei Möglichkeiten: das telefonkostenintensive Unterfangen zu wiederholen, oder aber aufs bewegte Bild zu verzichten. Die meisten wählen die bequemere Variante – und geben für immer auf. Der Wissensgewinn fällt weg.

Datenmeer

Kommt man bei der aufreibenden Suche doch einmal zum Ziel, erschlägt einem der gigantische Datenschwall.

Zum Stichwort «Titanic» bringt die beliebte Suchmaschine Altavista 20 334, Hot Bot gar 54 378 Fundstellen hervor. Verarbeiten kann diese unübersichtliche Masse niemand, schlauer ist der neugierige Erforscher des Debakel-Dampfers nicht. Ein Griff ins Büchergestell oder der Gang zur örtlichen Bibliothek bringt schneller brauchbareres Wissen hervor.

Das beste Mittel gegen Durst ist Wasser aus dem Glas, nicht der Strahl aus dem Schlauch der Feuerwehr.

Skeptiker wie Jünger des Internets sind sich in einem Punkt einig: Zwar steigert die digitale Kommunikation – neben dem Netz Faxmaschinen, Handy oder Satelliten-TV – die Produktivität. Was die Qualität des Outputs betrifft, leidet die Wissenschaft arg unter dem Internet.

Statt Analysen überwiegen an Universitäten Schnellschüsse. Dort was gefunden, hier was gesehen, schnell zusammengestellt, aufbereitet und auf der eigenen Homepage als Erkenntnis präsentiert. Nachgedacht hat keiner. Das übliche monatelange Hinterfragen eines Befundes kann sich niemand mehr leisten. «Jagdfieber», nennt ein Chemieprofessor aus Berkeley die Web-Wissenschaften.

Auch der Ruf der Politiker nach Computern mitsamt Internetanschluss in jedem Klassenzimmer verbirgt mangelnde Kenntnis. Der Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor fordert lauthals Web-Kontakt für seine Pennäler. Dabei ist es mit dem Computer und dem Netz wie einst mit dem Schulfernsehen. Weiss ein fauler Lehrer nicht weiter, stellt er eine Maschine hin. «Die Überflutung mit Computernetzen hintertreibt Bildung und Kreativität», schreibt der Internet-Pionier Clifford Stoll im Buch «Die Wüste Internet – Geisterfahrten auf der Datenautobahn».

Wenn Drittklässler aus Bubikon mit Gleichaltrigen im österreichischen Burgenland chatten – live im Internet kommunizieren -, ist das nichts Revolutionäres. Früher gabs den Schüleraustausch oder Brieffreundschaften. Heute trifft man sich zum banalen Gequassel im Netz: «Hallo, mein Name ist Ruth.» «Hallo, mein Name ist Kurt.» «Hallo Kurt, wie gehts?» «Gut. Wie ist das Wetter bei euch?»

Der Cyberspace sei «eine unwirkliche Welt, ein lösliches Gewebe aus Nichtigkeit», schreibt Kritiker Stoll. Bit um Bit würden die Tage durchs Modem tröpfeln.

Chronische Verstopfung

Das nervenaufreibende Gedränge überrascht nicht. Die heutigen Anforderungen waren ursprünglich nicht vorgesehen. Die Ansprüche ans Internet hielten sich lange Zeit in überblickbaren Bahnen. Amerikanische Militärs tauschten in den sechziger Jahren Geheimnisse zwischen den Air-Force-Basen in Heidelberg, Germany, und Andrews in Maryland aus. Dann entdeckten Wissenschaftler an Universitäten das Netz zum schnellen Transfer ihrer Forschungsergebnisse. Der Biologie-Professor am MIT in Boston korrespondierte jetzt mit dem Studenten an der ETH in Lausanne. Der Datenverkehr blieb knapp und beschränkte sich vorwiegend auf Texte.

1994 entwickelte Wunderkind und Netscape-Gründer Marc Andreessen den Browser, ein Programm, das im Internet Bilder, Texte, später auch Töne und Filme vereinigte. Noch wichtiger: Der Browser vereinfachte das Stöbern im Netz. Ein Mausklick genügte, schon war man von der Bibliothek einer Universität im Archiv eines Käfersammlers. Seither breitet sich das Internet unaufhaltsam aus. 1995 entdeckten Firmen das World Wide Web als Werbeplattform, später als digitales Warenhaus. Im September 1997 waren insgesamt 26 Millionen Computer miteinander verbunden. Jährlich verdoppelt sich diese Zahl. 1998 tummeln sich weltweit über 100 Millionen Menschen im Netz. Ständig werdens mehr.

Die Folge: chronische Verstopfung.

«Das Internet ist eine Autobahn mit einer einzigen Spur ohne Verkehrsampeln», sagt Douglas E. Van Houweling, Professor für Informatik an der University of Michigan. Er gehörte zum Gründerstab des Internets. Heute sorgt er sich. «Da keine Gebühren und kein einziges Rotlicht den Zugang erschweren», sagt Van Houweling, «ist alles immer verstopft.» Zum vernünftig Arbeiten tauge das WWW längst nicht mehr.

Van Houweling möchte Abhilfe schaffen. Internet 2 heisst sein Rezept. Mit Unterstützung der US-Regierung, 117 Universitäten und 25 Privatunternehmern entwickelt der Informatiker ein Parallelnetz. «Eine mehrspurige, zahlungspflichtige Schnellstrasse», sagt Van Houweling.

Eine Spur möchte er dem Verkehr grosser Datenmengen, eine andere der Übertragung von Videokonferenzen und eine dritte dem Senden von Fernsehsignalen offenhalten.

Das tönt viel versprechend. Noch existiert Internet 2 aber erst auf Papier. Vor dem Jahr 2000 steht eine einsatzbereite Technologie nicht zur Verfügung. Frühestens 2003 ist Internet 2 nutzbar – im Informationszeitalter Lichtjahre entfernt.

Einem Hauptanliegen der Internet-Gemeinde – möglichst offenen Datenverkehr – läuft das Projekt entgegen. Internet 2 beendet die klassenlose Cyberspace-Gesellschaft. Zugang hat nur, wer zahlt.

Netz mit laufmaschen

Darauf hofft die Wirtschaft. Zudem ist eine stark verbesserte Technologie unabdingbar. Das heutige Netz ist labil. Hacker dringen in die Computer von Regierungsstellen oder multinationaler Firmen ein. Dass sich das störungsanfällige Web selbstständig ausser Gefecht setzen kann, zeigte vergangenen Juli ein Internet-GAU, ausgelöst durch eine Bagatelle.

Der grösste anzunehmende Unfall ereignete sich am 17. Juli 1997. Zeit: Donnerstag früh an der US-Ostküste. Um 2.30 Uhr begann der Computer von Network Solutions Inc, einer Firma, die Millionen von Web-Adressen verwaltet, verwirrende Signale an zehn Computer in den USA und Europa zu schicken, die ebenfalls Adressen verwalten.

Plötzlich stand alles still. Millionen von E-Mail-Nachrichten blieben hängen, drehten sich im Kreis und kamen zurück. Hunderttausende Adressen mit den häufigen Endungen «.com» und «.net» reagierten nicht aufs Anwählen. 500 Hochgeschwindigkeitsverbindungen der US-Telefonriesen AT&T und MCI stiegen zwischenzeitlich aus. Überseegespräche gerieten ins Stocken. Es dauerte vier Stunden, bis der Fehler behoben war.

«Das ist nur die Spitze des Eisbergs», sagte der kalifornische Computerwissenschaftler Peter Neumann. Der Zwischenfall habe die Anfälligkeit des klapprigen Netzes exemplarisch demonstriert. «Man kann kein zuverlässiges Netzwerk auf einer Struktur aufbauen, die die weiche und löchrige Beschaffenheit eines Schweizer Käses hat», sagt Neumann.

Trotzdem schaufeln Verlage, Print- und elektronische Medienhäuser ihre Inhalte massenhaft in die körperlose Wirklichkeit. Radiostationen senden Töne, TV-Anstalten Bilder und Grafiken übers Netz. Bei den Unterhaltungs- und Kommunikationsunternehmen herrscht Goldrausch. Jeder glaubt ans schnelle Geld. Zwar sei noch nichts zu verdienen, man müsste noch eine Zeit lang investieren. «In drei Jahren aber», sagt der Geschäftsleitungsvorsitzende der TA-Media AG, Michel M. Favre, «verdienen wir mit Internet Geld.»

Reichlich optimistisch. Noch ist den meisten Konsumenten nicht einsichtig, warum man althergebrachte Inhalte – Zeitungsartikel, Fernseh- oder Radiosendungen – mühsam, zeitintensiv und komplett unsinnlich vom Netz laden soll.

Traditionelle Medien sind handlicher, einfacher zu bedienen, und es macht viel mehr Spass, sie zu nutzen. Eine Telefonnummer findet sich leichter im Telefonbuch als auf www.swisscom.ch. Das Kinoprogramm Zürichs lässt sich schneller im «züri-tip» studieren als auf dem digitalen Stadtführer ZueriOnline.

Die Sitzung auf der Toilette verschönert eine papierene Zeitung, kein Pentium-II-Rechner. Den Fussballabend mit Bier und Freunden verbringt man vor dem gestochen scharfen Fernseher und nicht am Computerbildschirm, der im besten Fall ein verzerrtes, nicht einmal jasskartengrosses Flimmerbildchen wiedergibt. Soziale Beziehungen – essen und reden mit lebenden Menschen – übertreffen das grelle Funkeln digitaler Bilder. Wer will sich schon sein Leben vor dem Computer einrichten?

Internet-Sucht

Wers macht, wird krank. Internet Addiction Disorder (IAD), wahlweise auch Internet Addiction Syndrome (IAS) nennt die Wissenschaft die Internet-Sucht. Die Krankheit, erst seit zwei Jahren beschrieben, ist so zerstörerisch wie die Abhängigkeit von der Flasche oder der Nadel. Hörig ist dem Netz, wer mehrmals täglich das E-Mail checkt, beim Surfen die Zeit vergisst, sich fürs Mittagessen nicht vom Computer löst oder bei wem das Netz zwischen die Beziehung gerät. «Wen die Freundin dauernd anpöbelt, er sei zu oft im Netz», sagt die Psychologin der University of Pittsburgh, Kimberly Young, «ist stark IAD-gefährdet.»

Mit Alkoholikern oder Spielsüchtigen, die ohne ihren Stoff körperliche und psychische Notstände erleiden, vergleicht Young das Verhalten von IAD-Kranken. Gemäss ihrer Studie hocken viele Süchtige pro Woche 80 und mehr Stunden vor dem Bildschirm. Ihr gesamtes Geld – bei einigen mehrere tausend Dollar monatlich – geht an die Provider. Netz-Junkies surfen zu Hause und am Arbeitsplatz, verlieren ihre Jobs, ihre Beziehungen gehen in die Brüche. Die meisten werden sogar impotent, weil «sie ihre sexuellen Fantasien nur noch im Web ausleben», sagt Young.

Das Netz macht schlapp.

Abhilfe bringe nicht der gefährliche Totalentzug, sondern strikte Reduktion auf eine Stunde pro Tag, sagt Young. Oder der Gang zur Selbsthilfegruppe. Die Internet Addiction Support Group trifft sich, welche Ironie, im Internet. Die Anmeldung erfolgt per E-Mail.

Geldvernichtungsmaschine

Ein Irrglaube bleibt das billige, gewinnbringende Internet. Sicher, jeder Student kann ein paar bunte Bildchen scannen und sie zusammen mit selbst geschriebenen Texten preisgünstig aufs Netz laden. Wer aber Qualität will, muss investieren. Zehn vollbeschäftigte, gut bezahlte Journalisten und Designer arbeiten für «Zürich Online», Ringiers digitales Stadtmagazin. Gar 75 Leute unterhalten den Web-Auftritt des «Wall Street Journal», eines der besten Netz-Angebote.

Gleichwohl werden vom World Wide Web weit weniger Jobs geschaffen als angenommen. Es fehlt das Geld. Kaum hat der Boom begonnen, zittern Web-Designer bereits wieder um ihre gut bezahlten Stellen. Denn: Leute, die für Verlage oder Fernsehanstalten Internet-Seiten gestalten, verbrauchen das Geld, das mit den angestammten Medien verdient wird. Mehr als eine teure, zu wenig beachtete Werbefläche stellen sie nicht her. Web-Arbeiter sind wie Schweizer Bauern oder Filmemacher: Sie leben von den Subventionen, die andere erarbeiten.

Der bescheidene Werbeertrag im Internet kann die hohen Kosten nicht decken. Vom jährlich 180 Milliarden Dollar grossen, weltweiten Werbekuchen wandern ganze 500 Millionen Dollar ins Internet. Ein Klacks. Gemäss einer Umfrage der Wochenzeitung «Cash» kann nur jeder zehnte Anbieter in der Schweiz auf seiner Site Werbung plazieren. Durchschnittlich verkaufen sie Werbebanner im Wert von 34 200 Franken pro Jahr. Zum Vergleich: eine einzige Inserateseite in FACTS kostet 15 500 Franken.

Bescheidene Einschaltquoten halten die Werber vom Web fern. 90 Prozent der veröffentlichten Besucherzahlen, errechnete das Internet-Magazin «Wired», erzielen nicht etwa reale Surfer, sondern computergesteuerte Suchroboter. Web-Werbung findet kaum Beachtung.

Gering fällt der «return on investment» aus, der Geldrückfluss. Goldgräber mit lockerem Mundwerk predigen auf Internet-Messen und Cyberspace-Konferenzen zwar seit zwei Jahren die Mär von den schnellen und grossen Gewinnen. E-Commerce oder E-Business werden diese Woche an der Zürcher Internet Expo wieder die Schlagworte sein. Dahinter verstecken sich oft wenig konkrete Inhalte. «Vorwiegend Schwätzer bestimmen die Diskussion rund ums Geschäft mit dem Internet», sagt ein Schweizer Web-Designer. «Die meisten Anbieter so genannter E-Business-Lösungen haben keine Ahnung, wie ihre Kunden dereinst etwas verdienen sollen.»

Noch immer ist im Netz nämlich Happy Hour. Die Inhalte sind meist gratis.

Geld machen Hard- und Software-Firmen sowie Kabel- und Netzbetreiber, nicht Informationslieferanten. Die müssen kräftig investieren und ihre Sites attraktiver machen, um die bescheidenen Einschaltquoten wenigstens halten zu können. Genau wie die Provider.

Für jeden neuen Kunden geben die weltweit agierenden Online-Dienste wie Compuserve oder America Online durchschnittlich 300 Dollar aus. Bereits grassiert das Fusionsfieber. Um Kosten zu sparen, kaufen die Grossen die Kleinen auf.

Erklären lässt sich die verflixte Situation mit einfachen ökonomischen Modellen. Steigt das Angebot, sinkt der Preis. Steigt der Preis, sinkt die Nachfrage. Im Internet ist das Angebot riesig, die Nachfrage für kostenpflichtige Angebote aber klein. Alle sind bereit, ihre Inhalte kostenlos ins Netz zu laden. «Autoren werden durch das Netz bedeutungslos», sagt die US-Internet-Visionärin Esther Dyson.

Einschaltquoten sacken ab, sobald es etwas kostet. Erhebt jemand eine Nutzergebühr, springt sofort ein Gratisanbieter in die Bresche. Archive, die Milliarden von Zeitungsartikeln gespeichert haben, verdrängen sich mit Dumping-Preisen.

Zwei Drittel der Netznutzer wären gemäss Umfrage nicht bereit, für Web-Inhalte zu zahlen. Weitere Hiobsbotschaft für Netz-Unternehmer: Zwar steigt die Zahl der Web-Nutzer täglich. Doch die schauen sich keine Web-Magazine oder Firmen-Sites an. Per E-Mail kommunizieren sie mit Bekannten, an der Werbung und den bunten Homepages vorbei.

Vielleicht das grösste Problem des Internets: Es bereitet viel mehr Spass, das Medium abzufüllen als es zu nutzen. Weltweit, zeigt eine US-Studie, verbringen Internet-Designer, -Journalisten und -Techniker oder Chat-Moderatoren mehr Zeit am Computer als Konsumenten auf der passiven Nutzerseite. Internetmachen ist aufregender als Internetnutzen.

Selbst der viel versprechende Web-Handel mag nicht so richtig abheben. Zwar loggen täglich 50 000 beim Internet Shopping Network, dem grössten elektronischen Warenhaus, ein. Nur zwei Prozent klicken sich bis zum Kaufen vor. Niemand schickt gerne die eigene Kreditkartennummer durch die löchrigen Kanäle. Raffgierige Hacker lauern.

Abgesehen von Pornovideos, Büchern oder Musik-CDs lädt wenig zum anonymen Shoppen. Kleider möchte man anprobieren, Esswaren riechen, Autos probefahren. Selbst zuversichtliche Prognosen wie jene des Internet-Marktforschers Forrester Research fallen bescheiden aus. Im Jahr 2000 sollen weltweit für 6,6 Milliarden Dollar Produkte online verkauft werden. Wenig im Vergleich zu den 2200 Milliarden, die jährlich allein im amerikanischen Einzelhandel umgesetzt werden. Nicht einmal ein Drittel der in der Schweiz tätigen Internet-Versandhäuser macht laut «Cash» überhaupt Umsatz.

Softwarefirmen wie Netscape oder Microsoft glauben trotz allem, eine Lösung gefunden zu haben, um das lustlose Geschäft im Web anzukurbeln: Sie liefern dem orientierungslosen Surfer massgeschneiderte Daten auf die Festplatte. Das Internet wandelt sich vom Pull- zum Push-Medium. Man bekommt nur noch, was man will. Nachrichten und Sportresultate für den Informationshungrigen, Sex für den Einsamen, Buchbesprechungen für die Belesene. Stets mitgeschickt werden Werbeinhalte. Das würde, schrieb «Die Zeit», das Internet endgültig «zum Werbefernsehen machen».

Ob das jemand will, ist ungewiss. Es sei denn, man wird fürs Angucken der Werbung abgegolten. Internet-Vordenkerin Esther Dyson glaubt, bald bekomme elektronisches Geld, wer mit Reklame vollgepfropfte Web-Sites anschaue. Dann bereitet das Ärgernis Internet richtig Freude.

Der Absturzkommt bestimmt
Was auch immer Computerhersteller versprechen: Am besten, man hört gar nicht hin. Wer ins Datenmeer tauchen will, braucht profunde Kenntnisse der Materie und viel Nerven – oder eine Freundin mit Informatikabschluss.Vom globalen Sprachrohr ist das Internet weit entfernt.sucht-Wer zu lange im Internet surft, wird impotent, verliert seine Freundin und überzieht sein Konto. Die Krankheit hat einen Namen: Internet Addiction Disorder, kurz IAD. Es gibt eine Selbsthilfegruppe. Doch die ist nur auf dem Netz zu erreichen:

www.pitt.edu/~ksy

Das lange Warten

Millionen Pornobilder und banale E-Mails werden minütlich um die Welt gejagt. Das verstopft das Netz. Der Daten-Super-highway verkommt zu einer Quartierstrasse mit tiefen Schlaglöchern.sinnlosesabrackernZwar versuchen alle, mit dem Internet viel Geld in kurzer Zeit zu verdienen. Doch für den Goldrausch im Dienstleistungsgewerbe und in der Unterhaltungsbranche gibt es keinen Grund: Niemand ist bereit, für Informationen im Netz zu zahlen.das netzfür reicheDas Internet ist kein Medium für alle. Die Benützer sind meist junge Männer, die gut verdienen. Menschen ohne Zugang zu Computern – immerhin 97 Prozent der Weltbevölkerung – bleibt das Netz verschlossen.

Krieg gegen Surfer
Verlierer im Kampf zwischen Netscape und Microsoft sind die Internet-Nutzer.
Grösste Frustrationen erlebt im Netz, wer versucht, mit einem veralteten Browser, dem Internet-Programm, durch die Datenmeere zu gleiten. Oft bleiben dann die Seiten grau. Arrogant meldet sich die Sprechblase zu Wort: «Diese Seite verlangt Netscape 3.» Von Netscapes Browser ist jedoch bereits die vierte Version auf dem Markt. Private Anwender sind selten im Stande, die neusten Produkte zu laden. Ihre Festplatten und Arbeitsspeicher vermögen sie nicht zu fassen.

Web-Designer legen ihre Sites trotzdem für die aktuellen Programme an. Die Folge: Konfusion. Bilder, die nicht kommen, Rahmen, die zu gross sind.

«Bezüglich Kompatibilität», sagt TA-Media-Online-Redaktor Peter Wälty, «driften die Browser-Hersteller immer weiter auseinander.» Werden Seiten für den Internet-Explorer von Microsoft, nicht aber für Netscapes Navigator entwickelt, haben Netscape-Surfer das Nachsehen. «Die Browser führen Krieg», sagt Wälty, «nicht gegeneinander, sondern gegen uns Surfer.»

Geld bringt der Browser ebenfalls keines. Bill Gates gibt den Internet-Explorer schon lange gratis ab. Netscape ist nachgezogen. Sein Image als Börsenliebling hat Marc Andreessens Netscape ebenfalls eingebüsst. Innert zweier Jahre sackte der Kurs der Netscape-Aktie von 75 auf 20 Dollar ab.

Lieber schnell

Der Fall Clinton- Lewinsky zeigt: Das Internet taugt nicht zum seriösen Medium.

Hat er, oder hat er nicht? Die an sich banale Frage, ob US-Präsident Bill Clinton mit der ehemaligen Praktikantin Monica Lewinsky sexuell verkehrte, bewegte zwei Wochen lang Amerika und die Welt. Legenden und Halbwahrheiten jagten sich stündlich. Nicht etwa gewissenhaft überprüfte Quellen, sondern im Internet publizierte Gerüchte lieferten die News. Seriöse Zeitungen und Magazine wie die «New York Times» oder «Newsweek» publizierten sagenhafte Geschichten im Internet, die dann von Fernsehanstalten aufgenommen wurden, am nächsten Tag aber bereits wieder widerlegt waren.

In seiner Internet-Ausgabe berichtete das «Wall Street Journal» von einem Angestellten des Weissen Hauses, der zitiert wird, er habe Clinton und Lewinsky in flagranti ertappt. CNN brachte die Story. Am nächsten Tag musste die papierene Ausgabe des «Wall Street Journal» richtig stellen: Der Angestellte habe nie über Clinton oder Lewinsky ausgesagt.

«Die Hauptschuld am Medienwirbel um Oral-Gate», sagt der Ex-Clinton-Berater George Stephanopoulos im Interview mit CNN, «trägt das Internet.»

Die Glaubwürdigkeit des World Wide Web als taugliches und ernsthaftes Medium hat gelitten. Als «elektronischen Turm von Babel» bezeichnete die «Washington Post» das Internet. Nicht bloss herkömmliche Zeitungen oder TV-Anstalten, auch Tausende privater Homepages liefern sich im Netz einen News-Wettbewerb. Nicht Qualität, nur noch Schnelligkeit zählt.

Alptraum Internet – 10 Jahre später