Vor genau zehn Jahren titelt das Schweizer Nachrichtenmagazine Facts “Alptraum Internet”. Auf zwölf Seiten klagte ich Ende Februar 1998 über technische Mängel der Datenbahn, beschrieb die Internet-Sucht und stellte fest, dass im Internet weit mehr Geld vernichtet als gemacht wird. Es war der letzte Artikel, den ich als Facts-Redakteur verfasst hatte; seither bin ich selbstständig.
Das Magazin Facts gibt es heute nicht mehr. Das Internet aber bestimmt den Alltag in der entwickelten Welt mehr denn je. Dann war der Artikel bloss ein provokatives Stück Thesenjournalismus? Kaum. Nur zwei Jahre danach platzte an den Börsen weltweit die Internetblase. Schätzungsweise 5 Billionen Dollar wurden in den Jahren 2000 und 2001 vernichtet. Bis heute hat sich die Technologie-Börse Nasdaq nicht erholt.
Breitband-Anschlüssen und verbesserte Software beseitigten technische Probleme. Hingegen erleben etliche Branchen wie die Kundschaft zu kostenlosen Anbietern ins Internet abwandert. So fiel die Musikindustrie dem World Wide Web zum Opfer, danach verloren Printjournalisten ihre Jobs. Derzeit werde das Fernsehen zu “Internet roadkill”, schreibt heute das Wall Street Journal.
Umso mehr lohnt sich eine kurze, selektive Rückschau. “Alptraum Internet – 10 Jahre danach.” Kursiv gehalten sind damalige Textstellen, in normaler Schriftlage verfasst sind die Kommentare von heute.
Was haben die meisten Internet-Talker zu sagen oder zu zeigen? Oft banale Redundanz.
Etliche Blogger publizieren heute gute Inhalte. Das Internet verbindet Gleichgesinnte. US-Präsidentschaftskandidat Barack Obama mobilisiert eine Generation neuer Wähler online. Ein Grossteil der publizierten Inhalte ist aber nach wie vor banal.
Die Glaubwürdigkeit des World Wide Web als taugliches und ernsthaftes Medium hat gelitten. Als «elektronischen Turm von Babel» bezeichnete die «Washington Post» das Internet. Nicht bloss herkömmliche Zeitungen oder TV-Anstalten, auch Tausende privater Homepages liefern sich im Netz einen News-Wettbewerb. Nicht Qualität, nur noch Schnelligkeit zählt.
Fälscher-Skandale um Tom Kummer oder Claude Bühler in Europa, Jayson Blair oder Stephen Glass in den USA haben der Glaubwürdigkeit herkömmlicher Medien arg zugesetzt, ebenso die laschen Recherchen vor dem Irak-Feldzug. Da traditionelle Medien immer weniger Geld ausgeben können für echte Recherchen, schreiben sie häufiger aus dem Internet ab.
Das Internet fördert die Faulheit vieler Journalisten. Es ist bequemer, die Welt vom Pult aus zu beschreiben als sie wirklich anzuschauen und darüber zu berichten.
Zwar ist die Qualität vieler Blogs enorm angestiegen. Doch Blogger leisten kaum journalistische Arbeit. Sie verdienen nichts oder zu wenig, um wirklich recherchieren, reisen und telefonieren zu können. Mit weit weniger Aufwand kommentieren sie die Arbeit anderer. Herkömmliche Reporter werden deshalb zwar kontrolliert, journalistische Werte enstehen selten. Es gibt immer mehr Kommentare und immer weniger recherchierte News. Irgendwann fehlen den Bloggern die News zum kommentieren.
Es gibt Ausnahmen. Letzte Woche gewann Joshua Micah Marshall mit seinem Blog Talking Points Memo einen Polk Award für investigativen Journalismus.
Vom globalen Sprachrohr ist das Internet weit entfernt. Fast drei Viertel der Menschheit hat kein Telefon. Nur drei Prozent der Weltbevölkerung hat Zugang zu einem PC.
Gemäss Internet World Stats nutzten Ende 2007 rund zwanzig Prozent der Weltbevölkerung das Internet. Wobei in Nordamerika über 70 Prozent der Bevölkerung im Internet surfen, in Afrika sind es 4,7 Prozent.
Internet Addiction Disorder (IAD), wahlweise auch Internet Addiction Syndrome (IAS) nennt die Wissenschaft die Internet-Sucht. Die Krankheit, erst seit zwei Jahren beschrieben, ist so zerstörerisch wie die Abhängigkeit von der Flasche oder der Nadel … Netz-Junkies surfen zu Hause und am Arbeitsplatz, verlieren ihre Jobs, ihre Beziehungen gehen in die Brüche.
Schätzungen gehen davon aus, dass heute 10 Prozent der Internet-Nutzer süchtig sind nach ihren vernetzten Computern. Weit verbreitet sind Online-Sex- und Spielsucht, die Sucht nach Online-Beziehungen und die Sucht nach Online-Shopping. New York Times-Blogger David Carr beschreibt in einem Essay die Sucht vieler Blogger, ständig publizieren zu müssen.
Das Internet? Ein Ärgernis.
Ärgerlich geworden ist vor allem der nützlichste Bestandteil des Internets: E-Mail. Zuerst hat Spam die Inboxen überfüllt. Dann kamen Spam-Filter, die selbst wichtige E-Mails nicht mehr durchliessen. Nun taugt E-Mail als 100 Prozent verlässliches Kommunikationsmittel nicht mehr. Da zu viele E-Mails ankommen, bleiben zudem selbst wichtige unbeantwortet. Die Abarbeitung der Inbox raubt täglich kreative Arbeitszeit.
Geldvernichtungsmaschine. Ein Irrglaube bleibt das billige, gewinnbringende Internet. Der bescheidene Werbeertrag im Internet kann die hohen Kosten nicht decken.
Der Internet-Handel floriert. Dank Websites finden Händler mehr Kunden und Kunden mehr preiswerte Produkte.
Nach wie vor ist aber nicht klar, wie mit Inhalten im Internet Gewinne erzielt werden können. Zeitungen und Magazine werden wegen Gratis-Angeboten im Internet geschlossen. Die Musikindustrie leidet seit Jahren. Derzeit bangen Fernsehanstalten um Werbeeinnahmen.
Mit dem viel gepriesenen Web 2.0 werden kaum Werte geschaffen, sondern hauptsächlich zerstört. Früher übte eine Band in der Garage, trat dann sie in einer Bar auf – und kriegte vielleicht einen bezahlten Plattenvertrag. Heute lädt die Band ihre Musik ins Netz, die Songs werden viele Millionen gratis mal runter geladen. Verdient hat die Band keinen Cent.
Ein Barkeeper verdient mehr und ist sozialer als ein Blogger.
Die unendliche digitale Geldvermehrungsmaschine? Ein Fass ohne Boden.
Online-Agenturen wie Adsense von Google oder Adword von Microsoft schalten Werbung auf privaten Blogs wie auf der Website der New York Times. Die Herstellungskosten für digitale Inhalte herkömmlicher Medien sind aber um einiges höher als jene der Blogger. Der Werbeindustrie ist dies allerdings egal, da sie nur am einzelnen Klick interessiert ist.
Google hat eine Technologie entwickelt, um bei YouTube-Videos Werbung zu platzieren. Für die einzelnen Produzenten der Videos bleibt relativ wenig Geld, für Google dank der schieren Masse jedoch sehr viel. Filmt jemand sein Baby und stellt das Video online, verursacht das keine Kosten. Der Hersteller einer Fernseh-Serie oder eines journalistischen Betrags wendet hingegen zig-tausend Dollar auf. Am Schluss teilen sich beide Produzenten die knapp bemessenen Werbeeinnahmen.
Noch immer ist im Netz nämlich Happy Hour. Die Inhalte sind meist gratis. Geld machen Hard- und Software-Firmen sowie Kabel- und Netzbetreiber, nicht Informationslieferanten. … Einschaltquoten sacken ab, sobald es etwas kostet. Erhebt jemand eine Nutzergebühr, springt sofort ein Gratisanbieter in die Bresche.
Heute sind noch mehr Inhalte gratis zu haben als vor zehn Jahren. Selbst hochwertige Titel wie die New York Times brachen Versuche wieder ab, für Inhalte Geld zu verlangen. Gewinne mit kostenpflichtigen Internet-Inhalten erzielt das Wall Street Journal. Der neue Besitzer Rupert Murdoch glaubt jedoch, dass er mehr Leser zu WSJ.com locken kann mit kostenlosen News.
Alle sind bereit, ihre Inhalte kostenlos ins Netz zu laden. «Autoren werden durch das Netz bedeutungslos», sagt die US-Internet-Visionärin Esther Dyson.
Esther Dysons Vision ist Realität geworden. Wie Andrew Keen in seinem Buch “The Cult of the Amateur” schreibt, hat das Internet das Jahrhunderte alte Wechselspiel zwischen Leser und Autorin aufgebrochen. Jeder ist nun ein Autor, es gibt kaum mehr Leserinnen. Das, argumentiert Keen, hinterlasse eine medienungebildete Welt.
Die Medienlese blickt auf den Artikel zurück.
Interessante Rückschau. Den Kulturpessimismus von Andrew Keen allerdings kann ich nicht teilen. Schauen wir mal in weiteren 10 Jahren 😉
Wie die Zeit vergeht, lieber Peter.
Aber ich hege noch manchen liebevollen Gedanke an damals.
Ganz herzlich
Pascal
Hallo Peter, habe deinen Text erst jetzt gelesen. Ist ja mal ne tolle Idee, seine eigene Schreibe selbstkritisch zu überprüfen. Ist nicht branchenüblich …
In der Summe kommst du nicht schlecht weg.
Journalisten wie du, die noch ihren (Kunst-)Ledersessel verlassen, um zu gucken, wie das Leben draussen wirklich ist, werden in der Schweiz immer seltener. Dein Hinweis “Das Internet fördert die Faulheit von Journalisten” ist sowas von wahr. Zu ergänzen wäre : Es führt entgegen der Titelvielfalt zu einer immer graueren Einheitskultur im print.