Wider das Vergessen

Hatice Cengiz, Nahost-Wissenschafterin, verliebte sich in die Worte von Jamal Khashoggi. Vor einem Jahr wurde der saudiarabische Autor brutal getötet. Jetzt bewahrt sie sein Vermächtnis.

Von Peter Hossli (Text) und Sandra Niemann (Illustration)

Sie stand wieder dort, wo ein Jahr zuvor ein Leben jäh geendet hatte und ihres für immer anders geworden war. «Ihr habt ihn als Freund gekannt, als Aktivist und Autor», sagte Hatice Cengiz, 37, diesen Mittwoch, das Haar verhüllt unter rotem Tuch. «Für mich war er viel mehr. Er war mein bester Freund, die Liebe meines Lebens.»

Das Podium, auf dem Cengiz unter Tränen sprach, stand vor dem saudiarabischen ­Konsulat in Istanbul. Hierher hatte sie ihren Verlobten Jamal Khashoggi damals begleitet. Der saudiarabische Autor wollte sich bescheinigen lassen, ledig zu sein. «Ich bin bald zurück, es wird nicht lange dauern», verabschiedete er sich. Danach wollten sie etwas essen und ihre Hochzeit vorbereiten.

Khashoggi kam nie mehr zurück. Kaum hatte er das Konsulat betreten, erstickten ihn saudiarabische Agenten und zerstückelten die Leiche. Unklar geblieben ist bis heute, was mit den sterblichen Überresten geschah.

«Ich liebe ihn noch immer», sagte Cengiz am Mittwoch. Ihr Auftritt ist Teil ihrer Mission. Sie hält Reden, schreibt Kolumnen, gibt Interviews, damit Khashoggi nicht vergessen geht. Obwohl es sie quält, die Ängste zu beschreiben, als sie zehn Stunden vor dem Konsulat auf ihn wartete. Die Hoffnungen, die bis zuletzt blieben. Oder den bleiernen Schmerz, als gewiss war: Jamal ist tot.

Sterben musste er wohl, weil sich der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, 34, vor dessen Worten fürchtete. Vor kritischen Kolumnen in der «Washington Post».Letztlich waren es die gleichen Worte, die Cengiz anziehend fand, lange bevor sie ­Khashoggi traf. Der Autor brachte ihr die Welt näher, die sie wissenschaftlich erforschte.

Cengiz wuchs in Bursa im Nordwesten der Türkei auf, mit vier Geschwistern in einer konservativen Familie. Sie lernte Arabisch in Kairo, um in Istanbul Religions- und Nahostwissenschaften zu studieren. Während des Arabischen Frühlings fiel ihr am Fernsehen das freundliche Gesicht eines klugen Mannes auf: Jamal Khashoggi, Journalist. Fortan las sie, was er schrieb, folgte ihm auf Twitter. Sie nahm wahr, wie er 2017 seine Heimat fluchtartig verliess und an die US-Ostküste zog.

An einer Konferenz in Istanbul Anfang Mai 2018 begegneten sich Wissenschafterin und Autor. Beim Lunch bat sie ihn um ein Interview. Das Gespräch, das sie mit dem Smartphone aufzeichnete, dauerte 26 Minuten. Noch vor der Abreise schrieb ihr Jamal, er sei bald wieder in Istanbul und würde sie gerne wiedersehen. Literatur und Politik verbanden die beiden. Sie 36, er 59. Beim zweiten Treffen assen sie Süssigkeiten und tranken Kaffee. Er sei einsam in Amerika, offenbarte der dreimal geschiedene Mann. Sie schrieben einander, lachten in Videochats. Entschieden sich, zu heiraten, in Washington und Istanbul zu leben. Für die gemeinsame Wohnung am Bosporus hatten sie den Kühlschrank und die Waschmaschine bereits gekauft. Bald würden sie den Herd auswählen.

«Nach Jamals Tod habe ich mich vom Leben für eine Weile losgesagt», schrieb die Türkin letzte Woche im US-Magazin «Time». Sie fiel in eine tiefe Trauer und liess sich behandeln. Im April 2019 zog Cengiz nach England, weil sie es an den Orten nicht mehr aushielt, an denen sie mit Khashoggi so glücklich gewesen war. Sie habe es satt gehabt, als Verlobte des Ermordeten erkannt zu werden, erzählte sie im «Spiegel». In London sei sie einfach eine junge Frau mit Kopftuch, die Englisch lerne, um auf Englisch promovieren zu können.

Vor allem braucht sie die Weltsprache, um ihre Stimme weltweit zu erheben. Sicher, sie sei «eine gebrochene Person», sagte sie am Mittwoch auf dem Podium in Istanbul. «Aber eine stolze.» Stolz auf ihren Kampf für Gerechtigkeit. Die Tat müsse gesühnt, die Drahtzieher müssten zur Rechenschaft gezogen werden. «Der Mord zeigt: Der Nahe Osten verharrt im dunklen Zeitalter», schreibt sie.

Cengiz drängt Staatschefs, den Druck auf Saudiarabien wieder zu erhöhen. Trotz Protesten nach der Tat ging kaum ein Staat auf Distanz zum Ölland am Golf. Wie geplant soll der G-20-Gipfel 2020 in Riad stattfinden. Als heuchlerisch weist sie die jüngste Erklärung des Kronprinzen zurück. Er sei verantwortlich für Khashoggis Tod, räumte Salman Ende September gegenüber dem US-Sender CBS ein, zumal der Mord unter seiner Regentschaft geschehen sei. Aber er habe die Tat weder angeordnet noch im Vorfeld davon gewusst.

Seine Mörder hätten versucht, Jamal stummzustellen, sagt seine Verlobte. Gelungen sei ihnen das nicht. «Er ist zur Stimme der Stimmlosen im Nahen Osten geworden.»