Von Peter Hossli und Adrian Meyer
Hunderte Menschen wurden unter ihren eigenen Häusern begraben. Strassen sind verschwunden. Glocken werden nie mehr läuten – weil die Kirchtürme eingestürzt sind.
Das Erdbeben letzte Woche in Mittelitalien war verheerend. Die Zahl der Todesopfer ist auf 290 gestiegen, die der Verletzten auf rund 500. Die Schäden dürften mehrere Milliarden Franken betragen.
In der Schweiz wäre ein ähnliches oder noch stärkeres Beben ebenfalls möglich. Mit fatalen Folgen. Das sagen Seismologen der ETH in Zürich und Experten des Bundes in Bern. «Ein Erdbeben wie jetzt in Italien ist in der Schweiz möglich», sagt Sven Heunert (39) von der Koordinationsstelle für Erdbebenvorsorge des Bundesamtes für Umwelt (Bafu). «Von keiner anderen Naturgewalt geht hierzulande ein grösseres Risiko aus als von Erdbeben.»
Und zwar ständig. «Es kann in drei Minuten oder in vierzig Jahren passieren», so Seismologe Florian Haslinger (50) vom Schweizerischen Erdbebendienst an der ETH. Alle 50 bis 100 Jahre komme es in der Schweiz zu einem Beben mit Stärke 6 oder mehr, letztmals 1946 in Sierre VS. «Es ist aber auch möglich, dass zwei oder drei grosse Beben kurz nacheinander kommen.» In den letzten 500 Jahren gab es alle 80 bis 120 Jahre ein grösseres Beben. Das Unheimliche, so Haslinger: «Es ist unmöglich, den Zeitpunkt und die Wucht vorauszusagen.»
Besonders gefährdet sind in der Schweiz die Stadt Basel und das Wallis, aber nicht nur. «Erdbeben können überall in der Schweiz auftreten», so Sven Heunert vom Bafu. «Es gibt kein Gebiet, wo die Erdbebengefährdung übersehen werden darf.»
Vorbereitet ist das Land nicht. «In der Schweiz ist für ca. 90 Prozent der Gebäude nicht bekannt, ob sie erdbebengerecht gebaut worden sind», so der Erdbebendienst. Wiederholt sich die Basler Katastrophe von 1356, mit einer Magnitude von ungefähr 6,6 historisch der stärkste dokumentierte Erdstoss der Schweiz, «wäre die Basler Infrastruktur stark betroffen», sagt Haslinger. «Wir rechnen schlimmstenfalls mit mehreren Tausend Toten, zudem würden wir einen grossen Teil der Gebäudesubstanz verlieren.» Die Folgen: «Hunderttausende Obdachlose, die für längere Zeit in Zelten untergebracht werden müssen.»
Bei einem Beben von 5,5 Punkten auf der Richterskala gehen Bafu-Experten von «einigen Toten» und direkten Sachschäden von 50 bis 100 Millionen Franken aus. Bebt der Boden mit einer Wucht von 6 bis 6,5, steigen die Kosten auf fünf bis zehn Milliarden Franken, zu rechnen ist mit «mehreren Dutzend Toten», so Heunert. Gar «einige Tausend Tote» verursache ein Erdbeben mit der Magnitude 6,5 bis 7. Die Kosten für die direkten Sachschäden lägen, so das Bafu, bei 50 bis 100 Milliarden Franken.
Versichert ist das nicht. Der Kanton Zürich hat eine Erdbebenversicherung, welche Schäden bis zu einer Milliarde Franken deckt.
17 weitere Kantone haben zusammen zwei Milliarden in einem Pool. Vor acht Jahren versuchte der damalige Bundesrat Moritz Leuenberger (69), eine nationale Erdbebenversicherung einzuführen. Erfolgreich wehrten sich die Hauseigentümer.
Nicht nur Häuser sind gefährdet. «Das Stromnetz ist in der Schweiz sehr verletzbar», so Heunert. «Schaltet ein Erdbeben zwei wichtige Unterwerke aus, besteht die grosse Gefahr eines schweizweiten Blackouts.» Dann fliesst kein Strom mehr. Züge und Fabriken stünden still, das Licht ginge aus, Bankautomaten gäben kein Geld mehr, Spitäler wären auf Notstrom angewiesen.
Hirngespinste sind das nicht, sagt Heunert. Nur: «Das Bewusstsein für das Erdbebenrisiko ist in der Schweiz gering.» Viele glaubten, hiesige Bauten seien sicher. Bei der Ausbildung von Architekten werde «die Thematik Erdbeben nicht vertieft». Zudem fehlten verbindliche Vorgaben der kantonalen Baubehörden und Kontrollen zur Qualitätssicherung.
Dabei ist die Gefahr real. Allein letzte Woche gab es in der Schweiz sechs Erdbeben. 2015 hat der Erdbebendienst 700 gemessen, oft schwache. Das grosse aber kommt bestimmt.