Von Peter Hossli (Text) und Mark Chilvers (Fotos) aus Edinburgh
Eigenartiges geschieht auf dem Abendflug von London nach Edinburgh: Mit jeder Minute wird es draussen heller. Wir fliegen der Mitternachtssonne entgegen. «Schottland ist anders», sagt die Politologin Fiona Pollock. «Es ist nicht nur nördlicher, wir sind aufgeschlossener als andere Briten.»
Es ist Freitagabend, der historische Tag, an dem sich die Briten entschieden, aus der Europäischen Union auszutreten. Nicht so die Schotten. 62 Prozent stimmten für einen Verbleib in der EU. Umso aufgekratzter ist die Stimmung im vollen British-Airways-Jet. Fast jedes Gespräch dreht sich um den Brexit. «Wir lassen uns das nicht bieten», sagt Pollock. «Jetzt müssen wir uns von England lösen!»
Gestern Samstag trat die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon (45) in Edinburgh vor die Medien – und schlug genau das vor: «Schottland muss seinen Platz in der EU bewahren.» Sturgeon bereitet eine zweite Abstimmung über die Unabhängigkeit vor. Im September 2014 entschieden sich die Schotten noch gegen eine Trennung von Grossbritannien. Das, so die Stimmung in Edinburgh, dürfte sich nun ändern.
Was Fleischhändler Torben Hutchings (29) hofft. «Möglichst rasch» möchte er abstimmen. Er verkauft edle Steaks aus Wales und Irland, vom schottischen Hochland und England. Seine Schwester lebt in Spanien, seine Eltern in Dänemark, die Freundin ist Ungarin. Er sei «erschüttert über die Fremdenfeindlichkeit der Engländer», sagt Hutchings. Und nimmt es persönlich. Schluchzend sagt der kräftige Kerl mit blonder Braveheart-Mähne: «Die Engländer sagten an der Urne meiner Freundin ins Gesicht: ‹Wir wollen dich hier nicht!›»
Nicht nur sein Herz schmerzt. Hutchings fürchtet ums Geschäft. Er hatte vor, in Edinburgh einen Online-Laden für Fleisch aus ganz Europa aufzuziehen. «Ohne EU-Mitgliedschaft wird es nun viel zu kompliziert.» Umso klarer ist für ihn: «Um bei Europa zu bleiben, müssen wir uns von Grossbritannien lösen.» Und das, weiss er, «wäre der Tod der britischen Union».
Zumal nicht nur die Schotten weg wollen von England. Die Nordiren, die ebenfalls mehrheitlich für einen Verbleib in der EU stimmten, denken über einen Anschluss an die Republik Irland nach – um so EU-Mitglied bleiben zu können.
Es nieselt in Edinburgh. Eine Stadt, welche Traditionen hochhält, gleichzeitig modern ist – und boomt. Studenten aus aller Welt besuchen die Universität. Auf der einen Strassenseite liegt ein Apple Store, auf der anderen trägt der Concierge eines Hotels Kilt. Trams bieten Wi-Fi.
Auf der Princes Street, der Einkaufsader der Stadt, baut Andi Mcreth (34) seinen Blumenstand auf, stellt Kübel in Reihen, füllt sie mit Wasser und Sträussen. Seine bunte Ware bezieht er in Holland. «Sie ist seit gestern viel teurer geworden», sagt Mcreth. Er zahlt in Euro und verkauft in Pfund – das hat sich stark abgeschwächt. «Meine Kunden sind Europäer, meine Lieferanten sind Europäer, ich will Europäer bleiben!»
Er ist nicht sicher, ob ein unabhängiges Schottland die Lösung ist. Vor zwei Jahren glaubte er das. Nun aber brauche es Geduld. «Zuerst müssen wir sehen, wie lange es überhaupt noch eine EU gibt, der wir beitreten könnten.»
Mary Dilworth (83) erlebte als Kind den Zweiten Weltkrieg. «Nun bin ich alt und weise», sagt die einstige Lehrerin. Viele alte Briten wollten die EU verlassen. Sie nicht. «Die EU brachte uns Frieden. Und wir brauchen die Ausländer – die Arbeiter wie die Intellektuellen.»
Eigentlich sei sie dagegen, dass sich Schottland löse. «Aber ich will nicht länger von England dominiert werden», sagt sie. Als hätten die Engländer mit der Monarchie, dem Sitz des Parlaments und der Bank of England nicht schon genug Macht. «Das reicht!»
Auf dem Grassmarket führt Callum Boyle (22) den «Smallest Pub in Scotland», die kleinste Beiz im Land. Auf zwölf Quadratmetern serviert er edlen Whisky – und steht «noch immer unter Schock» wie viele Briten. «Ich war mir sicher, wir würden bleiben.» Vor zwei Jahren stimmte er für die Abspaltung von England. «Aber damals hätte uns die EU kaum genommen. Nimmt sie uns jetzt auf, würde ich sofort wieder für ein unabhängiges Schottland eintreten.» Man sei hier England ausgeliefert. «Egal, wie wir stimmen, die Engländer überstimmen uns.» Boyle lebt von Touristen – und sieht im Brexit einen Vorteil: «Das schwache Pfund macht uns zum günstigen Reiseziel.»
Hinter dem Bahnhof von Edinburgh liegt die Fruitmarket Gallery, ein schicker Buchladen, der auch Cappuccino und Sandwiches serviert. Eva (22) und ihre Schwester Erin Coutts (24) essen zu Mittag. «Das Verdikt ist ein englisches ‹fuck you› an uns Schotten», sagt die Studentin. Sie hatte vor, ein paar Semester in Kopenhagen zu studieren. «Aber für uns ist Erasmus jetzt wohl vorbei.» Zumal die EU die Briten rasch loswerden will.
Auch Eva Coutts will ein unabhängiges Schottland. Eine zweite Abstimmung werde anders. «Die erste war leidenschaftlich, eine Auseinandersetzung darüber, wie offen und fortschrittlich wir Schotten sind», sagt sie. «Letztes Mal ging es bei der Abstimmung um Hoffnung. Jetzt wäre es die letzte Chance, nicht Teil einer rassistischen Insel zu sein.»