“Meine Waffe ist die Sprache”

Damit der öffentliche Raum sicher bleibt, setzt die Stadt Zürich auf kulturelles Verständnis. Nachtpatrouille mit einem arabischen Jugendarbeiter.

Von Peter Hossli (Text) und Joseph Khakshouri (Fotos)

sip1Es ist Mitte Januar, die Nacht auf Samstag, doch in der Tiefgarage duftet es weihnächtlich. Unter den wuchtigen Blöcken der Hardau in Zürich West lassen junge Burschen einen Joint kreisen. Ein Mädchen, sie ist 19, trinkt Bier. Musik dröhnt aus dem Auto, das die Kids aus Schlieren ZH in die Stadt brachte.

«Hallo, ich bin der Hamed», grüsst Hamed Selim (48). «Wie gehts?» – «Bist du ein Schmier?», fragt eine Junge. «Nein, wir sind nicht von der Polizei!» Selim lacht: «Habt ihr ein Fahrkonzept?» – «Ja, ich werde fahren», sagt ein Junge. «Dann trinkst du heute nichts?» – «Nein.» – «Gut!»

Es ist kalt, kurz vor Mitternacht. Auf den Strassen liegt Schnee. Selim ist mit Anneliese Bögli (28) unterwegs, beide tragen dunkle Jacken mit der Aufschrift «sip züri», das steht für «Sicherheit Intervention Prävention». Aufgaben der Sozialen Einrichtung und Betriebe der Stadt Zürich: Öffentliche Räume beobachten, Konflikte schlichten, eingreifen, aber nie physisch.
«Wir haben keine Pfeffersprays», sagt Selim. «Meine Waffe ist die Sprache.»

Selim – gross, kräftig, dunkel – wirkt gewinnend, wenn er redet. Er lacht viel, und er schwatzt gern. So entspannt er Menschen, die trotz Kälte draussen schlafen wollen, Junkies, die auf Spielplätzen fixen und grölende Teenager im Alkoholrausch.

Plötzlich redet er arabisch mit einem der kiffenden Burschen – einem Marokkaner, geboren in Zürich. Der erzählt Selim, wo er lebt – in Schlieren –, wie er heisst – Abil –, wie alt er ist – 17 –, dass alles in Ordnung sei.

«Es hilft enorm, dass ich arabisch spreche», sagt Selim. «Viele Missverständnisse lösen sich sofort auf.» Oft rede er jemandem auf der Strasse ins Gewissen. «Ein arabischer Störenfried schämt sich, wenn ich ihn auf Arabisch anspreche.» Gibt es in Zürich heute mehr Gewalt durch Araber? «Das stellen wir nicht fest», sagt Selim.

sip2«Marokkaner sind manchmal etwas extravagant, aber es artet nie aus.» Dass ein Rudel von Männern Frauen einkreise, wie in Köln, «das haben wir in Zürich noch nie gesehen». Wohl auch wegen der SIP. Die 50 Mitarbeiter haben zur Hälfte ausländische Wurzeln, sie sprechen zwei Dutzend Sprachen. «Kulturelles Verständnis ist für uns ein zentraler Erfolgsfaktor», sagt Selim.

Der Jugendarbeiter kam vor 25 Jahren aus Ägypten in die Schweiz, heiratete eine Schweizerin, ist Schweizer geworden, hat zwei Kinder. «Die arabische Jugendsprache verstehe ich aber noch.»

Es ist friedlich in der Tiefgarage, Selim und Bögli fahren weiter. «Auf der Strasse ist die Situation heute entspannter als vor zehn Jahren», sagt Selim. Jugendgewalt wie 2007 oder 2008 sei seltener.

Gibt es mehr sexuelle Übergriffe? «Wir sehen plumpe sexuelle Anmache, meist im Zusammenhang mit Alkohol», sagt er. «Aber die Zahlen sind stabil, daran hat die Migration nichts geändert.»

Sie parkieren beim Helvetiaplatz, gehen zu Fuss zur Langstrasse. Eine Gruppe Mädchen kommt ihnen entgegen, alle mit einer Bierdose in der Hand, dazu Wodka und Jägermeister. «Wie alt seid ihr», fragt Selim. «15», «16», «17», «15». – «Ihr wisst schon, dass ihr harten Alkohol nicht trinken dürft.» Die Mädchen – alles Schweizerinnen – erröten. Selim redet wie ein
Vater: «Es ist eure Gesundheit, bitte passt auf euch auf.» Er weiss: solche Worte wirken. Die Polizei schaltet er nur ein, wenn es gefährlich wird.

In einem dunklen Hinterhof sieht Selim drei junge Frauen, die ihren Kopf über ein Handy beugen, als würden sie Kokain schnupfen. «Was ist los?», fragt Selim. Stefanie (17), Natascha (17) und Angela (16) trinken Bier – und verschicken SMS.

sip4Hunderte von Jugendlichen warten vor der alten Kaserne auf Einlass, die meisten von ihnen junge Frauen. Viele der 16-Jährigen haben eine Flasche mit hartem Alkohol in der Hand. Doch der Party-Betreiber lässt sie rein.

Erich spricht Selim an. «Hey, du kennst dich mit Drogen aus, ich habe schon jede Droge probiert.» Erich ist 16, Schweizer. «Jetzt bin ich sauber.» – «Toll, wie hast du das geschafft?» – «Mit Drogen ging es mir wenige Stunden gut, aber viele Stunden mies.» Anerkennend reicht ihm Selim die Hand.

Es ist kurz vor 1 Uhr, genug für heute. Selim geht nach Hause – froh, dass nichts passiert ist. Fazit einer Nacht auf Zürichs Strassen: Alkohol scheint eine grössere Gefahr zu sein als die Araber.