Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)
Erleichtert langten die Mütter zu, als die Lastwagen im syrischen Madaya eintrafen – und Brötchen verteilten. Strahlend bissen ihre Kinder rein. Gleichzeitig fuhren Helfer der Uno und des Roten Kreuzes 400 ausgemergelte Syrer aus der belagerten Stadt ins Spital.
Dass diese Woche Esswaren nach Madaya rollen durften – dafür setzte sich auch die Schweiz ein. 24 Stunden bevor Damaskus die Lieferungen bewilligte, sass Regine Kilchenmann in einem Hotel in Teheran und verhandelte mit der syrischen Regierung. Ob das Treffen den Durchbruch brachte, darüber will die 33-jährige Emmentalerin nicht einmal spekulieren. Diskretion ist Pflicht in der humanitären Diplomatie. Nur etwas sagt sie: «Die Schweiz wird wahrgenommen.» Weil sie neutral und unabhängig sei, was zentral ist im seit fünf Jahren tobenden Bürgerkrieg.
In der Schweiz kennen wenige den Konflikt so gut wie Kilchenmann. Seit Mai führt sie den Syrienkrise-Desk der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). An der Wand ihres Büros hängt eine Karte, die den Nahen Osten abbildet. Derzeit seien 13,5 Millionen Syrer auf der Flucht, steht da, die meisten von ihnen im eigenen Land.
Für sie will die Schweiz bessere humanitäre Hilfe.
Vor drei Jahren schlug Iran in Bern einen Austausch schweizerischer, iranischer und syrischer Vertreter zur humanitären Lage in Syrien vor. Seither gab es sechs Treffen in Damaskus, in Teheran, in Genf. Der Delegierte des Bundesrats für Humanitäre Hilfe, Manuel Bessler (57), leitet sie.
Zu seiner Linken sass letzte Woche Regine Kilchenmann – als Spezialistin für Syrien. «Mittlerweile besteht an diesen Treffen ein Verhältnis des Vertrauens», sagt sie. «Je häufiger wir uns sehen, desto mehr verstehen wir Erwartungen und Bedürfnisse aller.»
Sie betont: Ihre Arbeit sei humanitär, nicht politisch, das Ziel klar – «Syrien soll mehr Helfer zulassen und deren Arbeit erleichtern».
Wie sie das erreicht, welche Kniffe sie anwendet – darüber schweigt sie. Diplomatie ist heikel. Was gesagt wird, wie einzelne Personen aufeinander reagieren, das muss vertraulich bleiben.
Als «professionell» beschreibt sie die Gespräche. Details spart sie aus. «Die Atmosphäre ist offen, es gibt einen Dialog.» Dialog – in der Diplomatie das Zauberwort gegen die Wut der Waffen.
Ist es ein Prob-lem, dass eine Frau am Verhandlungstisch sitzt? «Das ist nie ein Thema», sagt Kilchenmann. Sie trägt in Teheran jeweils Kopftuch. Bessler führt durch die Verhandlung, sie kennt Details, ist die Expertin am Tisch. «Man res-pektiert mich als Frau.» Ihr Büro liegt in -einem unscheinbaren grauen Gebäude beim Bahnhof Köniz BE. «Höchstens mein Alter ist ein Problem.» Kilchenmann ist jung für ihre Aufgabe.
Ist sie nach dem jüngsten Gespräch nun optimistisch? Ist Frieden möglich? Sie schweigt. Auf Spekulationen lässt sie sich nicht ein.
Von Ostafrika ins Emmental
Sie kam in Ruanda zur Welt. Ihr Vater arbeitete in Ostafrika als Ingenieur. Regine war drei, als die -Familie ins Emmental zog. Erinnerungen an Afrika verblassten, es blieb die «Vorstellung an ein schönes Land» – bis 1994, bis zum Genozid. Regine war zwölf und konnte nicht verstehen, «wie Menschen in kurzer Zeit fast eine Million töten können».
Das Mädchen im hügeligen Emmental versuchte zu verstehen, was in ihrem hügeligen Geburtsland passiert war. Sie sprach mit den Eltern, den Lehrern. Ihr wurde klar: Sie wollte dereinst global arbeiten.
Zuerst in Genf, später in Portugal und Frankreich studierte sie internationale Beziehungen. Für die Uno ging sie nach Sri Lanka. «Es gab kaum Ausländer, ich tauchte in eine fremde Kultur ein.» Das ziehe sie an: Menschen mit anderem Hintergrund. Sei sie lange in der Schweiz, «langweile ich mich, von Menschen anderer Kulturen lerne ich mehr». Sie erzählt von Kairo, wo sie nach dem Sturz des ägyptischen Herrschers Hosni Mubarak (87) arbeitete. «Gespräche mit Ägypterinnen sind ganz anders als mit Schweizerinnen, das reizt mich.»
Zufällig kam sie in die arabische Welt. Sie arbeite 2011 für die Uno in Kairo, ihren Posten finanzierte die Deza. Aus nächster Nähe erlebte sie im Jahr nach der Revolution den Arabischen Frühling. «Es war eine Stimmung des Aufbruchs, gerade unter jungen Frauen.» -Fixiert auf den arabischen Raum sei sie nicht. «Aber es hat mich extrem reingezogen.» Sie sei «fasziniert, wie viel die Menschen reden, wie lebendig und gastfreundlich sie sind».
Nach zwei Jahren Kairo kam sie nach Bern, als Assistentin des Programmbeauftragten für Syrien. «Das Extreme zieht mich an», sagt sie. «Wie einst der Genozid in Ruanda ist Syrien sehr schwierig zu verstehen, es ist komplex, hat viele Akteure, die Bevölkerung leidet.» Von «Unfassbarkeit» spricht Kilchenmann.
Wie hält sie das psychisch aus? «Indem ich mich engagiere.» Kann sie abends überhaupt noch abstellen? «Das versuche ich, aber es gelingt mir nicht immer.»
Was treibt sie an? «Das Umfeld ist extrem spannend.» Auf einer Reise nach Teheran lerne sie mehr als in einem mehrwöchigen Kurs. Ihr weiches Berndeutsch ist versetzt mit englischen Worten. Stündlich würden 50 syrische Fami-lien fliehen, seit Jahren. «Daran zu denken, das treibt mich an.»
Dreimal reiste sie 2015 nach Damaskus, sah Leid. Den meisten Syrern gehe es aber weder um die Religion noch die Politik. «Sie wollen frei sein und gerecht leben, mit einem Job, der ihre Familien ernährt.»
Kilchenmann gibt keine Prognose ab, wie es in Sy-rien weitergehe. Sagt sie denn, was Syrer am dringendsten brauchen? Sie fasst sich kurz: «Frieden!»