Der Schritt nach Europa

An der serbisch-ungarischen Grenze interessiert vor allem eine Frage – nehmen die Ungarn Fingerabdrücke?

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

schrittNur der Wind ist zu hören am Tor zu Europa. Stumm schreiten neun Syrer auf die ungarische Grenze zu. Die Geleise weisen der fliehenden Familie den Weg. Es ist heiss, ihre Kleider sind patschnass. Fünfzig Meter, dann sind sie in der Europäischen Union.

Plötzlich ist die Stille weg, zu hören sind nun wimmernde, heulende, schreiende Kinder. Mädchen und Buben, die nicht mehr weiter können, die schon seit Tagen wandern, Blasen an den Füssen haben, deren Müttern die Kraft fehlt, sie zu tragen.

Ihre Gesichter sind staubig, ihre Kleider und Haare müffeln. Aus vollen Windeln rinnt Urin. Und doch haben die Kleinen ihre Menschlichkeit behalten. Sie lachen über die schweizerdeutschen Worte des Reporters, strahlen, wenn er ihnen Bilder seiner eigenen Töchter zeigt.

Mustafa (30) geht zuvorderst. «Pause!», ruft er, setzt seine Frau und die Kinder Fatame (6) und Ahmed (3) unter einen Busch in den Schatten. Sie kommen aus dem syrischen Aleppo, Mustafa hat dort Schuhe gefertigt. «Für italienische Designer», sagt er. Dann fielen Bomben. Seit zwei Jahren sind sie auf der Flucht. «Ich bin müde», sagt Mustafa. «Aber vor den Kindern muss ich stark sein, ihnen hilft sonst keiner.»

Ein Boot brachte sie über die Ägäis nach Griechenland, sie durchquerten Mazedo­nien und Serbien mit dem Bus. Zu Fuss wollen sie jetzt nach Ungarn. Zwanzig Meter trennen sie noch von der EU. Aber Mustafa zögert. Er hat Angst. Die Ungarn sollen brutal sein, hat er gehört.

Zurück kann er nicht, das weiss er. Also fasst er sich ein Herz. «Aufstehen! Wir gehen weiter.» Vor Einbruch der Nacht will er
ankommen. Denn: «Fatame hat Angst, wenn es dunkel ist.»

Die Balkanroute der Flüchtlinge führt durch die serbische Grenzstadt Horgos. Hier ist der Übergang durchlässig, der Stacheldraht endet auf beiden Seiten der Geleise. Ungarische Polizisten patrouillieren. Auf dem Boden liegen verblichene Fotos und Reisepässe. Manche Flüchtlinge werfen sie weg, bevor sie die EU erreichen. Plötzlich schwirrt am Himmel ein Helikopter.

frauenDie Menschen am Boden rennen weg, verstecken sich zwischen verdorrten Sonnenblumen, suchen Zuflucht unter Kirschbäumen.

Nicht so der syrische Arzt Ahmed Alhiraki (26). Er hält zwei Meter vor dem weissen Grenzstein. «Hey! Bitte! Sag mir, was in Ungarn passiert!» Er spricht perfekt Englisch. Alhiraki lebte in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Mit der Flucht entzog er sich dem Militärdienst. «Verhaften uns die Ungarn? Nehmen sie Fingerabdrücke?»

Der Fingerabdruck! Nichts interessiert an der serbisch-ungarischen Grenze mehr. Ungarn ist EU-Mitglied. Das erste EU-Land, das ein Flüchtling betritt, muss ihn gemäss Schengen-Abkommen regis­trieren. Mit Name, Herkunft und Fingerabdruck. Passiert das, ist in keinem anderen Land mehr ein Asylgesuch möglich.

In Ungarn aber will niemand bleiben. Die meisten Flüchtlinge auf der Balkanroute wollen nach Deutschland oder in die Niederlande. «Ich will nach England», sagt Arzt Alhiraki.

Überschreitet er jetzt die Grenze, platzt dieser Traum. Dann nimmt ihn die Polizei fest, und er bleibt bei den Ungarn.

Deshalb setzt er sich zu einer Gruppe syrischer Flüchtlinge, nur wenige Meter von der Grenze entfernt. Sie alle warten, bis es in Horgos Nacht wird. Dann wollen sie irgendwo den Grenzzaun überwinden, in der Hoffnung, dass die Polizei sie nicht erwischt. «So Gott will, bin ich in einer Woche in London», hofft Alhiraki.

buergermeisterIstvan Bacskulin (59) ist Bürgermeister von Horgos. Der korpulente, verschwitzte Mann fährt mit einem verbeulten Dacia die Grenze entlang. «Folgen Sie mir», sagt er den Reportern – und führt sie über einen Schleichweg zum Übergang, vorbei an Mais- und Kürbisfeldern, an Reben und Apfelbäumen. Bacskulin ist besorgt: «Wenn nicht bald etwas passiert, explodiert meine Stadt.»

In Horgos leben 5000 Menschen. Täglich gehen 3500 Flüchtlinge durch. «Sie pinkeln in unsere Gärten, klauen die Tomaten, zerstören die Ernte, die Bäume haben längst keine Äste mehr.» Flüchtlinge hätten sie abgebrochen und nutzen sie als Gehhilfen. Der Schaden für seine Stadt belaufe sich auf 1,5 Millionen Euro. Was passieren soll, weiss er nicht – und ist so ratlos wie derzeit alle europäischen Politiker. «Wüsste ich es, wäre ich Jesus und Allah zusammen.»

Zweihundert Meter südlich der Grenze hat Mohammad (19) unter Kirschbäumen zwei Zelte aufgeschlagen. Neun Syrer schlafen da­rin, darunter drei Mädchen. Mohammad hat in Aleppo studiert, er will Ingenieur werden. Jetzt sitzt er am Feuer, neben ihm seine Cousinen Hadil (6) und Lymse (11). Über lodernden Flammen grillieren sie Maiskolben, geerntet in ­einem nahe gelegenen Feld. «Wir sind alle sehr müde, wir brauchen ein paar Tage Pause», sagt Mohammad. «Und Ungarn ist gefährlich, wir haben Angst.»

Wie lange sie hier hausen, das weiss Mohammad nicht. «Ich will nach Holland. Ich muss warten, bis ich den richtigen Weg finde, ich gehe, wenn es sicher ist.» Er zückt sein Smartphone, für einen Euro hat er sich ein Datenpaket für Serbien gekauft. «Hoffentlich finde ich im Internet eine Lösung.»

Nein, sagt Mohammad, er fühle sich in Europa nicht willkommen. «Uns schlägt nur Hass entgegen – dabei haben wir diesen Menschen nichts getan.» Für ihn ist klar: «Sobald wie möglich will ich zurück nach Syrien. Europa ist ein Ort, wo wir uns eine Weile sicher fühlen können.»

Der Mais ist gar, die Familie isst unter einen Baum, alle schweigen, sind froh, einfach Ruhe zu haben.

Mitarbeit: Marko Grba Singh