Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)
Fünf Minuten verspätet verlässt der Regionalzug die Stazione Centrale in Mailand (I). Ziel: Chiasso TI. Fünf junge Männer teilen sich zwei Abteile. Vier Eritreer, dazu ein Nigerianer mit Sonnenbrille. Er heisst Clever (23) und grinst. «Diese Reise habe ich schon oft gemacht.» In Monza (I) steigt er aus. Seine Arbeit ist getan, er brachte die Menschenfracht aus Afrika auf den Zug in die Schweiz.
Vor sechs Tagen bestiegen die vier Eritreer in Libyen einen Kahn. Ihr Traum: «Ich will ein besseres Leben, ich will Asyl in der Schweiz», sagt Fasha (25). Er half in Asmara bei Geburten, in der Hauptstadt Eritreas.
Der Weg zum Glück ist beschwerlich. Auf See streikt der Motor, richtungslos treibt das Schiff im Mittelmeer. Bis die deutsche Marine 600 Passagiere aufgreift. Zwei Tage später aber sind alle dort, wo sie hinwollen: am Bahnhof in Mailand.
Der Klotz, 1931 aus weissem Marmor erbaut, ist das Nadelöhr von Europas Flüchtlingskrise, und es ist ihr Ventil. Tausende gelangen übers Mittelmeer nach Italien. Ihr Weg führt stets über Mailand. Weiter in die Schweiz, oder nach Nizza, über den Brenner nach Österreich. Seit der französische Präsident François Hollande (60) letzte Wochen die Grenzen schloss, ist die ganze Lombardei in Aufruhr. «Bleibt Frankreich noch lange zu, explodiert Mailand», sagt die Sprecherin der Stadt, Caterina Sarfatti.
Vor der Stazione spielen Eritreer und Äthiopier mit Somalis Fussball. Es ist heiss. Unter Bäumen suchen Frauen Schatten. An Brunnen putzen Flüchtlinge ihre Zähne, waschen Kleider. An Büschen trocknen sie Hemden und Socken.
Touristen, die an die Expo reisen, entdecken Unwürdiges mitten im reichen Europa. Hunderte hocken rum, Syrer, Afghanen, viele Afrikaner. Familien, kleine Kinder, vor allem Männer. Sie warten bis es weitergeht, weiter nach Norden. Romaro, 17 und Eritreer, will nach «Germany». Sein Traum? «Ein gutes Leben.» Was ist das? «Ich will arbeiten, ich will einen guten Job – genau wie Sie ihn haben.»
Auf einem Stück Gras sitzen Afrikanerinnen, dünn, ausgemergelt, hungrig. Eymonda (38) ist Sabas Mutter und Imams Grossmutter. Einen Monat wanderten sie unter gleissender Sonne von Asmara in den Sudan, fuhren im Bus nach Libyen, warteten Monate auf ihre Überfahrt. Vor zwei Tagen erreichten sie mit dem Zug Mailand. Registriert haben sie sich nicht in Italien. «Gibst du Fingerabdrücke, kannst du nicht mehr reisen», weiss Saba (20), weiss jeder in Mailand.
Eine Glastür an der Ostseite des Bahnhofs führt in den engen Raum. Am Tisch sitzen drei Freiwillige. Sie sollten die Flüchtlinge registrieren. Doch sie nehmen nur Namen, Herkunft und die Grösse der Familien auf, weisen sie einer der überfüllten Unterkünfte zu. Mehr dürfen sie nicht tun. Rom müsste Fingerabdrücke nehmen, sie registrieren, so sieht es das Dublin-Abkommen vor. Aber Rom macht das selten.
Es braucht einen richterlichen Befehl für einen Fingerabdruck. Und den holt die Polizei oft nicht ein. Gewalt ist untersagt. «Die nationale Polizei neigt dazu, Migranten nicht zu identifizieren», drückt sich Sprecherin Sarfatti diplomatisch aus. Weil die Migranten dann in Italien Asyl beantragen müssten. «In Rom glauben viele, Italien profitiere, wenn die Flüchtlinge nicht identifiziert weiterreisen.» Das ärgert sie. «Wir müssten uns fragen, warum keiner bleiben will.» Ihre Antwort: «Alle wissen, dass die Wirtschaftskrise in Italien viel zu gross ist.» Zudem dauere ein Asylverfahren in Schweden zwei Monate, in Italien aber über zwei Jahre.
Saba hat eine Decke auf die Lüftung der U-Bahn gelegt. Mit beiden Händen sucht sie im Haar ihrer Tochter Imam (2) Läuse. Wohin geht ihre Reise der Hoffnung? «Switzerland», sagt sie im holprigen Englisch. «Die Schweiz ist ein gutes Land für Flüchtlinge.» Es sei einfacher in die Schweiz zu gelangen als in andere EU-Länder. Fotografieren lassen will sie sich nicht, selbst von hinten nicht. Sie fürchtet Spitzel aus Eritrea.
Plötzlich steht eine Tasche neben Saba, gefüllt mit Äpfeln, Milch und Bleistiften. Hingestellt hat sie eine elegante Mailänderin. «Wenn ich das sehe, weint mein Herz», sagt Francesca Rositano (54). Täglich bringt sie Essen. «Europa muss die Tore wieder öffnen, sonst stirbt Italien.»
Bis Mittwoch kamen dieses Jahr 58897 Personen übers Mittelmeer nach Italien. 6882 waren Frauen, 5669 unter 18 Jahren, davon 3622 Kinder. Täglich kehren 1000 von der französischen Grenze zurück. «Lange halten wir nicht mehr aus», sagt Sarfatti.
Und doch scheint ganz Mailand zu helfen. Menschen tragen Nudeln zur Stazione, Unterwäsche und WC-Papier. Das Rote Kreuz leistet medizinische Hilfe. Vor dem Eingang der Meldestelle verteilt eine Lehrerin Panini, Pfirsiche, dazu Eistee.
Mohammed (26) sitzt im Schatten, trägt kurze Hosen, ein T-Shirt, seine grünen Augen funkeln. Er spricht nur Arabisch, formt mit den Armen ein Gewehr, um zu zeigen, warum er hier ist. Wegen des Kriegs in Syrien. Er zückt ein iPhone, startet eine App, die englische Fragen des Reporters auf Arabisch übersetzt. Wann kam er an? «Vor zwei Tagen, die Überfahrt war hart, Piraten überfielen uns», übersetzt die App. Vier Tage trieb er im Meer, bis die schwedische Marine ihn rettete. Wie geht er weiter? Er nimmt die Bahn nach Ventimiglia (I), von dort ein Auto nach Nizza (F), den Zug über Paris in die Niederlande.
Warum gerade Holland? «Um dort zu arbeiten und Asyl zu beantragen.» Italien sei ein schönes Land, er ist Fan der AC Milan. «Aber hier hat es keine Arbeit.»
Der Regionalzug nach Chiasso hat die Verspätung wettgemacht, ist bald in Como (I), in zwanzig Minuten in der Schweiz. Die vier Eritreer sind angespannt. Negasi (24), der Sportlehrer, Samara (21) und Tekule (23), zwei Bauern, blicken aus dem Fenster. Schlepper brachten sie so weit. Einer führte sie von Eritrea in den Sudan, der zweite begleite sie nach Libyen, der dritte nach Italien, Clever auf den Zug nach Chiasso. Insgesamt kostete die Odyssee jeden 5500 US-Dollar. «Unsere Eltern halfen uns», sagt Fasha.
Nichts hat er dabei, kein Gepäck, keinen Pass, nur ein Billett. Der Zug fährt in Chiasso ein. «Ist das die Schweiz?» Ja. Fasha strahlt.
Er glaubt, am Ziel zu sein, bis ihn die Realität einholt. Er muss aussteigen, Schweizer Grenzwächter stoppen die Afrikaner. «Pässe zeigen!», ruft einer auf Deutsch. Ein Baby weint, rennt zum Gleis. «Geh zu Mama!», so der Grenzer. Er zählt 17 Menschen ohne Pässe, stellt sie in eine Reihe, führt sie in einen kargen Raum ohne Möbel. Beamte nehmen Personalien auf, fragen, wer was will. Einige wollen weiterreisen, andere Asyl beantragen.
Längst spürt das Tessin den Druck in Mailand. Im Schnitt kommen 60 Flüchtlinge pro Tag an, es gibt Wochenenden mit 300. Viele haben Angst, wenn sie aussteigen. Sie hören Italienisch, glauben, noch in Italien zu sein.
Fasha aber weiss: Er ist in der Schweiz.