Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)
Der schmächtige Bursche schielt zu Boden. «Papiere, bitte!», fordert der kräftige Grenzwächter. Der Junge – kaum 20, in kurzen Hosen – schweigt, hält eine spanische Identitätskarte hoch. Sie zeigt ein fülliges Gesicht mit buschigen Brauen. Der Bursche aber hat Kanten und schmale Brauen. «Betrüger», ruft der Grenzer. Zwei spanische Polizisten führen ihn ab, verhören ihn. Kein Wort Spanisch spricht der angebliche Spanier. Er ist Marokkaner, seine Identität falsch.
Überführt hat ihn ein Tessiner in Ceuta, der spanischen Enklave in Afrika. «Das Gesicht hat ihn verraten», sagt Benedetto* (41). «Und er sprach nicht.»
Benedetto, den hier alle Max nennen, bewacht die Grenze Europas. Vom Mittelmeer ist Ceuta umgeben und von Marokko. 44 Tage schiebt der Schweizer Dienst für Frontex, die europäische Grenzschutzagentur, die «den Kampf gegen illegale Einwanderer perfektioniert», wie die «Süddeutsche Zeitung» schreibt.
Betrüger überführt
Es ist heiss. Max schwitzt in der Sommeruniform des Grenzwachtkorps, dem kurzärmligen Hemd mit der Aufschrift «Swiss Border Guard». Am linken Arm trägt der Korporal die Frontex-Binde, im Ohr glänzt ein Diamant. Am Gürtel hängen ein iPhone und sein wichtigstes Instrument: eine Lupe, mit der er Pässe bei verschiedenem Licht auf ihre Echtheit prüfen kann.
Wobei er häufiger echte Papiere und falsche Personen antrifft. Migranten kaufen gestohlene Pässe mit Fotos, die ihnen ähneln. In Ceuta wie Marokko blüht der Handel damit. Wie erkennt Max die Betrüger? «Die Augen und die Form des Kopfes verraten viele.»
Alle fängt er nicht ab. Jährlich 6000 Menschen schaffen es über Ceuta nach Europa. Zuweilen klettern Hunderte über den sechs Meter hohen Doppelzaun. Schlepper verstecken sie in Autos – für 3000 Euro. 800 Euro kostet ein Sitz im Schlauchboot. Vorletzte Woche, weiss Max, seien in einer Nacht 45 Boote mit 299 Migranten in Ceuta angekommen.
Seit dem Schengen-Abkommen schützt die EU insbesondere die Aussengrenze – und gründete 2004 Frontex. Schengen-Länder finanzieren die Agentur mit Sitz in Warschau, stellen Experten und Material. Die Schweiz beteiligt sich seit 2011 mit jährlich 40 Grenzern. Sie dienen in Sizilien, Bulgarien, in Griechenland und Spanien. 2013 leisteten sie 1257 Diensttage für Frontex. Jährlich vier Millionen Franken zahlt der Bund an die EU-Agentur.
Schweizer Fachleute
Das sei sinnvoll, so Grenzwachtkorps-Sprecher Attila Lardori. Die Schweiz leiste einen «wichtigen Beitrag im Kampf gegen irreguläre Migration». Ihre Grenzer deckten im Ausland auf, wie Ausweise missbraucht würden, wie Schlepper organisiert seien. Und sie stoppten den Schmuggel von Waffen und Drogen.
Max, seit 2001 bei der Grenzwache in Chiasso TI, war vor einem Jahr erstmals in Ceuta, zuvor auf Sizilien, in Lissabon. In Ceuta kontrolliert er Autos und Personen, die zu Fuss auf die Fähre gehen. «Unter Fussgängern finde ich eher Betrüger», sagt er. Zudem Kuriere mit Kokain oder Haschisch. Syrer fängt er ab und Marokkaner. Die Migranten befragt er: Wie kamen sie zu ihren Pässen? Wie viel kostet ein geklautes Dokument? Wer verkauft sie? «So erhält die Schweiz ein umfassendes Bild von der Schmugglerszene zwischen Afrika und Spanien.»
Seltener als letztes Jahr finde er Versteckte in Lastwagen. «Die Marokkaner haben ihre Kontrollen verstärkt.» Unterstellt ist er Alberto Rodriguez, einem eleganten Spanier mit Vollbart. «Wir suchen illegale Einwanderer», sagt der 31-Jährige. «Jedes Jahr kommen mehr, sie kaufen ihre Dokumente bei der Mafia in Ceuta.»
Zwölf Frontex-Leute helfen ihm – aus Rumänien, Portugal, Schweden, Frankreich, Spanien, den Niederlanden und der Schweiz. «Zusammen sprechen sie alle nötigen Sprachen», sagt Rodriguez. Und sie bringen Wissen nach Spanien. «Fachlich hervorragend» sei Max. Da er schon einmal in Ceuta war, kenne er die Gegend. «Keiner findet gefälschte oder gestohlene Papiere so schnell wie er.»
Leben ohne Diktator
Ohne Visa dürfen jene Marokkaner nach Ceuta, die in der Grenzstadt leben. Aber nur zwischen neun und 20 Uhr – so lange sind die Geschäfte offen. Das bringt der Enklave Geld. Burger King offeriert Halalfleisch. Marokkaner kaufen Sportwagen bei Porsche. Lidl in Ceuta erzielt den höchsten Umsatz aller Filialen weltweit.
Benedetto stoppt einen marokkanischen Mercedes. «Aussteigen, bitte!» Der Fahrer öffnet den Kofferraum, ein Teddybär fällt raus, dazu zwei Zwiebeln. Alles okay. «Ich erkenne sofort, ob einer nervös ist», sagt der Grenzer. «Ob er sich unruhig bewegt, mir nicht in die Augen schaut, ob er ständig redet.»
Acht Stunden steht der Tessiner in Abgasen. Ausruhen kann er sich kaum: Zwischen sechs Uhr in der Früh und Mitternacht legen 22 Fähren in Ceuta ab.
Fangen Frontex-Fahnder Flüchtlinge ab, gelangen diese ins Auffanglager. Gemäss marokkanischem Innenministerium halten sich im Maghreb-Land 40000 Migranten auf. Alle wollen nach Europa. 40 Syrer haben es bis Ceuta geschafft. Mitten in der Stadt leben sie in Zelten, neben schicken Boutiquen und einer alten Kirche. Es ist Mittag, Frauen kochen Reis mit Poulet, Männer trinken Pfefferminztee. Sieben Kinder hat Freitag (40). Er will sie nach Europa bringen, sagt der syrische Händler aus Homs. «Dorthin, wo es keine Diktatoren gibt.»
Zuerst muss Freitag die Strasse von Gibraltar überqueren. Sie ist bei Ceuta 40 Kilometer breit, das Wasser selbst im Sommer kalt, die Wellen sind hoch. 30 Minuten braucht die Fähre bis Algeciras, die spanische Hafenstadt. Hier erreichen Fähren von Ceuta und Tanger in Marokko das europäische Festland.
Es ist 1.30 Uhr. Seit vier Stunden schiebt Tom* Dienst, ein kräftiger Kahlkopf. An seiner Seite hockt der belgische Schäferhund Jok. Tom (42) ist Baselbieter. Seit sieben Jahren ist er beim Grenzwachtkorps. Er giesst für Jok Wasser in einen Napf. Selbst nach Mitternacht ist es schwül und warm. Dutzende weisse Laster stehen vor dem Grenzportal, bringen Güter aus Marokko nach Europa. Einige verbergen illegale Fracht, schleppen Flüchtlinge.
Diese will Tom finden. Er zieht dem Hund eine stabilogelb leuchtende Schabracke mit Schweizer Kreuz an. Hund und Halter stellen sich vor einen Truck. «Motor abstellen», ruft Tom. Er lässt Jok ziehen, rennt hinter ihm her, die Leine locker. Der Hund steckt die Nase zwischen Räder, unter den Anhänger, in den Führerstand. Er springt, schnüffelt, hetzt, jagt.
Es folgt ein zweiter Laster, dann ein Bus, noch drei Laster. Nach 20 Minuten bringt Tom seinen Hund zurück zum Napf.
Ein Spiel für den Hund
Ein Tscheche übernimmt. Der führt seinen Hund enger, geht langsamer. Sucht er genauer als der Schweizer? Nein. Der tschechische Hund ist jung, er lernt. Sein Halter vertraut ihm noch nicht. Tom lässt dem Trieb des Hundes freien Lauf. «Wie wenn er im Wald Menschen orten würde.» Er finde jeden Versteckten. «An der Leine habe ich ihn nur, damit er nicht überfahren wird.»
Drei Hunde wechseln sich ab, neben Jok und dem tschechischen noch ein spanischer. Sie prüfen Hunderte von LKW. «Für die Hunde ist das ein Spiel», sagt Tom. «Jok will immer spielen.»
Es ist ein Spiel um Leben und Tod. Finden Hunde Versteckte, retten sie oft deren Leben. «Die Migranten sind froh, wenn wir sie entdecken», sagt Tom. «Sie sind am Verdursten, wir bringen sie halbtot ins Spital.»
Es riecht nach Schweröl, dem Treibstoff vieler Fähren. Fünf Liter Wasser trinkt Tom pro Einsatz. Ein Wassermann bringt ihm frische Flaschen. Drei Wochen ist er in Algeciras. Er fuhr von Basel nach Spanien, schaffte die 2175 Kilometer in zwei Tagen. Er wohnt im Hotel, teilt das Zimmer mit dem Hund. «Wir haben den gleichen Rhythmus. Schlafe ich, schläft auch Jok.»
Noch hat der Hund niemanden gefunden. Marokko hat strengere Ausreisekontrollen, finanziert von der EU. «Die grasen schon viel ab», sagt Tom. Macht es denn Sinn, dass er hier ist? «Die Schweiz sagt Ja zu Schengen.» Somit müsse sie sich bei Frontex beteiligen. Zudem: «Alles, was man hier abfängt, haben wir sicher nicht in der Schweiz.»
Die Menschen aus Tanger betreten den Schengen-Raum. Jeder Pass wird kontrolliert, jedes Visum abgestempelt. Youri* (37) stoppt einen bis unters Dach gefüllten Ford mit belgischen Nummernschildern. Im Auto sitzen Araber. Sechs Wochen ist der Lausanner in Algeciras stationiert.
Er sucht gefälschte Dokumente – und findet Waffen. Heute bewacht er die EU-Aussengrenze mit Finnen und Norwegern, einem Tschechen und einem Italiener. Nach Feierabend führen sie ihre Beute vor – und legen Dutzende Schlagstöcke und Pfeffersprays, Dolche und Kartonschneider auf den Boden. «Jede Waffe, die wir finden, kommt nicht nach Europa», sagt Youri.
Schlagstock und Dolch
Ein Mann von der Elfenbeinküste irrt über den Platz. Der spanische Vorgesetzte holt den Baselbieter Hundeführer. Er übersetzt aus dem Französischen. Der Ivorer will wissen, ob sein Bruder ohne Visum einreisen kann. Tom übersetzt die Frage. Das «no» des Spaniers verstehen alle.
Tom und Jok unterstehen spanischem Recht. Der Hund darf nicht beissen und der Basler keine Waffe tragen. Eine Lupe hat er dabei, eine Taschenlampe, ein Sackmesser, ein Telefon, Handschuhe. Mit einem Spiegel schaut er unter die Laster, bevor er den Hund loslässt.
Jok sitzt neben Tom. Ist still, regt sich nicht. Eben hat eine Fähre angelegt. Busse verlassen das Schiff. «Halt, Motor aus!», ruft Tom. Jok zieht los – und sucht Menschen.
* Aus Sicherheitsgründen geben die Grenzwächter nur ihre Vornamen preis.