Von Peter Hossli (Text) und Sabine Wunderlin (Foto)
An seinem schwierigsten Tag war sie nicht da.
Weit weg in Singapur weilte Kashya Hildebrand (50), als ihr Mann Philipp (48) letzten Montag vom Amt des Schweizerischen Nationalbankpräsidenten zurücktrat. Nicht Ferien machte sie im südostasiatischen Kleinstaat, sie arbeitete.
Eine aufsässige Reporterin hatte der Kunsthändlerin an einer Messe aufgelauert. «Es ist wunderbar, in Singapur zu sein», sagte die bedrängte Kashya Hildebrand in die Kamera. «Es spiegelt perfekt wider, wer ich bin.» Eine unabhängige Frau mit selbständiger, weitläufiger Karriere. «Wir sind eine internationale Familie mit vielfältigem kulturellem Hintergrund – darauf sind wir sehr stolz.»
Deutlicher hätte sie die «vielen Fehlinterpretationen unserer Familie» nicht entwirren können.
Die Hildebrands? Es sind globale Nomaden.
Eine Familie von Welt. Sie ist mal hier, mal dort, er mal in Washington, in Frankfurt, dann in London.
Die Familie führt, was seit dem Fall der Berliner Mauer eine ständig wachsende Gruppe von Menschen tun – ein globalisiertes Leben mit wenig Bodenhaftung.
Kashya kam in Pakistan zur Welt. Zog mit vier nach Connecticut an die amerikanische Ostküste. Philipp ist Luzerner. In New York kreuzten sich ihre Wege, in jener Stadt, wo alle Suchenden dieser Welt irgendeinmal ankommen, hängen bleiben, und manche wieder weiterziehen.
Zu Hause reden die Hildebrands Englisch. Tochter Natalia ist wie der Vater mehrsprachig, die Mutter versteht Deutsch, drückt sich aber am liebsten auf Englisch aus. Kashya besitzt zwei Pässe – den amerikanischen und den schweizerischen.
Zum Verhängnis geriet ihnen etwas, was für globale Nomaden ein sonnenklarer Entscheid ist. Ihr Vermögen haben die Hildebrands aufgeteilt in zwei Währungen, mit denen sie leben – in Franken und Dollar. Weil Kashya weltweit Kunst handelt, und Kunst fast überall in Dollar abgerechnet wird. Weil Natalia an einer Eliteuniversität in den USA studieren soll. Das kostet viele – Dollar. Weil, wie Philipp Hildebrand oft betont, sie vielleicht wieder mal in Amerika leben wollen. Oder mal hier, und mal dort.
Von «Dollar Lifestyle» spricht das Magazin «The Economist».
Immer rascher und weiter bewegen sich seit den Neunzigerjahren Waren, Ideen – und Menschen. Wer mobil ist, taugt zum globalen Nomaden. Und bereit ist, ständig im Flugzeug zu sitzen. Bereit, von früh bis spät bereit zu sein, wenig zu schlafen, viel zu arbeiten. Bereit, jederzeit Kisten und Koffer zu packen und woanders hinzuziehen.
Sie verdienen viel, weil sie viel wissen und viel können. Nicht einen akademischen Titel tragen sie, nicht von einer Universität. Sondern viele Titel von mehreren Schulen in mehreren Ländern.
Ihr Interesse gilt der Welt, nicht dem unmittelbaren Umfeld. «Die erste Zeitung, die wir am morgen lesen, ist die ‹Financial Times›», sagte Philipp Hildebrand, als er noch SNB-Präsident war. Nicht die NZZ» studierte er als oberster Hüter der schweizerischen Geldpolitik, sondern eine britische Finanzzeitung. Wer wie er die Welt verstehen muss, liest die Weltpresse.
Wie sehr Hildebrand mitmischte, verdeutlicht der 30. November 2011. Sechs Zentralbanken stützten mit Geldzuschuss abstürzende Weltbörsen. Dabei waren die Bank of Canada, die Bank of England, die Bank of Japan, die Europäische Zentralbank, die amerikanische Federal Reserve Bank – und die Schweizerische Nationalbank. Neben Euro, Dollar und Yen ist der Franken die wichtigste Währung.
Die Weltenwanderer drehen auf anderen Umlaufbahnen als die Sesshaften. In der Schweiz hat ihre Karawane zwei Stopps – in Genf und Zürich. An Orten, wo viele nie hinkommen, trifft sich die Zürcher Szene. In Villen am Berg und an der Goldküste, in den Salons im Niederdorf, in Loftwohnungen beim Areal der Brauerei Hürlimann, oder in einer lauen Sommernacht auf einem Dach im Seefeld-Quartier.
Sie feiern, reden über Jobs, ihre Kinder, häufig über Kunst, die sie eben gesehen, verkauft, gekauft haben, den Ski-Urlaub in Utah, die Geburtstagsfeier eines Freundes in Portofino.
Eine Sprache vereint die Nomaden in Zürich – das Englisch. Kommen Libanesen und Israelis, Amerikaner und Briten, Belgier und Brasilianer in einer Nobelwohnung zusammen, redet selbst das Personal die Weltsprache, das Häppchen von Sprüngli aufträgt und die leeren Rotweingläser abräumt.
Liberal ist die Gesinnung vieler Nomaden. Sie lassen andere in Ruhe, weil sie selbst in Ruhe gelassen werden wollen. Der Wahlkampf in den USA ist Thema; einige kennen Barack Obama. Sie spekulieren über die russischen Wahlen im März, haben Meinungen zu Wladimir Putin. Suchen die Debatte, schätzen die Diskussion. Laden Aktivisten ein, die den Arabischen Frühling aus nächster Nähe erlebt haben. Organisieren private Konzerte mit jungen Musikern.
Oder einer der wohltätigen US-Milliardäre tritt auf und erläutert, warum Reiche für eine gerechtere Welt einstehen sollten.
Für gute Zwecke versteigern sie untereinander Kunst. Selten geschieht das im Rampenlicht, sondern privat, abends, in einem Haus, einer grossen Wohnung, organisiert von Ehepaaren, die ihre Freunde bewirten. Ohne Scheu suchen dabei deren kluge Kinder das Gespräch mit den illustren Gästen.
Die Gastgeber sind oft binational. Sie kommt von hier, er von da, wohnen in einem dritten Land, wo keiner der beiden herkommt. Fremd sein ist eine Passion der Nomaden. Sie heiraten Partner, die das ebenfalls suchen. Finden sich bei der Arbeit, als Broker, Anwältin, Kunstmakler, Diplomatin.
Wie die Hildebrands. Sie haben sich beim Job kennengelernt.
Er studierte in Toronto, in Genf, an der Harvard University in Boston. Die Doktorarbeit verfasste er an der Oxford University in England. Das ist eine normale akademische Laufbahn für einen, der es bis an die Spitze schaffen will.
Sie, die Pakistanerin, wuchs westlich in Amerika auf, studierte Volks- und Betriebswirtschaft. Philipp – der schöne Schwimmer aus der anderen Welt – traf sie in Manhattan, bei Moore Capital Management, dem Hedgefonds mit Ablegern in New York, London Hongkong, Washington und Zürich.
Sie heirateten spät, wie viele Nomaden. Sie war 39, er 37, als ihre Tochter zur Welt kam. Mitten in der Karriere startete Kashya eine zweite Karriere, öffnete in Genf eine Kunstgalerie, nach 16 Jahren in der Finanzbranche. Ihrem Mann war sie in die Rhonestadt gefolgt. Der heuerte 2001 bei Union Bancaire Privée an. Zwei Jahre später nomadisierte Kashya weiter mit einer zweiten Galerie in New York.
Die Kunst, die sie verkauft, beschreibt, wer sie ist. Es sind hochästhetische Gemälde, Fotografien, Collagen aus Asien, aus dem Nahen Osten, vom Schnittpunkt zwischen Okzident und Orient. Auf drei Kontinenten hat sie gelebt. «Ich war mir meinen asiatischen und nahöstlichen Wurzeln stets bewusst», sagt sie dem Magazin «Canvas».
Zwischenzeitlich sind die Nomaden in der Schweiz. Ihre Heimat aber ist die ganze Welt, dort sind sie bestens vernetzt. Ihr Freundeskreis umspannt den Globus.
Man lernt sich in Rio kennen, ein paar Jahre drücken die Kinder befreundeter Paare gemeinsam die Schulbank. Dann verlangt die Firma, meist jene des Mannes, den Wechsel des Arbeitsorts. Eine Familie zieht nach Paris, die nächste nach Berlin, eine dritte nach Bombay.
Zurück bleiben Erinnerungen und E-Mail-Adressen, der Kontakt auf Skype, die Freundschaft auf
Facebook. Statt auf dem Schulweg tuscheln wandernde Kinder und ihre Eltern digital. Surrt das iPhone, empfinden sie Nähe zu anderen Nomaden in anderen Zeitzonen.
Treffen sie sich am Wirtschaftsgipfel in Davos, bei der Gala im Museum of Modern Art, in einer entlegenen Lodge am Fuss des Kilimandscharo, knüpfen sie sofort an.
Zumal sie über das reden, was alle interessiert – den exklusiven Zeitvertreib. Sie segeln, sammeln Kunst, golfen. Ziehen im Rudel umher, an Weihnachten an den Persischen Golf, im Sommer an den Yukon. Ein Flug nach Seoul ist für sie nicht spektakulärer als für andere die Zugreise ins Wallis.
Ständig optimieren Weltenbürger ihr Leben, den Standort, die Steuern, die Schule der Kinder. Das nahe gelegene Geschehen interessiert sie selten. Sie haben Parallelwelten geschaffen – wie Asylbewerber aus Tunesien oder das Personal, das sie bedient.
Etwas beschäftigt sie ständig: die Arbeit, das Einkommen, die Anlagen, die sie für sich tätigen, für Kunden, die Kurse an den Börsen.
Die Nomaden als gierige Elite abzustrafen, als Geld-Götter, greift aber zu kurz. Weltbürger sind oftmals aufgeschlossene, tolerante Leute. Müssen es sein. Meist erfüllen Sie anspruchsvolle Aufgaben.
Müssen sich kleiden können, sprachliche Finessen kennen, über kulturelle Schranken hinweg denken und handeln. Frauen wie Männer bringen sie in Konzernen zusammen, Weisse und Schwarze, Inder und Iraner, viele Menschen, die aus irgendeinem Grund entwurzelt sind. Am ehesten gelingt das jenen, die selbst nirgends Wurzeln haben. Clevere Nomaden besitzen reichlich Charisma, die Gabe, öffentlich zu reden, Argumente zu führen.
Bewunderung erntete Philipp Hildebrand zuletzt für seinen Auftritt beim eigenen Rücktritt. Das sagt mehr über die Bewunderer als über ihn. Hätte Hildebrand das nicht glänzend hingekriegt, hätte er diesen Posten nie erklommen.
Tadellos und erfolgreich hat er ihn erledigt, zumindest letztes Jahr. Am Freitag vermeldete die Nationalbank für 2011 einen Gewinn von 13 Milliarden Franken.
Hildebrands Abschiedsgeschenk – bevor er weiterwandert.