Von Peter Hossli (Text) und Sabine Wunderlin (Fotos)
Kerstin dreht die Karteikarte um, die auf dem Küchentisch liegt. Laut liest sie die Zahl vor, die sie selbst draufgekritzelt hat. «13», sagt sie auf Züritüütsch. «Hochdeutsch», gemahnt Liliane Lanz, die neben ihr sitzt. «Welche Zahl kommt vorher, welche nachher?» «12 und 14», antwortet Kerstin auf Deutsch. «Gut», lobt Lanz. Sie geht ins Zimmer nebenan.
Sara und Valentina sitzen am selben Pult, büffeln englische Vokabeln. In der Ecke steht ein Stockbett. «What’s your lesson today?», fragt Lanz, was lernt ihr gerade. «Wörter», sagt Sara. «Try to speak English», sie soll es auf Englisch versuchen. «What’s that?», fragt sie und zeigt auf den Abfalleimer. «The trash», so Valentina. «Good.» Lanz kniet nieder und hilft Anna-Sophia, die sitzend ein Puzzle legt.
Auf der anderen Seite des Flurs liegt das Schlafzimmer von Oliver. Der Junge sitzt hinter einem Mathematikbuch, löst Gleichungen. «Brauchst du mich?», fragt Lanz. «Nein.»
Oliver ist 12 Jahre alt. Seine Schwestern Valentina, Sara, Kerstin und Anna-Sophia sind 10, 9, 7 und 4. Liliane Lanz ist ihre Lehrerin.
Und sie ist ihre Mutter.
Zur Schule gehen die fünf Kinder nicht. Die Familie Lanz unterrichtet sie zu Hause. Nicht in einem entlegenen und entvölkerten Alpental, wo es kaum Kinder und noch weniger Lehrer gibt. Bildung zu Hause betreiben die Lanzens mitten in Zürich. Sie wohnen in einer 6-Zimmer-Wohnung in einer modernen Überbauung im Stadtteil Oerlikon. Mutter Liliane, 42, eine gelernte Gärtnerin, unterrichtet die Kinder. Vater Benjamin, 46, hilft ihr dabei. Als freier Grafiker verdient er den Lebensunterhalt.
Damit «die Familie möglichst viel zusammen ist» begründet er den pädagogischen Sonderfall. Zumal die Entwicklung einer Familie ein «schwieriger Weg» sei. «Wir beschreiten ihn gemeinsam.» Der Heimunterricht stärke den Zusammenhalt. «Geschwister sind ein Leben lang wichtig, Schulkollegen nur für eine gewisse Zeit.»
Gegen 1000 Kinder erhalten in der Schweiz die Bildung daheim, sagt Willi Villiger, Vorstandsmitglied des Vereins Bildung zu Hause. Wobei die Zahl stetig steige. Gestresste Lehrer, erhöhter Druck, Gewalt auf dem Pausenplatz: Eltern sehen viele Gründe, ihre Kinder aus dem Klassenzimmer zu nehmen und eines daheim einzurichten. Zudem ziehen deutsche Homeschooler in grenznahe und liberale Schweizer Kantone. Deutschland verfolgt den Heimunterricht strafrechtlich.
Linke betreiben Heimunterricht, weil sie von utopischen Kommunen träumen und Konzepte des freien Lernens fordern. Rechte, weil sie Bildung nicht als staatliche Aufgabe sehen. Patrioten, weil ihnen die Schulen zu international sind. Religiöse wollen Kindern christliche Werte auf den Weg geben, Atheisten sie vom Religionsunterricht fernhalten. Die Eltern vieler Homeschooler sagen, ihre Form des Unterrichts sei effizienter. Andere wollen nicht, dass sich ihre Kleinen prügeln. Mütter von Lernschwachen lehren zu Hause, ebenso Eltern von Hochbegabten. Für viele ist Homeschooling günstiger als eine Spezialschule. «Es ist die Privatschule des kleinen Mannes», sagt Benjamin Lanz.
Oliver hört gerne Heavy Metal, hält zwei schwarz-weiss gefleckte Ratten in seinem Zimmer. Er mag Chemie und chemische Reaktionen. «Alles, was explodiert, finde ich spannend.» Er geht in die Küche und führt ein Experiment mit Schwarzpulver durch.
An seiner Zimmertür hängt der Stundenplan. Eingetragen hat er, wann er Englisch lernt, Biologie büffelt, Formeln löst. Letztlich entscheidet Oliver aber spontan, was er wann lernt. Gestern erledigte er bereits am Morgen alles, was er sich vorgenommen hatte. Am Nachmittag nahm er frei. Heute sitzt er nonstop hinter Büchern, morgen dann überhaupt nicht.
Die Eltern helfen Oliver nur noch, wenn er Hilfe will. «Homeschooler lernen früher als andere, ihre Zeit selbständig einzuteilen», sagt Vater Lanz. «Später, an der Höheren Fachschule oder im Beruf, haben jene Erfolg, die selbständig arbeiten.» Das könnten Homeschooler weit besser als Kinder, die öffentliche Schulen besuchen.
Amerikanische Colleges teilen diese Meinung. Aktiv rekrutieren sie zu Hause geschulte Jugendliche. Zumal die Mehrheit von ihnen bei Aufnahmeprüfungen bis zu 30 Prozent besser abschneiden als jene, die an eine öffentliche Schule gingen.
Solche Befunde beeinflussen die Familie Lanz kaum. Sie betrachten Bildung nicht allein als Wissensvermittlung, sondern als «Charakterbildung», erklärt der Vater. «Wir möchten die prägenden Menschen im Leben unserer Kinder sein.» Möglich sei das, wenn man sich mit den Kindern abgebe statt sie abzuschieben. «Gehen die Kinder jeden Tag in die Schule, verbringen sie weit mehr Zeit mit anderen Menschen als mit ihren Eltern.»
Liliane Lanz arbeitet den Lehrplan aus und besorgt die Lehrmittel. Sie bedient sich beim Angebot des Kantons und kauft eigens für Heimunterricht verfasste Bücher. Bis zur vierten Klasse betreut sie die Kinder aktiv. «Danach braucht es nur noch Kontrollen.»
Sozial isoliert seien Homeschooler, werfen Kritiker ein. Sie zögen sich aus der Gesellschaft zurück, versteckten ihre Kinder, seien komisch. «Ich bin nicht einsam», kontert Oliver. Freunde trifft er in der Siedlung. «Wir isolieren uns nicht, leben mitten in der Stadt», sagt Benjamin Lanz. «Wir lesen Zeitungen und surfen im Internet.»
Die Kinder gehen ins Schwimmen, besuchen den Musikunterricht. Mit bis zu sechzig anderen Kindern, die zu Hause unterrichtet werden, absolvieren sie Projektwochen.
Einen Nachteil sieht Oliver. Seine Freunde, die zur Schule gehen, können besser kämpfen. Als einziger Knabe mit vier Schwestern rauft er selten. «Bei einer Schlägerei wäre ich chancenlos», sagt Oliver. Nun kämpft er halt öfter spielerisch mit seinem Vater.
Drei Jobs erledigt Liliane Lanz. Sie ist Lehrerin, fürsorgliche Mutter, besorgt den siebenköpfigen Haushalt. Eigene Ansprüche stellt sie zurück. «Das ist nicht populär, aber es bringt mir und den Kindern mehr als alles Geld, das ich verdienen könnte.»
Auf dem Esstisch liegt das Buch «Spannende Experimente aus Natur und Technik». Der iMac steht in der Küche. An der Wand hängt eine Gitarre, in der Stube stehen Globus und Klavier. Am Kühlschrank klebt die Pyramide der Lebensmittel. Ein Kompost modert auf dem Balkon, daneben die Schlitten, Fahrräder und für die Kleinste ein Trottinett.
«Klar», sagt Vater Lanz, «wir müssen uns ständig rechtfertigen.» Bei Verwandten und Freunden, in der Nachbarschaft. Er mache sich Sorgen, ob aus seinen Kindern einmal etwas werde. «Aber solche Sorgen machen sich alle Eltern.» Lernen die Kinder zu Hause überhaupt genug? «Lernen ist ein lebenslanger Prozess, der mit dem Schulende nicht aufhört», sagt Liliane Lanz. «Wir versuchen, die Freude am Lernen hochzuhalten.»
Steigt das Interesse an der Bildung zu Hause, wächst der Widerstand der Gesetzgeber. Der diesbezüglich liberale Kanton Bern plant eine Revision des Schulgesetzes – und nimmt das Homeschooling ins Visier. St. Gallen geht vor Gericht gegen Heimunterricht vor. Eltern könnten das nicht, lautet ein Argument der Ostschweizer, Homeschooler seien nicht gemeinschaftsfähig ein anderes. Dass das nicht so ist, will eine St. Galler Familie jetzt vor Bundesgericht darlegen.
Das 2005 in Zürich verabschiedete Volksschulgesetz erlaubt Bildung zu Hause nur noch, wenn eine ausgebildete Lehrkraft die Verantwortung trägt. Die Familie Lanz erfüllt dieses Kriterium nicht. Sie prozessiert gegen den Kanton, der die Kinder zum Schulbesuch zwingen will. «Unsere Freiheit wird grundlos beschnitten», sagt Benjamin Lanz. «Es besteht kein öffentliches Interesse, die Bildung zu Hause zu verbieten.» Einschreiten soll der Staat nur, wenn in einer Familie ein Missbrauch vorliege. «Ich missioniere nicht, ich verlange Toleranz.»
Eine legale Lösung suchten die Botts. Die Zürcher Familie zog vor drei Jahren nach Herisau, um Priska, 15, Judith, 13, und Manuel, 8, zu Hause zu unterrichten. Mutter Regula, 44, hat die Matura, aber kein Lehrerpatent. Als Chemielehrer dürfte ihr Mann in Zürich zwar daheim lehren, aber die Familie ist auf sein Einkommen angewiesen.
Sie stellte in Appenzell Ausserrhoden ein Gesuch, und sie begründete es mit den individuellen Betreuungsmöglichkeiten der Kinder. Die traditionell freiheitlich gesinnten Appenzeller erteilten eine Bewilligung.
Am Stadtrand von Herisau fanden sie ein altes Haus, das einst Arbeiter einer heute stillgelegten Stofffabrik bewohnten. Die Stube dient als Schulzimmer. Am Fenster stehen Pulte. Farbige Leitz-Ordner, der Duden und ein Lexikon stapeln sich auf dem Ikea-Gestell. Ein Kachelofen wärmt den Raum.
Anfänglich schrieb die Familie alles auf, erstellte Stundenpläne für jeden Tag. Nun gibt es nur noch einen Wochenplan. Täglich entscheiden sie neu, was sie lernen wollen. Morgens halten sie Unterricht ab, nachmittags lernen sie selbständig. Hat eines ihrer Kinder mit dem Stoff Mühe, setzt sich die Mutter länger hin, erklärt, nimmt sich Zeit.
An der öffentlichen Schule kam Judith nur langsam vom Fleck. Seit sie zu Hause lernt, hat sie keine schulischen Probleme mehr. «Ich kann immer jemanden fragen, und ich lerne in meinem Tempo.»
Sie mag Hausunterricht, «weil ich rascher mehr lerne». Zwei bis drei Stunden täglich sitzt sie konzentriert am Tisch, sechs müsste sie die staatliche Schulbank drücken. Fehlt die Lust zum Lernen, bleiben die Bücher geschlossen. Dann gehen die Geschwister raus, spielen mit dem Hund, erleben die Natur.
Priska lernt am Computer französische Vokabeln. «Wenn ich nichts verstehe, frage ich das Mami.» «Mami, ich bin fertig», ruft Manuel. Er hat gerechnet. Mami überprüft.
Sie mache es gerne, sagt Regula Bott. «Wissensvermittlung liegt mir, es ist eine Investition in die Kinder.» Viel mehr Aufwand als Mütter schulpflichtiger Kinder habe sie nicht. Die helfen bei den Hausaufgaben, trösten Kinder, die weinend von der Schule kommen, gehen an Elternabende, backen Kuchen fürs Schulfest. «Das fällt bei mir alles weg.»
Fremdbetreuung macht sie verantwortlich für viele gesellschaftliche Probleme. «Kinder brauchen starke Bezugspersonen, das lässt sich nicht delegieren an Menschen, die sie kaum kennen», sagt Bott. «Erziehung ist eine schwierige Aufgabe.» Sind die Kinder tagsüber in der Schule, bleibt dafür nicht genügend Zeit. «Bei mir verteilt sich die Arbeit auf den ganzen Tag.»
Ob sie morgens Kleider anziehe, fragen neue Freunde jeweils Priska. «Die meisten finden mich anfänglich komisch, später sagen sie: ‹Megacool, du musst nicht zur Schule.›»
Ihre berufliche Zukunft beginnt sich abzuzeichnen. Problemlos fand sie eine Lehrstelle als Landwirtin. «Den Bauern war es egal, wo ich mein Wissen erwarb», sagt sie. «Hauptsache, ich kann chrampfe.»
Vierzig Prozent der Schweizer Homeschooler besuchen eine Mittel- oder eine Fachhochschule. Fast alle sind in Vereinen, politischen Parteien, kulturellen Körperschaften. Ein Drittel schneidet bei nationalen Tests mit Topnoten ab.
Die Resultate beruhen auf einer Umfrage, die der Verein Bildung zu Hause bei Schweizer Homeschoolern durchführte. US-Studien stützen die Befunde. Erwachsene Amerikaner, die zu Hause lernten, lesen öfter, schauen weniger fern, beteiligen sich aktiver am politischen und gesellschaftlichen Leben. Ermittelt hat es der Soziologe Brian Ray von der Oregon State University. «Kinder, die zu Hause lernen», sagt Ray, «haben weniger soziale, psychische und emotionale Probleme.»
Da ist etwa Leo, 11. Der Berner Bub besuchte die erste Klasse und ein halbes Jahr der zweiten. Oft war er krank, fühlte sich von den Lehrerinnen missverstanden. Gewalttätig erschien ihm der Pausenplatz. «Die anderen wollten immer kämpfen, ich bin kein Schlägertyp.» Er wollte nicht mitmachen, als Mitschüler ein Mädchen fesselten und es mit Stöcken schlugen. Die Eltern nahmen ihn aus der Schule, zogen ins Emmental, unterrichten ihn daheim.
Das Klassenzimmer richteten sie in einem Emmentaler Stöckli ein, begannen, wie Mutter Pia Muheim sagt, «die normale Schule zu imitieren». «Das», so die 47-jährige Kostümbildnerin, «ist totaler Blödsinn.» Heute würden sie den Unterricht «ungezwungen und frei» gestalten. Leo, in dessen Regalen Hunderte von Büchern stehen, lerne, wann er wolle, was er wolle. Und das macht ihm Spass. Längst ist er wieder gesund. «Wenn ich das lerne, was mich interessiert, dann lerne ich es wirklich.»
Am bestem gefällt ihm Geschichte. Entdeckt er ein neues Thema – heute ist es die spanische Armada – bestellt die Mutter online ein Buch, oft noch einen Dokumentarfilm. Dann beschäftigt er sich wochenlang mit demselben Stoff.
Er kümmert sich daneben um den Hund, übt mit dem Musiklehrer Klarinette, lernt am Computer Englisch. Geplant ist ein Aufenthalt in Frankreich, «damit er Französisch wirklich sprechen kann», sagt die Mutter. Ständig liest und schreibt er. «Ungeliebte Sachen», so die Mutter, paukt er beim Autofahren. Etwa das Einstudieren der Zahlenreihen.
Jeden zweiten Mittwoch fährt ihn die Mutter in den Tierpark Dählhölzli nach Bern, wo er sich zum Kinder-Tierpfleger ausbilden lässt, Tiere putzt, und sie füttert.
Vater Alexander Muheim, 57, ist Schauspieler und Regisseur. Er gibt Leo kleine Rollen in Theaterstücken, die er in psychiatrischen Kliniken aufführt. Berührungsängste, wie er sie in der Schule hatte, kennt Leo nicht mehr.
Der Junge kam in Köln zur Welt. Vier Jahre lang lebte er in Deutschland. Bereits bei der Geburt war der Mutter klar, dass sie ihren Sohn zu Hause unterrichten würde. Sie selbst wollte bestimmen, ob er seine Zähne mit Fluor putzt, welche Impfungen er kriegt, welchen Lehrinhalten er sich aussetzt. Da Deutschland dies nicht erlaubt, zog die Familie in die Schweiz.
Was Leo werden will, weiss er ebenfalls – Pilot, und zwar bei der Rettungsflugwacht. «Wenn ich mit dem Fliegen schon die Luft verpeste, dann wenigstens um Leben zu retten.» Wenn das nicht klappe, wolle er zum Film oder zum Theater.
Er sei glücklich. «In eine Schule bringen mich keine zehn Elefanten mehr.»