Von Peter Hossli
Foto: Gilles Peress
Die Klingel ist defekt, ein handgeschriebener Zettel verlangt, ans Fenster zu klopfen. Prompt geht die Türe auf, zwei neugierige und wache Augen gucken heraus, dazu ein weissgrauer Lockenkopf. «Welcome», sagt Gilles Peress, die weiche Stimme belegt mit französischem Akzent. Er führt in den Garten, zündet eine Zigarette an, schlürft an einem Kaffee im Pappbecher, wirkt entspannt. «Das Paradies liegt hier in Brooklyn», sagt Peress, der im New Yorker Stadtteil mit seiner Familie ein schmuckes Backsteinhaus bewohnt. «Da aber das Chaos in meinem Kopf grösser ist als das äussere Chaos, schätze ich das Paradies viel zu wenig.» Deshalb auch zieht es den Fotografen seit 30 Jahren an extreme Orte. Dorthin, wo Kriege toben und Menschen anderen Menschen Unmenschliches antun. «Ich bin friedlicher, wenn das äussere Chaos grösser ist als das innere», sagt er. «Dann zählt nur noch das wirklich Wichtige.»
Chaos hat der 1946 in Frankreich geborene Fotograf öfter gesehen. Nach dem Pariser Frühling dokumentierte er einen langen Streik in einer Kohlengrube, danach die religiöse Zwietracht in Nordirland. Ende der Siebzigerjahre erlebte er hautnah die iranische Revolution. Später wich er in Sarajevo Scharfschützen aus. Aufwühlend dokumentarisch fotografierte er die Massengräber von Srebrenica und Vukovar, erschütternd den Genozid in Ruanda. Am 11. September hielt er an der Südspitze von Manhattan fest, wie der Krieg in seine Stadt gekommen war. Bald darauf fotografierte er ihn in Afghanistan und im Irak, als «eine Fortsetzung der Geschichte», wie er diesen und alle anderen Konflikte beschreibt.
Einen klaren Unterschied zwischen Krieg und Frieden gebe es ohnehin nicht. «Krieg ist nie total Krieg, genau wie Friede nie total Friede ist», erklärt Peress. Die Aussage unterlegt er mit einer Anekdote. Er besuchte 1982 während der Belagerung von Beirut im Spital einen von israelischem Phosphor verbrannten Libanesen. Durchs Fenster hörte er rhythmische «Bap bap bap bap»-Töne. Er schaute raus – und sah ein Paar Tennis spielen.
Just zündet er eine zweite Zigarette an. Zärtlich bedankt er sich bei seiner Frau für den Kaffee, den sie ihm gerade gebracht hat. Er erzählt von den Kindern, die er über alles liebe, vom Grund, warum er in den Siebzigerjahren nach New York kam: «Um der französischen Mittelmässigkeit zu entfliehen». Zur selben Zeit trat er der legendären Agentur Magnum bei, die jahrelang die Kriegsfotografie prägte.
Peress selbst sieht sich nicht als Kriegsfotograf. Der Journalismus ist für ihn einzig ein taugliches Mittel, um längere Prozesse auszulösen. Ein Künstler sei er ebenfalls nicht, obwohl seine Bilder gesammelt und von angesehenen Museen weltweit ausgestellt werden. «Ich mag Etiketten nicht», sagt Peress und erklärt, warum: «Interessante Arbeit passiert im Niemandsland zwischen Journalismus, Kunst und Film. Meine Arbeit darf sich zudem nie um mich oder meine Person drehen, ich nehme mich nicht sehr ernst.» Würden andere Fotografen mit vorgefertigten Heldenepen in ihren Köpfen in Konfliktzonen ziehen, fokussiere er einzig auf die zivilen Opfer. «Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren 90 Prozent der Kriegsopfer Soldaten, 10 Prozent Zivilisten, heute ist das Verhältnis umgekehrt», sagt Peress, der genau das in Fotos, Büchern und mit Ausstellungen zeigen will. «Diese Tatsache zu verneinen, halte ich für moralisch verwerflich.»
Er redet freundlich, fast freundschaftlich, zuweilen blitzt Charme auf, dann Humor. «Ich bin ein Franzose, obwohl an mir nichts französisch ist», sagt er. Sein Grossvater war ein jüdischer Georgier, geprägt von der Sowjetunion, seine Mutter entstammte einer orthodox christlichen Familie aus dem Nahen Osten. Er wuchs in Paris auf, studierte Philosophie und Politikwissenschaft. Wohl deshalb mag er einfache Erklärungen oder schnelle Schlüsse nicht. «Ich muss begreifen», sagt er auf die Frage, warum er mit dem Fotoapparat in Kriegszonen zieht. Weder vertraut er den Worten der Medien noch denen der Regierungen. «Ich muss hingehen und für mich selber sehen.»
Vor allem dann, wenn sich zwischen dem offiziell Gesagten und den grauenhaften Gegebenheiten ein grosser Graben auftut. Nicht mehr hinhören konnte er 1994, als Juristen der Uno sich mit Paragrafen in den Händen stritten, ob die Massaker in Ruanda nun «Akte eines Genozids» oder «echte Genozide» seien. Die lähmende Tatenlosigkeit der europäischen Diplomatie trieb ihn nach Bosnien und Kroatien. «Ich reflektiere Geschichte, weil wir sie nicht ignorieren können, sie wird uns immer einholen», sagt er. Was er durch die Linse sieht, wird oft zum Beweisstück. Seine beklemmenden Bilder der Massengräber auf dem Balkan dienten als visuelle Argumente, um die Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag voranzutreiben.
Ein Haudegen ist Peress nicht. Akribisch nimmt er Risikoanalysen vor. «Eine sorgfältige Prüfung aller Umstände senkt das prozentuale Risiko», sagt Peress, der sich als «Mensch mit niedriger Risikobereitschaft» bezeichnet. Wenn nötig, trägt er eine kugelsichere Weste. Es reist tagsüber, weil Fahrten bei Nacht gefährlicher seien. Er zieht den gepanzerten Wagen herkömmlichen Autos vor. Genau prüft er, wem er vertrauen kann, wo die Front liegt, wer welche Interessen verfolgt. Hat er jede erdenkliche Gefahr ausgeschlossen, lässt er sich gehen. «Dann bin ich in den Händen Gottes und betrete eine andere spirituelle und mentale Sphäre.» Fotografieren könne er nur so, völlig befreit.
Adrenalin fliesse dabei auch, gesteht er. «Ich weiss, dass Adrenalin süchtig macht, wie jedes Suchtmittel ist es mit höchster Vorsicht zu behandeln.» Es dämpfe die Urteilsfähigkeit und verändere den Lebensstil. Kriegsfotografen, die sich hauptsächlich davon treiben und berauschen liessen, verlören rasch den Fokus und vergässen, warum sie fotografieren. In den ersten Kriegstagen würden die unvorsichtigen Adrenalin-Junkies und die Jungen und Unerfahrenen stets zuerst sterben. «Kriegsfotografie ist ein ernsthaftes Unterfangen», sagt Peress, «es darf dabei nie um dich gehen, sondern nur um Dinge, die wichtiger sind als du.» Sich und seiner Arbeit verlangt Peress selbst sieht sich nicht Kriegsfotograf, aber auch nicht als Künstler – obwohl seine Bilder gesammelt und von angesehenen Museen weltweit ausgestellt werden. er genau das ab – eine hehre Absicht, die einen würdevollen Prozess vorantreibt. Der Frage, was in ihm vorgeht, wenn er Gräuel und Schandtaten sieht, weicht er aus. Sie ist ihm zu persönlich. Nie verdrängt er aber, welchen Situationen er sich aussetzt. «Zuweilen untergräbt die Arbeit meine Ehrfurcht vor der Menschheit.» Nochmals zündet er eine Zigarette an. Er wuchs im Glauben auf, alle Menschen seien per se gut. Selbst die vorübergehend schlechten könne man rasch auf die richtige Bahn bringen. Ruanda trübte diese Sichtweise. 800 000 Menschen waren in einem Monat von anderen Menschen mit Messern umgebracht worden. Damals begann Peress zu glauben, 90 Prozent der Menschen seien bösartig. «Gerettet haben mich die 10 Prozent, die Gutes und Schönes tun», sagt er. «Ohne sie wäre ich in eine tiefe Depression gesunken.»
Und ohne die Arbeit, mit der er seine Erlebnisse verarbeitet, ihnen eine Form gibt, wie er sagt. «The Silence» nannte er das Buch über Ruanda – die Stille. Ein Titel, der die Stille nach dem MachetenMassaker zwischen den Hutus und den Tutsis ausdrückt, dazu das Schweigen der Weltöffentlichkeit sowie die tiefe Stille, die sich während der Verarbeitung der Bilder in ihm ausbreitete. «Als ich durch Ruanda reiste, war nichts mehr zu hören, alle Menschen waren tot, alle Tiere, alles.»
Peress hat Fotos gemacht von jungen Nordiren, die Molotowcocktails auf gepanzerte Fahrzeuge werfen; andere, die verrottende Leichen zeigen oder jämmerliche Flüchtlingsströme. Er fotografierte Feuerwehrleute, die im Staub des World Trade Centers erfolglos nach Überlebenden suchen. Bewusst ist ihm die komplizierte Beziehung zu den leidenden Menschen, die er mitreissend ablichtet. «Wichtige Arbeit entsteht am Scheideweg zwischen innerer und äusserer Welt», beschreibt Peress eloquent das ungeheure Dilemma der Kriegsfotografen, die vom Schrecken profitieren. «Ich muss immer zuerst genau wissen, wo die Schnittstelle zwischen realer und fiktionaler Wahrnehmung liegt, was in meinem Kopf passiert und was ich sehe, dann kann ich auf beiden Seiten der Kamera stehen.» Möglich sei das mit einer ehrlichen Absicht innerhalb einer authentischen Situation. Das erst setze einen aufrichtigen Prozess in Gang.
Meist fotografiert Peress schwarzweiss, zuweilen unterliegt seinen Bildern eine urtümliche Schönheit. Doch darf Elend ästhetisiert, Grauen in schöner Form dargestellt werden? Ein Konflikt, der viele Kriegsfotografen zermürbt. «Im Vergleich zu anderen sind meine Fotos weniger schön», betont Peress. «Sie sind diffuser und legen das Chaos einer Situation offen.» Zumindest trifft er oft exakt die Schnittstelle zwischen Ordnung und Tumult, zwischen Ruhe und Aufruhr. «Erkennt jemand in den Fotos eine Spur Schönheit, liegt das am Paradox zwischen Leben und Tod, am Paradox der Geschichte und nicht an mir.»
Den dialektischen Wettstreit zwischen Form und Inhalt hält er aber für enorm wichtig. Nur wenn der Zwist zwischen starker Form und starkem Inhalt real sei, könne ein Bild, ein Buch, eine Installation in einem Museum wirklich anregen. Klar, am Schluss gewinne der Inhalt stets den Wettstreit. «Es ist aber armselig, wenn aus Gründen politischer Korrektheit der Inhalt die Form stets überragt und das, was an der Wand hängt, nichts bedeutet und fad ist.» Partout lehnt Peress die postmoderne Kritik ab, wonach eine adäquate Abbildung der Realität nicht möglich sei. Dass jedes Bild einen Konflikt verzerre, statt ihn näherzubringen. Dass es daher unmoralisch sei, in Kriegen überhaupt zu fotografieren. «Das sind reaktionäre Theorien, erdacht von Leuten im akademischen Elfenbeinturm», sagt Peress. «Wenn eine adäquate Abbildung der Realität nicht möglich ist, gibt es keinen Grund, in die Welt hinauszugehen, wie zum Teufel soll man die Welt verändern, wenn man ihr fernbleibt? Die Alternative wäre, nichts zu tun, zu schweigen, daheimzubleiben», sagt Peress. «Die Folgen davon wären für mich total schrecklich, die Komplizenschaft mit dem Bösen unerträglich.»
Dann hat er das Gefühl, seine Fotos würden etwas bewirken, könnten die Welt verändern? Peress ist zu gescheit, um diese Frage einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. «Ich bin ein geduldiger Mensch», sagt er. Zuwider sind ihm Quartalsergebnisse oder der stete Drang zur sofortigen Befriedigung. Eine Sache allein könne weder die Welt noch die Wahrnehmung der Welt umkrempeln. «Es ist die Anhäufung vieler kleiner Tipping Points, die uns verändert», sagt Peress. «Herausragende Errungenschaften benötigen viel Zeit und werden nie von einer, sondern mehreren Personen realisiert.» Er selbst partizipiere «demütig» am Lauf der Geschichte. «Bei allem, was man anstrebt, muss man akzeptieren, dass man es vielleicht bis ans Lebensende nicht erreichen kann.»