Warum Bush und Kerry stets nach Ohio fahren

Fällt die Entscheidung in Ohio? Die «Swing states» sind im geteilten Amerika so wichtig wie noch nie. Ohio ist der wichtigste der Wechselstaaten und wird von den Kandidaten heftig umworben. Dutzende von Instituten publizieren in den USA fast täglich neue nationale Meinungsumfragen zu den Präsidentschaftswahlen. Sie sind nebensächlich. Wir zeigen, was die Wahl wirklich entscheiden wird.

Von Peter Hossli

Glaubt man den nationalen Umfragen, lag Herausforderer John Kerry vor dem ersten Fernsehduell zwölf Punkte hinter Präsident George W. Bush. Dann kam die erste Debatte – und die beiden waren wieder dort, wo es am spannendsten ist: gleichauf. Mit der Realität hat solches Auf und Ab wenig zu tun, denn für das Endresultat sind nationale Umfragen zweitrangig.

Nicht wer am meisten Wählerstimmen kriegt, wird US-Präsident. Das politische Kräfteverhältnis Amerikas hat sich so entwickelt, dass die viel zitierte «50:50-Nation» entstanden ist. Republikaner und Demokraten sind gesamthaft ungefähr gleich stark. Deshalb hat der Wahlausgang in wenigen und teils kleinen Gliedstaaten enorme Bedeutung erhalten. Sie profitieren von den so genannten «checks and balances», die die Gründerväter der USA in die Verfassung aufgenommen haben. Damit werden die Interessen von Minderheiten geschützt.

Das sind die Kategorien, die bei der US-Wahl den Ausschlag geben:

Die Wahlmänner
Nicht das Volk, Wahlmänner küren den Präsidenten. Jeder der 50 Gliedstaaten erhält auf Grund der Einwohnerzahl eine feste Anzahl Elektoren. Gewinnt ein Kandidat in einem Staat, erhält er dessen sämtliche Wahlmänner. Vor vier Jahren holte Al Gore eine halbe Million mehr Stimmen als George W. Bush. Da Bush am Schluss Florida gewann, stand er mit 271 Elektoren da, Gore hatte 267. Um Präsident zu werden, braucht es 270.
· Will Kerry ins Weisse Haus einziehen, muss er alle Gore-Staaten erneut gewinnen. Ausserdem muss er in mindestens einem Bush-Staat mehr Stimmen machen als der Präsident.

«Swing states»
So nennt man die Staaten, in denen keine Partei vorherrschend ist und der Sieger häufig wechselt. Kalifornien wird mit Sicherheit demokratisch wählen, Texas umgekehrt ebenso sicher republikanisch. Die «swing states» haben einen überproportionalen Einfluss erhalten. Vor vier Jahren hat Florida bekanntlich die Wahl entschieden. Heuer könnte sich dieses Phänomen wiederholen, beispielsweise in Ohio. Kein republikanischer Präsidentschaftskandidat zog ins Weisse Haus ein, ohne Ohio zu gewinnen.
Kerry wird Präsident, wenn er sämtliche knappen Gore-Staaten holt, plus zusätzlich einen der knappen Bush-Staaten, wobei New Hampshire nicht genügend Wahlmänner aufweist. In Arkansas und Tennessee hat Bush mehr Christen als vor vier Jahren mobilisiert. Dort ist ein Kerry-Sieg auszuschliessen. Florida ist in den letzten vier Jahren konservativer geworden. Zudem kontrolliert dort Bushs beliebter Bruder Jeb als Gouverneur noch immer die politischen Instanzen. Ein Kerry-Sieg wäre eine Überraschung.
Bleibt Ohio. Beide Kandidaten haben den Staat auf ihrer Wahlkampftour nahezu dreissig Mal besucht. Sie sprechen meist über die Wirtschaft. Nirgendwo sonst ist Amerika stärker von Outsourcing betroffen: Ein Sechstel der industriellen Arbeitsplätze ging verloren, seit Bush im Amt ist.
· Gelingt es Kerry in Ohio, Bush und dessen Steuerpolitik die Schuld zuzuschieben, wird er Präsident.

Wahlbeteiligung
Eine Meldung der vergangenen Woche musste dem Bush-Team einen Schrecken eingejagt haben. Die «New York Times» berichtete, in Staaten wie Pennsylvania, Ohio, Nevada oder Florida hätten sich so viele Neuwähler wie nie zuvor für die Wahl registrieren lassen. Da es in den meisten Staaten so knapp wird wie vor vier Jahren, ist die Wahlbeteiligung ausschlaggebend.
· Es wird um jede Stimme gekämpft. Junge und neue Wähler wählen mehrheitlich demokratisch. Im Vorteil: Kerry.

Junge Wähler
Nur ein Viertel der 18- bis 25-jährigen Amerikaner wählt. Deshalb touren Rockstars wie Bruce Springsteen, R.E.M oder John Mellencamp derzeit durchs Land und mobilisieren die Jugend. Filmemacher Michael Moore zieht von Universität zu Universität und erklärt den Studenten, dass ihre Stimme etwas bewirken könne. Im Internet zirkulieren E-Mails, in denen behauptet wird, Bush wolle die Militärpflicht wieder einführen. Der Präsident bestreitet dies. Fürchten Jugendliche, in den Krieg gehen zu müssen, gehen sie bestimmt eher zur Wahl.
· Junge wählen mehrheitlich demokratisch. Im Vorteil: Kerry.

Die Schwarzen
Die Wahl 2000 war ein tristes Kapitel für die US-Bürgerrechte. Tausende von Schwarzen wurden damals an der Wahl gehindert. Schlägertruppen schüchterten sie ein, Beamte strichen sie von den Wahllisten. Seit Monaten häufen sich Berichte, wonach republikanische Politiker in Florida, Michigan und Ohio bereits wieder ähnliche Taktiken versuchen. Das führt bei einigen zur Apathie, ermutigt jedoch andere, sich besser zu organisieren. Swing States melden neue Rekorde bei Wahlanmeldungen von Schwarzen. In allen fünfzig Staaten steht zudem ein Heer von Anwälten bereit, die bei Einschüchterungen sofort eingreifen. Über neunzig Prozent der Schwarzen wählen demokratisch.
· Schaffen es mehr Schwarze als vor vier Jahren an die Urne, liegt der Vorteil bei Kerry.

Hispanics
Kein Bevölkerungssegment der USA wächst rascher als die Latinos. Gemäss Umfragen wählen sie im Verhältnis zwei zu eins demokratisch. Bushs Vorgänger Bill Clinton gewann 1996 sogar 72 Prozent der Stimmen der Spanisch sprechenden US-Bevölkerung. Allerdings leben viele Latinos im Süden oder in südwestlichen Staaten. Ihre Stimme wird von der republikanischen Mehrheit neutralisiert. Die kubanischen Immigranten in Florida hingegen wählen mehrheitlich republikanisch.
· Gehen sie in Scharen an die Urnen, liegt der Latino-Vorteil bei Bush.

Ralph Nader
Eine Chance aufs Präsidentenamt hat der Konsumentenschützer Nader nicht. Der Kandidat könnte allerdings die Wahl entscheiden. Vor vier Jahren bekam Nader in Florida 97 000 Stimmen. Am Ende lag Bush 537 Stimmen vor Gore. Ohne Nader hätte Gore die Wahl klar gewonnen.
· Nun droht der unabhängige Kandidat erneut demokratische Stimmen auf sich zu vereinen. Es gibt Gerüchte, Nader ziehe seine Kandidatur im letzten Moment zurück. Im Vorteil: Bush.

Die Christen
Wer häufig zur Kirche geht, der wählt republikanisch. Fundamentale Christen sind Bushs Basis. Im Jahr 2000 gingen jedoch nicht wie kalkuliert 19 Millionen, sondern nur 15 Millionen fanatische Gläubige an die Urne. Sie misstrauten dem Texaner. Ihrer Meinung nach trat er zu wenig resolut gegen Abtreibung und homosexuelle Ehe auf. In Folge dieser christlichen Wahlabstinenz gewann Bush im Jahr 2000 etliche Staaten nur ganz knapp, etwa Arkansas, Tennessee oder West Virginia. Deshalb hat Bush in den letzten vier Jahren nichts unterlassen, um seine Reden mit christlichen Anspielungen zu spicken oder den Verfassungszusatz gegen die Homo-Ehe zu lancieren.
· Gehen die Christen auch in den Staaten Florida und Ohio in Scharen zur Wahl, hat Kerry keine Chancen. Im Vorteil: Bush.

Clinton-Faktor
Hätte Bill Clinton Monica Lewinsky nicht angerührt, wäre jetzt Al Gore Präsident. Wegen der Sexaffäre verzichtete der Vizepräsident vor vier Jahren darauf, Clinton in den Wahlkampf einzubinden – ein krasser Fehler. Kein US-Politiker ist ein besserer Wahlkämpfer und kann die Basis besser mobilisieren als Clinton. Kerry weiss das. Er bat deshalb Bill Clinton früh um Hilfe. Der Expräsident bot Hand – bis er unters Messer musste und am Herz operiert wurde. Er rief Kerry noch vom Spitalbett aus an und gab ihm Debattentipps.
· Derzeit erholt sich Clinton zu Hause, wobei der demokratische Parteichef ihn bereits drängt, in die Schlussphase der Wahl einzugreifen. Lässt Gattin Hillary das zu, beschert sie Kerry einen Vorteil.

«October-Surprise»
Passiert in den letzten drei Wochen vor den Wahlen noch etwas Unvorhergesehenes, kann die Wahl im letzten Moment noch kippen. Die «October Surprise» war eine, die nie kam: 1980 soll Ronald Reagan die Entlassung der US-Geiseln im Iran verhindert haben. Jimmy Carter wurde abgewählt. Eine weitere Eskalation in Irak würde Kerry helfen, ebenso ein Terroranschlag in den USA. Kerry würde profitieren, wenn ein hohes Mitglied der Bush-Regierung, etwa Colin Powell, den Irak-Krieg offen als Fehler bezeichnete.
· Was die Demokraten fürchten und die Republikaner sehnlich wünschen: die Inhaftierung von Terrorfürst Osama bin Laden. Dann wäre die Wahl gelaufen – zu Gunsten von Bush.