Von Peter Hossli
Zweieinhalb Millionen Menschen leben in Brooklyn. Sie spüren wenig vom Wahlkampf. Kandidaten halten hier keine Reden. Das Fernsehen zeigt keine politischen TV-Spots. Beides wäre Zeit- und Geldverschwendung, denn hier wählen weit über 90 Prozent demokratisch.
Dennoch schalten sich viele Brooklynites in die Präsidentschaftswahl ein – sie reisen in den so genannten «Rostgürtel» oder den Mittleren Westen. Plakate in Brooklyns Buchläden, Bars und Bibliotheken werben für Wahlkampftrips: «Helft Bush zu schlagen, mobilisiert Wähler.» Busse und Privatautos karren Freiwillige nach Pennsylvania, Ohio oder Michigan. Wie fremde Söldner verstärken sie in den umkämpften Wackelstaaten die einheimischen Armeen, die um jede Stimme kämpfen. Dieser «ground war», so die militärische Sprache der letzten drei Wochen vor dem 2. November, entscheidet eine knappe Wahl. 48 Prozent wählen republikanisch, 48 Prozent demokratisch, ein Prozent wählt unabhängig. Die Wahlmaschinerien beider grossen Parteien umgarnen bloss drei Prozent Unentschlossene, für die sie bis zur Wahl 250 Millionen Dollar ausgeben, meistens für mies machende TV-Spots – und für den «ground war».
Moderne Technologie prallt auf bewährte Methoden. Überredungskünstler aus dem Kerry-Lager wollen an eine Million Türen klopfen und Unentschiedene in Einzelgesprächen von ihrem Kandidaten überzeugen. Das Bush-Team mobilisiert die Wahlmüden in den letzten 72 Stunden. Deren Adressen fischen die Wahlkampfstrategen aus komplexen und teuren Datenbanken, in denen sämtliche US-Bezirke nach Wahlverhalten aufgeführt sind.
Die Kandidaten greifen in jeder freien Minute zum Telefon
Aus digitalen Karteien holen sie zusätzlich Telefonnummern potenziell Unentschlossener. Die Freiwilligen rufen sie an, oder die Kandidaten greifen selbst zum Hörer. Jede freie Minute bis zur Wahl werden Bush und Kerry zum persönlichen Telefongespräch nutzen. Zudem lassen sie aufgezeichnete Botschaften von Anrufcomputern übermitteln. Millionen von E-Mails mit besonderen Inhalten erreichen spezifische Wählergruppen, etwa Waffen- und Autorennenfans, Katholiken, Hausfrauen oder Senioren.
Die Fernsehdebatten zwischen Kerry und Bush haben den «ground war» wesentlich vorbereitet. Den TV-Duellen fällt die Aufgabe zu, die Moral der Truppen zu stärken. Kerry gilt diesbezüglich als klarer Sieger. Seine zuweilen umständlichen Antworten haben nicht allzu viele zusätzliche Wähler umstimmen können, aber seine Siegerposen haben die Basis ermutigt und zum unermüdlichen Einsatz an den Haustüren beflügelt. Da Kerry seinen Rückstand bei den Meinungsumfragen wettmachen konnte, dürften sich überdies wahlfaule Demokraten zum Urnengang bewegen lassen.
Dem Präsidenten widerfuhr das Gegenteil. Er stolperte beim TV-Auftritt und war überraschend schwach. Viele Stimmen hat ihn das zwar nicht gekostet, aber das Bush-Lager ist erstmals mit Zweifeln behaftet – eine ungünstige Voraussetzung für die Schlussphase.
Es sind nicht nur die beiden grossen Parteien, die ihre Wähler mobilisieren. Mehr unabhängige Organisationen als je zuvor mischen dieses Mal mit. Die Betreiberinnen von Votergasm.org liessen sich gar von Aristophanes’ Komödie «Lysistrata» inspirieren. Sie schwören online, wählenden Ehemännern in der Wahlnacht gratis Sex anzubieten. Wahlabstinenzlern hingegen wollen sie sich vier Jahre lang verweigern.