Von Peter Hossli
Jeden Mittwoch um 10 Uhr trifft sich Amerikas konservative Elite in Washington. Gastgeber: Grover Norquist, einflussreicher Berater von Präsident George W. Bush. Unlängst stand einer der 150 Gäste auf und fluchte: «Das ist eine Schweinerei!» Der knapp 30-Jährige wedelte dazu mit einem dicken Heft, dem Hochglanzmagazin der US-Kleiderfirma Abercrombie & Fitch. Wer darin blätterte, sah Jugendliche in lasziven Posen. Die Runde beschloss einhellig, diese «Kinderpornografie» zu stoppen.
Wenig später gab Abercrombie & Fitch dem Druck nach, den sozial konservative Gruppen nach dem Norquist-Treffen landesweit orchestriert hatten: Das Magazin wurde eingestellt. Seither häufen sich in den USA Angriffe auf alles vermeintlich Anzügliche. Offen fordern konservative Meinungsmacher Zensur. Fernsehsender und Radiostationen schränken sich selber ein. Lange Zeit geduldete kontroverse Stimmen, etwa der schamlos freche Radiomann Howard Stern, werden aus dem Äther verbannt. Zudem verabschiedet das Parlament deftige Bussen gegen die Frevler.
Liberale Wortführer reagieren mit Entsetzen. Salman Rushdie, Präsident des Schriftstellerverbands Pen America, wähnt die «Redefreiheit in Gefahr». Vom «hysterischsten Ausbruch des Puritanismus in der amerikanischen Geschichte», schrieb Autor Frank Rich in der «New York Times». Bissig witzelte Komiker Robin Williams: «Die Iraker versuchen, eine Verfassung zu schreiben. Warum bloss? Sie können un- sere haben, wir wenden sie nicht an.»
Mitten im Wahljahr tobt in Amerika ein politisch motivierter Kulturkampf, der an die Sechzigerjahre erinnert und das Land spaltet – in rechts und links, konservativ und progressiv, in das säkular aufgeschlossene Amerika an den Küsten und das religiös rückständige im Landesinnern. Der Superbowl – das Endspiel der Football-Meis-terschaft – brachte es Ende Januar am deutlichsten zu Tage. In der Pausen-Show sahen etwa hundert Millionen TV-Zuschauer während knapp einer Sekunde den rechten Busen von Sängerin Janet Jackson entblösst. Moralhüter witterten den Untergang des Abendlandes. Die Oscar- und Grammy-Verleihungen wurden danach nicht mehr direkt, sondern um Sekunden zeitverschoben ausgestrahlt. Ebenfalls passé ist seither Live-Sport. Die Fernsehsender tun das freiwillig, seit der Chef der Federal Commu- nication Commission, Michael Powell, ein «hartes Vorgehen» gegen «alles Unanstän-dige» angekündigt hat und den Superbowl-Vorfall strafrechtlich untersuchen lässt.
Mitte März beschloss dann das US-Repräsentantenhaus, die Bussen für «unanständige Inhalte» in elektronischen Medien von 27 000 auf mindestens 500 000 Dollar zu erhöhen. Die Höchststrafe liegt neu bei drei Millionen Dollar. Belangt werden sowohl Interpreten als auch Sendeanstalten.
Die Regierung Bush rüstete weiter gegen vermeintlichen Schmutz auf. Das Justizdepartment hat eigens ein FBI-Team gegen Obszönitäten in den Medien eingesetzt. Im Budget 2005 plant der Präsident dafür trotz astronomisch hohem Defizit weitere Steuergelder ein. Bush gehe resoluter gegen schlüpfrige Unterhalter als gegen Terroristen vor, wird ihm vorgeworfen. So hätte es nicht einmal zwei Wochen gedauert, bis eine parlamentarische Kommission den Superbowl-Vorfall untersuchte. Weit länger ging es, bis eine Behörde begann, die 9/11-Tragödie zu analysieren: 14 Monate.
Enthaltsamkeit gepredigt
Die Medien sind längst nicht das einzige Ziel der Anti-Dekadenz-Kampagne. Der Kulturkampf wird auf breiter Front ausge- tragen. Nicht der Gebrauch von Kondomen soll im Sexualunterricht an den Schulen gelehrt werden, sondern Enthaltsamkeit, verlangte Bush in seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation. Er wies den Justiz- minister an, Spitäler zu belangen, die gewisse – legale – Abtreibungen vorgenommen hatten. Christliche Gruppen drängen im Süden darauf, die Zehn Gebote in allen Gerichten anzuschlagen, trotz der in der Verfassung festgeschriebenen Trennung von Kirche und Staat.
Bisheriger Höhepunkt ist das Gezänk um die Homosexuellen-Ehen. Während sich in San Francisco bereits über dreitausend Schwule und Lesben das Jawort gegeben haben, verlangte Bush vom Parlament, die Ehe als Bündnis zwischen Mann und Frau in der Verfassung zu zementieren. Erstmals in der jüngeren Geschichte Amerikas gedenkt ein Präsident, die Rechte Homosexueller einzuschränken. Da steckt politisches Kalkül dahinter: Die Wertediskussion, hofft Bush, bringt im Herbst jene christlichen Kon- servativen an die Urne, die 2000 noch fernblieben. Sie trauten dem Texaner damals nicht. Zu wenig resolut hatte er sich gegen Schwule und gegen Abtreibung ausge- sprochen.
Wenn er nun das Banner der Moralhüter hochhält, verkündet er den Christen im Süden: Ich denke an euch. Da die Wirtschaft dümpelt, seit Bushs Amtsantritt drei Millionen Jobs verloren gegangen sind und die Defizite den fiskalisch Konservativen Mühe bereiten, setzt Bush auf Moraldebatten. Statt über die 35 Millionen Armen zu sprechen, zeichnet der Präsident ein Bild von Sodom und Gomorrha. Nicht die Steuergeschenke an Reiche sollen das Land bewegen, sondern ob zwei Männer im Ehebett eine «Abscheulichkeit vor Gott» seien.
Neu sind solche Themen nicht. Sie reichen in die bewegten Sixties zurück. Damals brachen die Konventionen erstmals richtig auf, drangen die Abtreibungsde- batte, die Bürgerrechte, Homosexualität oder die Trennung von Kirche und Staat erstmals tief ins Bewusstsein der Nation.
In den USA ist der Wahlkampf regelmässig ein Kulturkampf. 1920 erhoben die Suffragetten das Frauenstimmrecht zum zentralen Thema. 1964 spalteten die Bürgerrechte für Schwarze die Nation. Vier Jahre später war es die Frage des Vietnamkriegs, wobei ethische Aspekte die strategischen längst abgelöst hatten. Es herrsche ein regelrechter «Kulturkrieg» um die «Seele des Landes», begann 1992 Pat Buchanan, Anwärter auf die republikanische Präsidentschaftskandidatur, seine Rede am Parteitag. Auf der einen Seite würden sittliche Konservative kämpfen, auf der anderen «Clinton und Clinton», mit einer Politik des «radikalen Feminismus», der «Abtreibung auf Abruf», den «Homosexuellen-Rechten».
Bekanntlich gewannen die Clintons. Die Konservativen zogen sich zurück, der Kulturkampf verebbte – bis Bill Clinton eine Affäre mit einer Praktikantin nachgewiesen werden konnte. Prompt war das Land erneut tief gespalten. Er werde die «Würde des Weissen Hauses» wieder herstellen, versprach George W. Bush, als er 2000 gegen Al Gore antrat.
Zwei Ereignisse haben den jetzt tobenden Kulturkampf und die damit einhergehende Zensurwelle erst richtig entfacht: der 11. September und die Entkriminali- sierung des gleichgeschlechtlichen Sex. Amerikaner müssten «aufpassen, was sie sagen», brandmarkte der Sprecher des Weissen Hauses die schroffe Äusserung des Komikers Bill Maher, die Terroristen seien zumindest keine Feiglinge. Just entliess der TV-Sender ABC Maher. Medienleute galten sofort nicht mehr als unantastbar. Seither lassen sich die eingeschüchterten Unterhalter trotz Redefreiheit Zensur gefallen.
Letzten Sommer legalisierten zudem die obersten Richter per Dekret gleichgeschlechtlichen Sex. Das sei ein erster Schritt zu Homosexuellen-Ehen, warnte der erzkonservative Richter Antonio Scalia in einer abweichenden Stellungnahme. Damit werde bewusst eine «schwule Politik» verfolgt. Binnen Wochen starteten am Fernsehen populäre Sendungen wie die Schwulen-Show «Queer Eye for the Straight Guy» oder die Lesben-Soap «L Word». Madonna und Britney Spears vereinten sich vor TV-Kameras im Zungenkuss.
Ein Gegengewicht schufen Mel Gibsons Jesusfilm «The Passion of the Christ» und der Widerstand gegen Schwulen-Ehen. Mobilisiert waren Millionen Konservative. Kritik an Jesus ist ein Sakrileg, aber nur wenig schlimmer als Kritik an Ronald Reagan, dem Präsidenten, der den Ostblock in die Knie zwang, die Gewerkschaften zerschlug und Steuern kürzte. Als unlängst der TV-Sender CBS eine kritische Miniserie über Reagan ausstrahlen wollte, lief die Hälfte des Landes Sturm. Da werde der grösste Präsident der US-Geschichte verunglimpft, lautete der Tenor.
CBS gab nach und versenkte den Film in einem obskuren Kabelkanal. Initiiert hatten die Attacken die Gruppe um Grover Norquist, dem Vorsitzenden des Ronald Reagan Legacy Project. Diese Organisation will in Washington eine Gedenkstätte für den Ex-Schauspieler errichten und sein Antlitz auf eine Banknote drucken.
Einem Angriff von rechts kam im Februar Clear Channel zuvor. Der Gigant – Mutterfirma von 1241 Radiostationen – stoppte die Radioshow Howard Sterns. Keiner ist ruchloser als Stern – und beliebter. Clear Channel wolle die «Zuhörer vor unanständigen Inhalten» schützen, begründete Unternehmenschef John Hogan den überraschenden Rauswurf des Talk-Helden.
Seit der Entlassung speit der zuvor unpolitische, eher republikanische Stern vehement gegen George W. Bush, den er nur noch «Mr. Jesus» nennt. Offen ruft er zum «heiligen Radiokrieg» auf, «um diesen Irren» aus dem Weissen Haus zu vertreiben.