Hier funkt es gar nicht mehr

Nicht nur das Stromnetz in den USA erinnert an ein Drittweltland - die Übersicht der gravierendsten Mängel. Der Blackout von letzter Woche war kein Sonderfall: In den USA ist die Infrastruktur überall brüchig. Um die Weltmacht auf den Stand des 21. Jahrhunderts zu bringen, sind mehrere hundert Milliarden Dollar nötig. Doch das Geld für die Modernisierung fehlt.

Von Peter Hossli

Fünfzig Millionen Amerikaner sassen im Dunkeln und waren sich für einmal einig – schleunigst muss was geschehen.

Von einem «Weckruf» sprach US-Präsident George W. Bush. Auf der «Infrastruktur eines Drittweltlandes» fusse die hiesige Stromversorgung, monierten Politiker aller Parteien. Leitartikler forderten Bush auf, die Drähte zu den Steckdosen zu stärken statt in Alaska nach Öl zu bohren. Plötzlich erschienen die elektrischen Netze gefährlicher als Terrorfürst Osama bin Laden.

Allzu schnell lässt sich das Übertragungssystem aus den Fünfzigern nicht auf heutige Standards stemmen. Gegen 100 Milliarden Dollar würde das kosten, errechnete das Electric Power Research Institute (EPRI).

Die Technologie hinkt dem Verbrauch nach. 30 Prozent mehr Strom konsumiert Amerika als vor zehn Jahren. Während die Produktion in den meisten Regionen mithielt, wuchs die Netzkapazität nur um 15 Prozent. Deregulierung und Preiskampf hielten Stromverteiler davon ab Investitionen zu tätigen.

Zu den lotterigen Leitungen gesellte sich etwas klassisch Amerikanisches: Pfusch. Stundenlang hatte der Stromkonzern FirstEnergy in Ohio das Problem ignoriert. Das Alarmsystem funktionierte fehlerhaft. Jetzt droht die Sammelklage.

Es war kein Einzelfall. Oft wird in der Supermacht gewurstelt und liederlich gewerkt. Flatterhafte Dienstleister und Handwerker, säumige Beamte, unzeitgemässe und vorgestrige Technik machen den Alltag zum Spiessrutenlauf. Derweil verblasst das Image der Hightechnation. Die perfekte Verpackung überstrahlt den unzulänglichen Inhalt. Bei den grundsätzlichen Dingen ist Amerika ein Bund von Pfuschern.

Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 etwa schlug nicht die Demokratie sondern die Technologie fehl. Ein antiquiertes Lochkartensystem war in Florida und anderswo ausserstande, akkurat Stimmen zu zählen. Um die Demokratie zu retten, hat der US-Kongress zwar 3,8 Milliarden Dollar gesprochen. Bis im nächsten Jahr müssten Wahlmaschinen und neue Erfassungsprogramme angeschafft werden. «Wir sind nicht bereit», sagt John Groh, Vizepräsident bei Election System and Software, einer Firma, die Wahltechnik anbietet. «Das Geld wird unzulänglich verteilt.» Weil gepfuscht wird.
Schuld an der Schludrigkeit ist nicht zuletzt das mangelhafte Erziehungssystem.

Millionen von Amerikanern treten ohne richtige Bildung ins Berufsleben ein. Die Schulhäuser fallen auseinander, die Lehrmittel sind unzureichend. Abhilfe ist teuer. 322 Milliarden Dollar würde es kosten, das Schulsystem zu modernisieren, so die National Education Association.

Besorgniserregend das Bild beim Flugverkehr. In den letzten zehn Jahren nahm er um 37 Prozent zu. Die Kapazität, dieses Aufkommen zu bewältigen, stieg bloss um ein Prozent. Die Folge: Veraltete Lotsentechnologie und ungenügende Beschilderung führen jährlich zu rund 400 Fastcrashs. Auf den Runways ist Stau. Investitionen von 40 Milliarden Dollar pro Jahr während fünf Jahren wären nötig, um die Flughäfen auszubauen.

Miserable Noten erteilte die American Society of Civil Engineers (ASCE) der Grundversorgung in einer unlängst erstellten Studie. Brücken bröckeln. Dämme bersten. Strasse sind löchrig und verursachen Unfälle. Schulen stürzen ein. Abfallberge wachsen. Abhilfe brächten nur Milliardeninvestitionen.

Gefährdet ist auch die Wasserversorgung. Nur in 60 Prozent der Seen und Flüssen darf man schwimmen oder fischen. Sollen die US-Gewässer überleben, müssten 140 Milliarden Dollar für deren Behandlung ausgegeben werden. Zusätzliche 140 Milliarden wären nötig, um das Trinkwasser zu sichern.

Für solch vitale Ausgaben fehlt das Geld. Amerika ist hoch verschuldet. Steuersenkungen, Kriegskosten und die lahmende Wirtschaft rissen riesige Defizite in die Haushalte von Staat und Staaten. 455 Milliarden steht Bushs Budget im Minus, ein Rekord. 43 der 50 Gliedstaaten schreiben rote Zahlen.

Man soll das Fenster öffnen, heissen New Yorker Hausmeister die Mieter, die im Winter über zu warme Wohnungen klagen. Der eisige Nordwind würde sich mit der tropischen Luft in der Stube vermischen und angenehme Zimmertemperaturen erzeugen.

Die meisten Heizungen in der 8-Millionen-Stadt lassen sich nämlich nicht manuell regulieren. Wer in einem Haus lebt, das vor dem Zweiten Weltkrieg erstellt wurde, kann den Heizkörper weder an- noch abschalten. Vom 15. Oktober bis am 15. April wird geheizt, egal, ob es draussen schneit oder ob die Sonne wohlig wärmt. Niemand wagt zu schätzen, was die technische Anpassung kostet.

Genauso bei der Mobiltelefonie. Das hiesige Handy-Netz ist Jahre vom europäischen Standard entfernt. Oft brechen Gespräche flugs weg. Während des Blackouts funktionierte in New York nichts. Sendemasten gingen die Batterien früher als geplant aus. Wie nach dem 11. September 2001 versagte das gesamte Netz, obwohl die Anbieter dessen Notfalltauglichkeit zusichern. «Sämtliche Telefonfirmen würden Pleite gehen, wenn die Regierung sie zwänge, Netze zu bauen, die tatsächlich funktionieren», sagt Michael Grossi, Analyst bei der Beraterfirma Adventis.

Amerikaner wissen um das Schlamassel. Wohl deshalb reagierten sie so gelassen auf den jüngsten Notstand. Die stromlose Nacht wurde zum Freudenfest. Ein fast normaler Tag in New York.