Von Peter Hossli
Soldatin Jessica Lynch hatte grosses Glück. Sie brach Arme und Beine und geriet in irakische Kriegsgefangenschaft. Eine spektakuläre Befreiungsaktion bescherte der 19-Jährigen letzte Woche globale Berühmtheit. Dank dem Drama hat Jessica nun eine Zukunft.
In Palestine in West Virginia, wo sie herkommt, leben 20 Prozent der 6000 Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. 15 Prozent haben keinen Job. Wer arbeitet, verdient in dieser typischen US-Kleinstadt im Schnitt 14 000 Dollar pro Jahr.
Einen Ausbruch aus der Armut und eine anständige Ausbildung ermöglicht meist nur der Dienst am Vaterland. Jessica Lynch wollte Kindergärtnerin werden. Die jährlich 30 000 Dollar für das vierjährige Studium hatten ihre Eltern nicht. Also meldete sie sich bei der Armee. Nach fünf Jahren Uniform würde sie auf Staatskosten studieren können.
Menschen so arm wie Jessica haben in diesen Wochen das Regime von Saddam Hussein bekämpft. Es ist ein Heer von Freiwilligen, die oft aus schierer Not gezwungen sind, für Amerika zu kriegen. Statistiken des Pentagons belegen: Das Rückgrad der stärksten Militärmacht der Welt bilden vornehmlich Arme. Und Arme gibt es in den USA immer mehr. 40 Prozent der Amerikaner besitzen nur 0,2 Prozent des Volksvermögens.
Auch zwischen Schwarzen und Weissen klafft eine riesige Wohlstandslücke, die sich in den Kasernen widerspiegelt. Bloss elf Prozent der US-Bevölkerung sind Schwarze, im 1,4 Millionen Leute umfassenden Militär weisen sie einen Anteil von 22 Prozent auf. Von den weiblichen Soldaten sind gar 35 Prozent schwarz, oft allein erziehende Mütter, die sonst ohne Stelle blieben.
Nur ein einziger Abgeordneter hat ein Kind in Uniform
Es sei unfair, dass Leute, die unseren Kriege austragen, aus ökonomischen Gründen ins Militär müssen, sagt der Kongressabgeordnete und Koreakrieg-Veteran Charles Rangel. Im US-Parlament sässen zunehmend Vertreter der Oberschicht. Die lassen ihre teuren Wahlkampagnen von finanzstarken Firmen bezahlen. Bloss einer der 535 Abgeordneten hat ein Kind in Uniform. «Müssten unsere Kinder in den Krieg, hätten wir nicht so leichtfertig einem Krieg gegen Irak zugestimmt», sagt Rangel.
Anfang Jahr hat er einen Gesetzesantrag eingereicht, der die Einführung der Dienstpflicht für alle verlangt – mit geringen Erfolgschancen. Republikanische Politiker und Präsident George W. Bush haben Rangels Plan desavouiert. Er dürfte nicht einmal zur Abstimmung kommen. Zuoberst auf der mit eiserner Disziplin durchgepeitschten politischen Agenda stehen nicht etwa die Demokratisierung der Streitkräfte, sondern die Einschränkung von Bürgerrechten, der Sturz Saddams und saftige Steuersenkungen.
Davon wird vornehmlich das Prozent der Bevölkerung profitieren, das am meisten verdient und am meisten besitzt. Während Präsident Bush verspricht, seine allein von Steuerschnitten bestimmte Fiskalpolitik werde die Wirtschaft antreiben, prophezeien unabhängige Ökonomen Billionendefizite über Jahrzehnte hinweg. Bis im 2010, hat der Ökonom Paul Krugman errechnet, gehen die Steuern um 2,5 Billionen Dollar zurück.
Dabei explodiert das Budgetdefizit. Geld für soziale Programme fehlt. Damit ist eingetroffen, was der damalige Vizepräsident Al Gore im Wahlkampf im Jahr 2000 bei der Wahl Bushs prophezeit hat.
Doch Gore ist längst vergessen. Ebenso, wie die jetzige Führungskaste damals an die Macht kam – nämlich mit einem eindrucksvoll orchestrierten Coup in Florida. Das belegt der in England lebende US-Journalist Greg Palast in seinem Buch «The Best Democracy Money Can Buy». So habe der Gouverneur von Florida, George W. Bushs Bruder Jeb, über 50 000 Wähler illegalerweise von den Wahllisten gestrichen. Ein Grossteil davon hätte Gore die Stimme gegeben, schreibt Palast.
Wer echte Kritik übt, wird mundtot gemacht
Er veröffentlichte seine Recherchen zuerst im britischen «Guardian» und dann auf BBC. Ein Grossteil der US-Medien schweigt noch immer über den pikanten Vorfall. Sie wollen es mit der amtierenden Regierung nicht verderben. Denn bis im Mai will die staatliche Behörde für Kommunikation, die Federal Communications Commission, über einen Antrag der grossen Medienunternehmen befinden, ob diese künftig noch mehr Radiostationen, Zeitungen und Fernsehsender besitzen dürfen. Ein Anliegen, das die Gewinnmargen der Medienkonzerne erhöhen, gleichzeitig aber die Konzentration der Nachrichtenverbreiter verstärken und die Kritikfreudigkeit vermindern dürfte.
Bereits jetzt wird mundtot gemacht, wer echte Kritik übt. Senator Tom Daschle wurde des Verrats bezichtigt, als er kurz vor Kriegsbeginn US-Präsident Bush vorwarf, er hätte im Irak nicht alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft. Konservative Kommentatoren riefen auf den Kanälen von Medienmagnat Rupert Murdoch unwidersprochen zu dessen Absetzung auf.
Es sei nicht statthaft, in Kriegszeiten einen Wechsel an der Spitze der US-Streitkräfte zu verlangen, sagte der Parteipräsident der Republikaner als John Kerry seine Präsidentschaftskandiatur ankündigte. Für einmal verhielt er sich uramerikanisch und machte von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch: «Wir brauchen nicht nur einen Regimewechsel im Irak, wir brauchen einen Regimewechsel in den Vereinigten Staaten», verlangte Kerry. Es besteht also Hoffnung. Noch haben nicht alle die Demokratie abgeschrieben.
Wem gegeben wird, der hat
Die reichsten 10 Prozent der USA verfügen über rund 71 Prozent der Vermögen. Die nächsten 50 Prozent haben 28,9 Prozent der Vermögen. Für die ärmsten 40 Prozent bleiben noch 0,2 Prozent.
Bis 1979 sind alle Einkommen stark gestiegen, die der armen Haushalte sogar noch etwas stärker. Seither hat praktisch nur noch das reichste Fünftel zulegen können. Die tiefsten Einkommen sind gar geschrumpft. Kein Wunder hat die Unterschicht ihr Vermögen aufgebraucht, statt neues zu bilden.