Das Megafon der Muslime

Täglich berichtet al-Dschasira live aus den USA. Ein Besuche beim Ableger des umstrittenen arabischen TV-Senders im Feindesland.

Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)

al-jazeera.gifDas blonde Haar hat Dana Budeiri zu einem strähnigen Zopf geschnürt. Die Schminke ist aufgetragen, der oberste Knopf der violetten Bluse trotz bissiger Kälte geöffnet. In sich gekehrt starrt die Fernsehjournalistin aufs Weisse Haus und murmelt etwas – sie lernt ihren Text auswendig. «Ich bin bereit», ruft der Kameramann. Sie dreht sich um und klopft kurz aufs Mikrofon. Der Ton geht, die Kamera läuft. Jetzt legt Dana Budeiri los.

60 Millionen Menschen im arabischen Sprachraum erfahren von ihr Brisantes: die türkisch-amerikanischen Verhandlungen über Luftwaffenbasen gedeihen; Tausende Amerikaner gingen heute gegen den Krieg im Irak auf die Strasse; ausdrücklich behält sich das US-Militär vor, nukleare Waffen einzusetzen. Mit der Fernsehfloskel «Bathth mubaashir min Washington», beendet die Reporterin ihren Bericht, «Live aus Washington».

Budeiri, Palästinenserin und Veteranin im Mediengeschäft, ist seit vier Monaten US-Korrespondentin bei Al-Jazeera, dem 1996 gegründeten arabischen Nonstop-Nachrichtenkanal. Entgegen dem globalen Spartrend in den Medien baut der Sender derzeit kräftig aus. Das Büro in Washington, vor kurzem bloss von vier Personen besetzt, wird ab Januar von 24 geführt. Je ein Korrespondent berichtet dann direkt aus dem Weissen Haus, dem Pentagon und dem Aussenministerium.

Nicht mehr zwei, täglich sechs Berichte aus den USA will Al-Jazeera dann zusätzlich zur wöchentlichen Talkschau ins Emirat Qatar übermitteln, dem Hauptsitz am Persischen Golf. Geplant sind überdies eine englische Website – sowie ebenfalls 2003 ein englischer Vollkanal.

Unabhängiges Fernsehen aus Arabien, zu empfangen in Amerika – das entspricht angesichts der bipolaren Weltsicht der US-Regierung in etwa einem unzensierten sowjetischen Kanal während des Kalten Krieges. «Washington ist unser wichtigster Aussenposten», begründet Bürochef Hafez Al-Mirazi den Ausbau. «Beginnt im Irak der Krieg, wollen wir der arabischen Welt ausgewogene Informationen aus Amerika liefern.»

Dafür brauchts zusätzliches Personal – und dringend mehr Platz. Es ist eng in den beiden Suiten, die Al-Jazeera im neunten Stock des National Press Building belegt, einen Steinwurf entfernt vom Weissen Haus. 14 Journalisten und Techniker rangeln an diesem Nachrichten beladenen Dienstag um ein bisschen Fläche auf den Tischen. Die sind belegt mit arabisch und englisch beschriebenem Papier. An der Wand hängt eine geografische Karte des Westjordanlands und Gazastreifens. Dazu ein Kalender mit den politischen Veranstaltungen des Tages in DC.

Es ist laut und hektisch, wie in jeder Redaktion. Die Stimmung ausgelassen, zuweilen zynisch, wie in jeder Redaktion. Über dem Pult eines Produzenten kleben Karikaturen, die den Sender als Sprachrohr Osama bin Ladens verunglimpfen.

Der grösste der drei Fernseher strahlt Al-Jazeera aus, die anderen dessen amerikanische Pendants, CNN und Fox. Gesprochen wird ein Mix – in perfektem Englisch begonnene Sätze enden in perfektem Arabisch. Als «panarabisch» beschreibt ein Produzent das Personal, jedoch mit einer klaren Mehrheit: «In diesem Büro geben wir Palästinenser den Ton an, die Ägypter folgen uns», sagt Korrespondentin Budeiri. «Zitieren Sie mich nicht, sonst gibts eine diplomatische Krise. Als Person aus dem Land ohne Eigenstaatlichkeit bin ich eh chancenlos.»

In den USA geboren, in Gaza aufgewachsen ist Produzent Imad Musa. Al-Jazeera nennt er das «erste panarabische Projekt, das funktioniert». Auch mit amerikanischer Hilfe. Sekretärin und Koproduzentin Stephanie Thomas ist blond, Amerikanerin mit Doktortitel in Arabistik – und dazu Katholikin, «unser amerikanischer Taliban», witzelt Imad Musa.

Ein Witz mit ernstem Unterton. Seit den Terroranschlägen vom 11. September und dem darauf folgenden Feldzug in Afghanistan versuchen US-Medien, Al-Jazeera als Megafon von Terrorfürst bin Laden und den Taliban zu desavouieren. Seit 1998 berichten Al-Jazeera-Reporter aus Kabul. Bei Kriegsausbruch hatte kein anderer Sender ein Live-Mikrofon in der afghanischen Hauptstadt. Wohl deshalb liess bin Laden seine Video-Statements dorthin bringen. Al-Jazeera zeigte sie.

Jedoch stets eingebettet in Analysen aus amerikanischer Sicht, sagt Washington-Bürochef Al-Mirazi, ein stattlicher Mann mit dunklen Haaren. Seit neunzehn Jahren lebt der US-Bürger in Washington, hat Kinder, wohnt in der Vorstadt, fährt ein Erdgas betriebenes Auto.

Der Analyse zum Trotz, die US-Regierung sah Al-Jazeera als Problem. «Aus Versehen» trafen drei Laser gesteuerte amerikanische Bomben im November 2001 die Studios in Kabul. Der prompten Entschuldigung des Pentagon folgte die Beteuerung, nichts vom Standort Al-Jazeeras gewusst zu haben. «Die haben uns absichtlich bombardiert», sagt Al-Mirazi. Die Bomben fielen just an jenem Tag, als Kabul in die Hände der Nordallianz fiel. «Es sollte verhindert werden, dass Bilder von marodierenden Truppen – Amerikas Alliierten – und zivilen Toten um die Welt gingen.» Bilder, die in einem künftigen Tribunal die USA belastet hätten.

Bilder, die Al-Jazeera postwendend ausgestrahlt hätte. Als «einzige unabhängige Stimme» innerhalb der strikt kontrollierten arabischen Staatsmedien beschreibt Produzent Musa den Sender – obwohl Al-Jazeera ebenfalls von einem absolut regierenden Herrscher finanziert wird. Paradox? Allein um das Land «auf die Weltkarte zu hieven», sagt Al-Mirazi, investierte der Emir von Qatar, Scheich Hamad bin Khalifa, 1996 140 Millionen Dollar. Das Geld stammt hauptsächlich von Erdölverkäufen, die dreissig Prozent des Bruttosozialproduktes von Qatar ausmacht. Jährlich soll bin Khalifa je nach Quelle zwischen 10 und 100 Millionen Dollar an Al-Jazeera überweisen. «BBC oder das Schweizer Fernsehen erhalten ihr Geld ebenfalls von der Regierung», sagt Al-Mirazi, «niemand wirft ihnen vor, sie würden unausgewogen berichten» Persönlich eifere er BBC nach. «Wir wollen dieselbe Reputation.»

Das könnte gelingen. Als erster Akt hielt der Scheich die Zensurbehörde fern. Er heuerte Reporter und Techniker von BBC-Arabic an – die waren entlassen worden, weil sie kritisch über die Menschenrechtssituation in Saudiarabien berichtet hatten. Mittlerweile arbeiten 800 Personen für Al-Jazeera, was übersetzt «Die Halbinsel» bedeutet.

Als «arabischer Sender, der sich für Muslime weltweit interessiert», differenziert Bürochef Al-Mirazi zwischen geografischer und religiöser Einordnung. Bloss 13 Prozent aller Muslime sind Araber. «Islamische Opfer in Kaschmir sind für uns aber genauso News wie in Gaza.»

Die Einschaltquoten sind phänomenal. Allabendlich schauen sich sechzig Millionen die Hauptnachrichten an. Zahlen, von denen etwa CNN nicht mal zu träumen braucht. Deren 22-Uhr-Nachrichten verfolgen an Spitzentagen knapp eine Million. «Weil wir unabhängige und ungefilterte News senden», begründet Bürochef Al-Mirazi den Erfolg von Al-Jazeera. «Um der Wahrheit näher zu kommen, mussten alle Araber zuvor marokkanisches, saudiarabisches, tunesisches und jordanisches Fernsehen anschauen», sagt er. «Al-Jazeera bündelt Standpunkte.»

Überdies hat Al-Jazeera einen technischen Vorteil – die Sendungen kommen per Satellit zum Publikum, was weitaus günstiger ist als per Kabel. «In Gaza werden Satellitenschüsseln aus Eisenstangen und Aluminiumfolie gebastelt», erzählt Produzent Musa. «Das reicht vollends.»

Längst habe Al-Jazeera in Nordafrika und im Nahen Osten CNN als wichtigste Newsquelle abgelöst, «bei den Regierungen wie beim Volk», sagt Musa. Ständig telefoniert er, um einen Türkei-Experten für ein Interview zu gewinnen. Die US-Regierung wisse: wer zur arabischen Welt sprechen will, muss mit Al-Jazeera sprechen. Längere Interviews gewährten bisher Aussenminister Colin Powell, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.

Al-Jazeeras Unabhängigkeit stört manche arabische Regierung. «Uns mögen beide Seiten nicht», sagt Al-Mirazi. «Besser kann es uns nicht ergehen.» Jedes arabische Land habe in Qatar schon mal laut protestiert. Saudiarabien lässt Al-Jazeera nur ins Land, um über Pilger in Mekka zu berichten. Arabische Monarchen setzten Firmen unter Druck, trotz hoher Einschaltquote nicht zu werben.

Von morgens bis abends guckt Randa Eid auf einem kleinen Monitor Live übertragene Pressekonferenzen an. Die Assistentin sucht Aussagen, die zu den Berichten der Korrespondenten passen. Zwei Türen weiter, im kleinen Sendestudio überprüfen Techniker Nader Abed und Korrespondent Thabet ElBardicy eine Kamera und einen Laptop. Sie fliegen heute nach Venezuela. Mit einem angeblich in den USA angezettelten Streik soll Präsident Hugo Chavez gestürzt werden.

Eine wichtige Story am Golf, sagt Al-Mirazi, obwohl weder Muslime noch Araber involviert seien. «Es geht um das Öl in Venezuela, und es geht um den Versuch, den amerikanischen Einfluss auf die Welt zu vergrössern. Das ist eine Story.»

Die gleichentags Schlagzeilen schreibenden rassistischen Verfehlungen von Senator Trent Lott hingegen seien keine; der Bezug zur islamischen Welt fehlt.

Al-Jazeera ist professionell gemacht, rasch geschnitten, mit effektvollen Grafiken angereichert – und nicht selten schneller als die westliche Konkurrenz. «Ar-ra’y wa-r-ray’i l-aakhar», lautet das Geleitwort – «die Meinung und die andere Meinung». Vor kontroversen Themen wie Sex, Religion oder politischem Dissens schreckt die Sendung «Die andere Seite» nicht zurück. Allabendlich treffen dort harte Kontrahenten aufeinander, nicht selten Israelis und Palästinenser.

«Unser Publikum ist politisch gerissener», darin unterscheide sich Al-Jazeera von westlichen Stationen, sagt Korrespondentin Budeiri. Die Berichte gingen tiefer, Debatten würden intensiver geführt. «Es ist unmöglich, die Intelligenz der Zuschauer mit einer doofen Story zu beleidigen», sagt sie selbstsicher. «Wir senden 24 Stunden Nachrichten, in eine Region, die süchtig ist nach Politik», sagt sie, «und wir senden viel über Fussball.»

Und der Standpunkt ist anders. «Target: Irak», «Ziel: Irak», lautet derzeit CNNs Slogan. «Irak: Ein Volk in Gefahr» heisst es bei Al-Jazeera.

Stirbt im Nahen Osten ein Israeli, ist das für Al-Jazeera ein «Toter». Stirbt ein Palästinenser, wird er «Märtyrer» genannt, was zuweilen die Objektivität in Frage stellt. «Wer aus westlicher, sekulärer Sicht stirbt, ist ein Opfer», sagt Al-Mirazi. Aus islamischer Sicht seien alle Tote in einem Befreiungskrieg automatisch Märtyrer. Dabei spiele es keine Rolle, ob es sich einen Selbstmordattentäter handelt – oder um ein unbeteiligtes Mädchen, das zur falschen Zeit am falschen Ort stand. Oft als «islamisches Sprachrohr» verpönt wird Al-Jazeera, weil Bilder von aufsässigen Jugendlichen in den besetzten Gebieten ausgestrahlt werden. «Auf arabischen Strassen gibt es sehr viel Wut gegen Amerika», sagt Al-Mirazi. «Es ärgert die US-Regierung masslos, dass wir das zeigen.»

Als «grösst möglicher Unfall» fürchte die Bush-Regierung, Al-Jazeera werde bald verstümmelte Leichen und hungernde Kinder zeigen – live aus Bagdad. Wie einst CNN im ersten Golfkrieg verfügt Al-Jazeera über die beste Infrastruktur in der irakischen Hauptstadt. So hat niemand anders einen mobilen Übermittlungswagen, von dem aus auch nach Kriegsbeginn gesendet werden könnte

Durchbrechen möchte Al-Jazeera, was seit dem Golfkrieg journalistischer Alltag geworden ist – die totale Kontrolle durch das US-Aussenministerium. Gemäss der zu Beginn der neunziger Jahre entwickelten Powell-Doktrin setzt die USA alle Mittel ein, um einen Konflikt zu gewinnen. Selbst Landminen oder Teppichbombardements. Nicht sehen soll solche Gräuel die amerikanische Öffentlichkeit – der Vietnamkrieg hatte gezeigt, wie Schreckensbilder die Stimmung trüben. Seither wird strikte kontrolliert.

«Wir werden live berichten», sagt Al-Mirazi. Gibts denn Krieg?«Es sieht danach aus.»

Und CNN? «Das ist heute ein anderer Sender», sagt Al-Mirazi, weit gehend regierungstreu. «1991 bestand Ted Turner darauf, dass seine Journalisten in Bagdad ausharren. Heute hat er bei CNN nichts mehr zu sagen.» Hauptsächlich finanzielle Überlegungen würden den Journalismus bestimmen. So lag CNN – wie Al-Jazeera – bereits 1998 ein Angebot der Taliban vor, aus Kabul zu berichten. Sie schlugen es aus. Zu teuer, nicht relevant.

Der Westen habe sich nicht für Muslime interessiert, die Muslime töten. Nicht so Al-Jazeera. Massgeblich trieb der Sender die Taliban innerhalb des Islams in die Isolation, als er zuerst Bilder von der Zerschlagung der Buddha-Statuen zeigte. Historische Denkmäler sind Tabu. «Das machte die Taliban zu Parias», sagt Al-Mirazi.

Doch durfte Al-Jazeera die Videos bin Ladens senden? Der Terrorist, sagen Kritiker, hetzte damit Muslims gegen den Westen auf. Und er erteilte Order. «Al Qaida braucht uns nicht», sagt der Bürochef, «das Internet reicht ihnen.» Bewusst herausgeschnitten wurde eine Stelle, in der bin Laden zum Angriff auf ein spezifisches Ziel in Pakistan aufrief.

Bin-Laden-Bänder, das sei News, verteidigt Al-Mirazi überdies die Ausstrahlung. «Die ‹New York Times› hatte das Manifest von Unabomber Ted Kaczynski publiziert – das führte zu dessen Verhaftung», sagt er. Ebenso hätten US-Medien Interviews mit Timothy McVeigh gezeigt. McVeigh, dessen Bombe 1995 in Oklahoma City 168 Menschen tötete, sollte aus US-Sicht ja eigentlich ein weit aus schlimmerer Terrorist sein als bin Laden. «McVeigh tötete Landsleute. Für bin Laden sind Amerikaner nur Feinde.»

Es ist kurz vor fünfzehn Uhr in Washington, Primetime in Qatar. Bevor Dana Budeiri ihren Bericht übermittelt, nimmt ihn Al-Mirazi im Schneideraum ab. Sie ist nervös, kaut an den Fingernägeln und hofft, die Story gefalle. Der Bericht darf raus, der Bürochef ist zufrieden.

Dann geht Budeiri einkaufen, warme Unterhosen und Wanderschuhe. Nächste Woche besucht sie in Georgia ein Trainingslager des US-Militärs für Journalisten. «Pass bloss auf, die Tarnfarbe ruiniert das Make-up», so Produzent Musa.

Lernen werde sie, aus landenden Hubschraubern zu springen, mit Soldaten zu marschieren, in Deckung zu gehen und rasch Gasmasken überzustülpen. «Das muss ich nicht lernen», sagt die Palästinenserin, «ich bin mir Tränengas gewohnt.»