Süsslicher Geruch über der Stadt

1,25 Millionen Tonnen Trümmer muss New York entsorgen. Ein gigantisches Unterfangen, das Monate beanspruchen wird. Und jetzt droht auch noch Gefahr vom Hudson.

Von Peter Hossli

Unaufhörlich zwängt sich die Prozession durch den Battery-Tunnel nach Brooklyn. Hunderte weisser, mit Sternenbannern dekorierter Lastwagen der städtischen Abfallbeseitigung karren die zerbröckelten Überreste des World Trade Center weg. Von Manhattan nach Brooklyn, dann über die Verrazano-Brücke nach Staten Island. Dort kippen die Trucker den grauen Schutt auf eine vor Jahren wegen ihres beissenden Gestanks geschlossene Müllhalde. Sie heisst Fresh Kills. Etwa: eben erlegt.

Hat sich die Hoffnung auf die Bergung weiterer Überlebender fast gänzlich zerschlagen, so realisiert die Stadt eine Woche nach der Attacke: Die Aufräumarbeiten werden zu einem gigantischen Unterfangen, das bestimmt Monate, wenn nicht ein ganzes Jahr beanspruchen wird. Eingestürzt sind sämtliche sieben Gebäude, die zum World Trade Center gehörten. Neben den beiden silbernen Zwillingstürmen das «Marriott Hotel» sowie vier weitere, weniger hohe Bürohäuser. Über 250 Firmen und Regierungsstellen verloren Räume. Rund 1,25 Millionen Tonnen des grauen Gemisches aus Glas, Beton, Stahl und Plastik liegen auf dem Viereck aus West, Liberty, Church und Warren Street. Das entspricht 100 000 voll beladenen Sattelschleppern. Kann im selben Tempo wie bisher gearbeitet werden, dauert die Entsorgung hochgerechnet nochmals neun Monate. «Bis zu einem Jahr», schätzt Bürgermeister Rudolph Giuliani. Noch hat die Stadt nicht entschieden, wie lange die für den Abtransport zentralen Zufahrtswege wie die Brooklyn Bridge oder der Battery-Tunnel für den regulären Verkehr geschlossen bleiben. «Wir wollen New York so rasch wie möglich der Normalität zurückgeben», sagt Giuliani. Ziviler Verkehr soll wieder in den Süden Manhattans gelassen werden, was aber das Reinemachen behindern wird. Darum sollen die verbliebenen Trümmer mit der Bahn oder übers Wasser abtransportiert werden. Die private Eisenbahngesellschaft Norfolk Southern Railroad hat der Stadt offeriert, ungiftigen Schutt gratis wegzuführen. Auch ein mit riesigen Kranen versehenes Bergungsschiff soll bald im Hafen New Yorks anlegen.

Sprengmeister der U. S. Army haben am Montag mit der Planung für den Abriss der Ruinen des World Trade Center begonnen. Beim «Ground zero», dort, wo das World Trade Center bis zum 11. September 400 Meter hoch in den Himmel ragte, hängen nach wie vor dichte, bräunliche Schwaden. Die Luft schmeckt süsslich und abgestanden. So riechen verwesende Leichen, erklärt ein Feuerwehrmann, der sich am Strassenrand ausruht. Der psychische Stress ist enorm, die Nerven liegen blank. Der harte Job ist gesundheitsschädigend, in den beiden Wolkenkratzern soll das Krebs erregende Asbest verbaut worden sein. Viele Arbeiter klagen über Husten und brennende Augen. Nach den jeweils zwölf Stunden dauernden Schichten werden sie deshalb durch Entgiftungsschleusen geschickt.

Mittlerweile werden über 5400 Menschen vermisst, die meisten sind unter den riesigen Geröllbergen begraben. Trotz des unermüdlichen Einsatzes haben die Bergungstruppen aus dem ganzen Land seit Mittwoch letzter Woche keinen einzigen Überlebenden gefunden. Das Wunder von Manhattan hat nicht stattgefunden. «Es ist eine Realität, die wir akzeptieren müssen», sagt Bürgermeister Giuliani, «die Chancen stehen schlecht.» Bloss 180 Tote wurden bisher geborgen. Selbst Leichenteile sind seltene Funde. Die gewaltige Druckwelle des Einsturzes hat die meisten Opfer regelrecht pulverisiert. Banal scheint angesichts dieser Tragik der anhaltende Stromausfall in grossen Teilen von Downtown Manhattan. In der Lichterstadt ist es dunkel und still geworden. Hunderte von Geschäften und Tausende von Wohnungen sind ohne Strom- und Telefonanschluss. Der New-Yorker Stromanbieter Con Edison hat deshalb ambulante Transformer aufgestellt und fast fünfzig Kilometer temporäre Kabel verlegt. Gleichwohl werde es noch Wochen dauern, bis die Stromversorgung wieder hergestellt sei, heisst es. Aufräumen muss auch die Post. Tonnenweise stapeln sich beim Main Post Office an der 34. Strasse an das World Trade Center adressierte Pakete und Briefe. Täglich 85 000 Stück Post wurden zuvor an normalen Wochentagen ins World Trade Center geliefert. Noch ist nicht klar, was mit den Briefen passiert, die nun ohne Empfänger sind.

Gefahr droht zusätzlich vom Hudson River, dem Fluss westlich Manhattans. Als das World Trade Center zu Beginn der Siebzigerjahre errichtet wurde, schütteten Bauarbeiter mehrere tausend Tonnen Aushub in den Hudson. Auf dem gewonnenen Land entstand Battery Park City, eine Hochhaussiedlung mit rund 9000 Stadtwohnungen, bewohnt von wohlhabenden Brokern und Anwälten. Zwischen dem Fundament des World Trade Center und Battery Park City steht seither eine unterirdische Wand, die das Wasser abhalten soll. Tiefbau-Experten fürchten, dass diese Barriere dem Wasserdruck nicht standhalten kann. Bahnt sich der Fluss einen Weg in die Stadt, könnte sich die Landmasse verschieben. Gefährdet wären dann auch die bereits stark demolierten Gebäude auf beiden Seiten der West Street, etwa das World Financial Center, das «Millenium Hilton» oder die East Savings Bank mitsamt dem populären Einkaufszentrum Century 21. Die Stadt bangt um ein Quartier. Noch dauern die Aufräumarbeiten an. Doch Politiker aller Lager fordern bereits den Wiederaufbau des World Trade Center (WTC). «Es wäre eine doppelte Tragödie, wenn wir sie nicht wieder aufbauen würden», sagt Immobilienmagnat Larry Silverstein, der die Zwillingstürme 1999 für 3,2 Milliarden Dollar gekauft hatte. «Das schulden wir unseren Kindern und Grosskindern.» Wohnungsmakler bezweifeln aber, ob sich für ein neues WTC Mieter finden lassen werden.