Alles nur Fassade

Das Wahltheater legt grundlegende Probleme der USA offen. Die bizarren Nachrichten um die Präsidentenwahl aus Amerika erschrecken viele Europäer: Die USA haben sich als Land der Schlampereien entpuppt. Eine Korrektur des Bildes vom modernen Amerika tut Not.

Von Peter Hossli

Die Nachzählungen in Florida haben bei den Präsidentschaftswahlen unterschiedlichste Resultate ergeben. Wen wunderts? Das dort verwendete Lochkartensystem ist antiquiert und weist Fehlerquoten von zwei bis fünf Prozent auf. In New Mexiko waren Urnen, in Washington per Post eintreffende Wahlzettel verloren gegangen. Verklemmte Zählmaschinen behinderten die demokratische Prozedur in New York. Leben die Amerikaner in einer absurden Lotterdemokratie? Ist Florida ein Fiasko? Nichts dergleichen, die Demokratie funktioniert grundsolide. Dennoch ist Amerika ein Bund von Pfuschern.

In der Supermacht mit der beneidenswerten Wirtschaftskraft wird oft gewurstelt und liederlich gewerkt. Ein ranghoher Schweizer Diplomat setzt die USA im Jahr 2000 mit einem kommunistischen Staat während der mageren Jahre gleich: «Hier funktioniert nichts.»

Wer in den USA lebt, weiss, was gemeint ist. Flatterhafte Dienstleister und Handwerker, säumige Beamte sowie unzeitgemässe Technologien von vorgestern machen den Alltag häufig zum mühseligen Spiessrutenlauf. Derweil verblasst das Image vom Hightech-Paradies Amerika. Dort denken zwar die hellsten Köpfe, es entstehen die ausgeklügeltsten Apparate, und es zirkulieren tolle Ideen. Bei den grundsätzlicheren Dingen überzeugt die perfekte Verpackung jedoch mehr als der unzulängliche Inhalt.

So verstreichen zuweilen Monate und zig Reklamationen, bis die lokale Telefongesellschaft neue Anschlüsse installiert. Ob die Leitungen hernach funktionieren, ist Glückssache. Dürftige Computersysteme verschicken monatlich Millionen ungenauer Telefonrechnungen. Wer sich wehrt, läuft Gefahr, in einem Sumpf zu versinken. Niemand fühlt sich zuständig. Kein Computer korrigiert die Fehler. Endlose Telefonate mit Angestellten nützen wenig. Am Wirrwarr sind die zahlreichen Anbieter und die niedrigen Preise schuld, aber es wird auch geschlampt.

Die amerikanischen Mobiltelefonnetze hinken dem japanischen oder europäischen Standard um Jahre hinterher – mit Folgen. Oft liegen die Netze des grössten Anbieters, AT&T, lahm. Nachrichten kommen verzögert oder überhaupt nicht an. Abhilfe schafft keiner. Ein Wechsel zur Konkurrenz nützt wenig, denn dort ists nicht besser.

Beim Flugverkehr herrscht ein ähnliches Bild. Nur die Hälfte aller inneramerikanischen Flüge hält Abflug- und Landezeiten ein. Stundenlanges Warten ist genauso zum Normalfall geworden, wie Koffer-abhanden-Kommen. Wer kann, trägt das Gepäck stets bei sich. Täglich fallen dutzende von Flügen aus. Primär kleinere Fluggesellschaften bekunden Mühe, die Einsatzpläne ihrer Maschinen mit den Kursbüchern abzustimmen. «Leider entfällt der Flug von New York nach Detroit, wir haben kein Flugzeug», trällert der Lautsprecher. Sich zu wehren ist zwecklos. Flug- und Telefonfirmen stehen zuoberst auf der amerikanischen Pfuscherliste.

Sie füllen sämtliche Plätze der Top-Ten-Liste der Beschwerden, die täglich bei der Konsumentenschutz-Website E-Complaints.com eintreffen. Beanstandungen entnervter Verbraucher betreffen vornehmlich Reisen, Onlineshopping, Kommunikation und Konsumgüter. Der Pfusch und die veraltete Technik beeinträchtigen alle Lebensbereiche.

Züge fahren verspätet ab. Jeden Winter verhindern gefrorene Weichen den regelmässigen Eisenbahnverkehr. Vorkehrungen werden keine getroffen. Waggons der New Yorker Untergrundbahn entgleisen häufig. Weil die reguläre Post Briefe und Pakete irregulär austrägt, benutzen Unternehmen vermehrt private Transporteure wie Fed-Ex oder UPS. Doch die schlampen ebenfalls. Statt in die Schweiz schickte Fed-Ex ein Paket von New York nach Subic Bay, einer ehemaligen US-Militärbasis auf den Philippinen. Zwei Monate lang anstelle der versprochenen zwei Tage reiste ein UPS-Paket von Kalifornien an die US-Ostküste. Wer in den USA mit Kreditkarten bezahlt, liest mit Vorteil die Abrechnungen durch. Allzu oft schleichen sich fremde Einkäufe ein. Konsumenten zögern zu Recht, online zu ordern, denn zehn Prozent der Bestellungen kommen nie an. Gemäss einer Studie von PricewaterhouseCoopers sind nur drei Prozent mit dem E-Einkauf zufrieden. Regelmässig rufen US-Autobauer tausende von mangelhaften Wagen oder Reifen zurück.

Gemäss dem American Index of Customer Satisfaction sind nur 72 Prozent mit US-Produkten und -Dienstleistungen glücklich, fünf Prozent weniger als vor fünf Jahren. Amerikaner wissen um das Schlamassel. Wer es sich leisten kann, kauft ausländische Produkte und verzichtet auf heimische Dienstleistungen. So werben Inserate für luxuriöse Wohnungen mit «ausschliesslich europäischen Haushaltsgeräten und sanitären Anlagen». Wäschetrockner von Miele oder Kaffeemaschinen von Bosch funktionieren, während US-Utensilien rasch ihren Dienst einstellen. Weil die minderwertigen Produkte im Ausland nur schwer zu verkaufen sind, explodierte das US-Aussenhandelsdefizit allein in den vergangenen vier Jahren von 20 auf über 100 Milliarden Dollar.

Doch warum boomt das Pfuscherland nichtsdestotrotz, warum geniessen die USA ihr bisher längstes Wirtschaftswachstum? Die schiere Konsumentenmasse minimiert den Niederschlag der hohen Fehlerquote. Quantität, nicht Qualität geht vor. Überdies ist das Lohnniveau bescheiden, und die niedrigen Energiepreise wirken sich noch gewichtiger aus. Für Strom, Benzin und Heizöl zahlen Amerikaner einen Viertel der europäischen Preise. Da kann man ruhig ein bisschen schlampen. Zu dumm, dass die viel beschworene amerikanische Lockerheit jetzt die Demokratie trifft. Wer wie viel Stimmen tatsächlich holte, dürfte für immer ungewiss bleiben. Die amerikanischen Mobilfunknetze hinken beispielsweise um Jahre dem europäischen Standard hinterher.