Von Peter Hossli
Klar, Quentin Tarantino krempelte das gesamte Showbusiness um. Auf einen Schlag, mit einem einzigen Film.
Sein Trashmärchen «Pulp Fiction» spielte 1994 weltweit 200 Millionen Dollar ein, bei einem Minibudget von acht Millionen. Wiedergeboren war das totgeglaubte Genre des Gangsterfilms, wieder zum Star geworden der längst abgeschriebene vormalige Traumtänzer John Travolta. Jeder Produzent sucht seither in jedem Drehbuch nach dem ultimativen Tarantino-Feeling. Ist irgendein Stück Populärkultur erfolgreich, wird es oft mit dem nichts sagenden Adjektiv «tarantinoesk» beschrieben. Wenn Kult einen Namen hat, dann seinen.
Das kümmert ihn wenig. Quentin Tarantino, 35-jährig, Regisseur und Autor des am 24. April in die Schweizer Kinos kommenden Krimis «Jackie Brown», wollte stets nur eines: Trotz hässlichem Gesicht, fast zwei Meter krummer Körperlänge und unerträglich hoher Stimme geliebt werden. Nur darum, sagte er einst, mache er Kino, das gefällt.
Es gefällt. «Reservoir Dogs», sein Erstling, schaffte es von Untergrundfestivals direkt ins Museum of Modern Art. «Pulp Fiction», der Zweitling, gewann 1994 die Goldene Palme von Cannes. Die Kritiker übertrafen sich mit Hurragebrüll, die Fan-Gemeinde wuchs. In der Schweiz ergötzten sich auch Linke an zur Schau gestellter Gewalt, die nicht moralisierte, sondern unterhielt. Hollywoodstudios drehten billige «Pulp»-Imitationen. Ein «neuer Shakespeare» sei geboren, schrieb das US-Magazin «Time», «ein Filmemacher, der alles kann».
Tarantino, der coole König des Kults.
Dann wurde es plötzlich still. Abgesehen von ein paar Kurzauftritten in zweit- und drittklassigen Filmen, einer Arbeit fürs Fernsehen und dem missglückten Episodenfilm «Four Rooms» war vom begnadeten Sonderling nichts mehr zu sehen. Dafür jagten sich die Gerüchte.
Tarantino sei durchgedreht, hiess es, vollgepumpt mit Drogen vegetiere er in den Bergen. Für jede Nacht kaufe er sich ein neues Mädchen. Alkohol und Voodoozauber würden sein ehedem schon konfuses Leben total verdrehen.
Gefreut hats die Kritiker. Die wusstens schon lange. Tarantino sei ein Flop, ein überschätzter Schwätzer, ein Grossmaul, dessen einziges Talent es sei, zu klauen und neu zu mischen. Als er in einer Hollywood-Nobelkneipe einen Produzenten mitten ins Gesicht schlug, stand endgültig fest: Der Mann war übergeschnappt. Kino wird der nie mehr machen. Alles Unfug. Der Mann war am arbeiten. Er hockte auf keinem Berg, sondern in einer Wohnung in L. A. und fertigte aus Elmore Leonards Krimi «Rum Punch» ein gescheites Drehbuch. Daraus machte er einen Film im Stil des schwarzen Kinos der siebziger Jahre.
Herausgekommen ist Tarantinos Meisterstreich. Eine wunderbare Geschichte, in der eine Stewardess im Auftrag eines Ganoven Geld von Mexiko in die USA schmuggelt. Um Elmore Leonards in Florida angesiedelte Mittelklassewelt in ein tarantinoeskes Universum umzubiegen, nahm er Änderungen vor. Die Handlung verlegte er von Miami nach L.A. Statt einem weissen Mann verwirrte eine schwarze Frau einen Haufen abgeklärter Killer und Waffenschieber.
Als «Jackie Brown» im Dezember in den USA anlief, war klar: Das ist Tarantinos wichtigster Film, wenn auch nicht sein einträglichster. Ein Werk, mit dem er sich vom Image des bunten Pop-Königs befreite und eine schier endlose Vielfalt aufblitzen liess. Von nun an, stand fest, wird Tarantino drehen, wozu er gerade Lust hat. Vom Kunstfilm bis zur aufwändigen «Titanic»-Fortsetzung.
Dabei enttäuschte er mit «Jackie Brown». Den Pädagogen, die ihn wegen der angeblich Gewalt erzeugenden Filmgewalt verteufelt hatten – als «postmoderne Gewaltorgie» bezeichnete der «Tages-Anzeiger» seinerzeit «Pulp Fiction» -, liefert er einen subtilen, beinahe blutfreien Schauspielerfilm. Statt greller Pop-Oper zeigt er umwerfende Charakterstudien. An Stelle aufgesetzter Coolness Normalität. Ein Strandhaus, eine Shopping Mall, ein Parkplatz, ein Flugplatz – glanzloses Amerika pur. Nicht Designer-Klamotten, sondern verwaschene Träger-T-Shirts, Schweissspuren, dicke Hintern und Hängebusen prägen seine gesetzteren und doch überaus erotischen Figuren.
Zwar lässt er auch hier längst vergessene Leinwandgrössen auferstehen. Aber die sind von ganz anderem Kaliber als John Travolta in «Pulp Fiction» oder Harvey Keitel in «Reservoir Dogs». Wer erinnerte sich schon an Pam Grier, die in den Siebzigern in Streifen wie «Foxy Brown» oder «Sheba Baby» kurzlebig ein Star fürs urbane schwarze Amerika war? Oder an Robert Forster, einen Fernsehmimen, der Rollen in «Delta Force» oder «Maniac Cop 3» annehmen musste, nur um nicht ganz in Vergessenheit zu geraten? Abgerungen hat Tarantino beiden exquisite Leistungen. Grier spielt die hintertriebene Stewardess Jackie Brown, Forster ihren schüchternen Verehrer.
Überhaupt überrascht der Meister der Gehirnspritzer und Ohrenabschneider mit grandioser Schauspielführung. Bis hinab in die kleinsten Nebenrollen lässt er brillieren. Vielarbeiter Robert De Niro war seit Scorseses «Raging Bull» nicht mehr so gut. Das war 1980. Ex-Batman Michael Keaton zeigt endlich, dass er etwas kann. Und Bridget Fonda als in die Jahre gekommene Surferin ist eine Wucht – und ungemein sexy.
Die Figuren stellt Tarantino in eine Welt, in der die Menschheit keine Gnade kennt, wo Sex meist eine sportliche Angelegenheit ist, ausgeübt in dreissig Sekunden. Dorthin, wo er alles am eigenen Leib erfahren hatte – an den Rand.
Tarantino wurde in einem Nest in Tennesse geboren, lebte zeitweilig in Kentucky, dann in den schmutzigen Hinterhöfen von Los Angeles. Die Mutter war bei der Geburt 16, nach der Zeugung machte sich der Vater, ein Schauspieler, der es zu nichts gebracht hatte, aus dem Staub. Weil Connie, die Mutter, im Fernsehen am liebsten «Rauchende Colts» sah und darin Schönling Quint am tollsten fand, nannte sie ihren Sohn Quentin. Ihr Baby sollte einen Namen tragen, «der gross genug ist, eine ganze Leinwand zu füllen», sagte Connie später.
Connie war selten zu Hause. Statt mit der Mutter verbrachte Quentin die Jugend vor der Glotze. Als Zeitvertreib schrieb er Gruselgeschichten. Was er werden wollte, wusste er schon früh: Regisseur grosser Filme, die Freude bereiten. Nur wie er es werden würde, das war unklar. Wohl daher gleicht sein Leben einem ziellosen Herumlungern, nicht einer Karriere.
Von der Grundschule abgesehen beendete er keine Ausbildung. Die Theaterschule warf ihn raus, weil er Gangster statt dänische Prinzen spielen wollte. Auf eine Filmschule wollte er nicht, «die gehören verboten», sagt er; «wer Filme machen will, muss Filme sehen.» Er heuerte in einer Videothek an, bekam fünf Dollar die Stunde und gratis Filme.
Schlecht ging es ihm trotzdem. Für ein bisschen Geld und ein bisschen Nähe zum Kino nahm er jeden Job an. Er befreite Strände von Kot, damit der schwedische Muskelprotz Dolph Lundgren im sauberen Sand Fitnessvideos drehen konnte. In der TV-Serie «Golden Girls» verkörperte er Elvis. Jean-Luc Godard gab ihm eine Kleinstrolle in «King Lear».
Tarantino trat an Ort. Er begann Drehbücher zu schreiben, die keiner zu Ende las, weil sie «Dreck» seien, sagten ihm die Leute, die später genau diese Bücher teuer erstanden.
Dann kam «Reservoir Dogs» und der Aufstieg in den Kino-Olymp. Nun wurde Tarantino verehrt für das, was er streng genommen schon immer war: Ein Geek, ein spleeniger Filmfreak, der alles abgöttisch liebt, was die Popkultur hervorbringt. Grenzen zwischen Hochkultur und Trash gibts da nicht. Godard hat einen immensen Wert, genauso die Serienmörderflicks der achtziger Jahre. Buñuels Horrorklassiker «Un chien andalou» nennt er in einem Zug mit dem «Kettensägenmassaker». Das Hongkong-Kino kennt er in- und auswendig, den italienischen Neorealismus mag er so sehr wie das Kung-Fu-Kino oder die schwarzen Superheldenfilme der siebziger Jahre. «Keiner hat mehr Filme im Kopf als Quentin», sagt sein Lieblingsschauspieler Samuel L. Jackson. Tarantino, die Bildermaschine.
In Tarantinos grotesker Kinowelt diskutieren Drogenhändler in Anzügen über die Auswirkungen des Zehner-Zahlensystems auf die Namensgebung von Hamburgern in Paris. Oder der fett gewordene einstige Hausfrauen-Schwarm John Travolta sitzt auf dem Klo und liest Comics, nur um sich erbärmlich erschiessen zu lassen. Ein Undercover-Cop muss zusehen, wie dem winselnden Kollegen ein Ohr abgeschnitten wird. Im neusten Film schauen Waffenhändler und ein eben entlassener Sträfling im Sofa sitzend «Chicks with Guns» an, ein Verkaufsvideo, in dem grossbusige Bikini-Models Gewehre und Pistolen präsentieren.
«Das beste, was in den neunziger Jahren im Kino zu sehen war», nannte die New Yorker Filmkritik-Päpstin Pauline Kael jene Szene in «Pulp Fiction», in der ein Dealerpaar in dunklen Anzügen darüber rätselt, ob eine Fussmassage irgendwas mit Sex zu tun habe.
Weil er ans perfekte Bild, an die perfekt erzählte Geschichte, den perfekten Dialog glaubt, schuf Tarantino Kino, das man in vierzig, fünfzig Jahren noch sehen kann – im Gegensatz zu David Lynch, dessen gekünstelte Ästhetik schon nach wenigen Jahren altbacken wirkt. Anders bei Tarantino. Der setzt wie kein anderer das Leitmotiv der Neunziger, nämlich die totale Auflösung der Wirklichkeit, in Bilder und Episoden um. Wahrscheinlich wird sein Werk dereinst als nackter Realismus des späten zwanzigsten Jahrhunderts gedeutet werden.
Tarantino klaut überall; dazu steht er. Er machts, weil er das Publikum für mündig hält. «Heute hat jeder Kinogänger tausend Filme im Kopf. Wenn er in meinem Werk ein paar davon wieder sieht, freut er sich darüber», sagt er.
Und die Gewalt? Die ist in Tarantinos Werk nebensächlich. Wer Brutalität und Blut wegdenkt, ist verblüfft. Im Gegensatz zur Mehrzahl Knallerfilme bleibt bei Tarantino stets Kunst stehen: Raffinierte Erzählstrukturen. Grandiose Bilder. Dialoge, wie sie keiner sonst schreiben kann. Famose Akteure. Genau beobachtete Stadtporträts. Studien über das Verhältnis der Geschlechter und der Rassen. Und immer wieder die Liebe. Serviert als hochklassige Unterhaltung.�