Von Peter Hossli
Wenn immer die Projektplaner der Walt Disney Company einen neuen Zeichentrickfilm vorbereiten, wollen sie hoch hinaus. Der Umsatz an der Kinokasse und im Spielzeugladen soll grösser, die Wahl des Stoffes und dessen künstlerische Umsetzung origineller, die weltweite Resonanz imposanter werden.
Doch diesmal sieht die Wahrheit anders aus. Mit ihrem 33. abendfüllenden Animationsfilm «Pocahontas» haben die Disney-Strategen die Legende einer der romantischsten Heldinnen aller Zeiten wiederbelebt – und sich verkalkuliert.
Der erstmalige Versuch, aus einer historisch verbürgten Geschichte ein keimfreies Disney-Märchen, eine «boy meets girl, boy gets girl, boy loses girl»-Story zu drehen, scheiterte sowohl finanziell, artistisch wie auch historisch. Im Kino schlugen die Kinderherzen nicht höher, die Elternportemonnaies blieben geschlossen.
«Pocahontas», der jetzt in der Schweiz anläuft, spielte an den Kinokassen in den Vereinigten Staaten nur noch die Hälfte seines Vorgängers «The Lion King» ein. Als «Mogelpackung» bezeichneten diverse Indianerorganisationen das gezeichnete Musical. «Disney hätte den Namen «Pocahontas» von diesem Film entfernen müssen», sagt die Indianerin Shirley «Little Dove» Custalow McGowan, die zuvor als Disney- Beraterin wirkte. Ihrem fachkundigen Rat folgte in Burbank allerdings niemand. «Wahr ist bei «Pocahontas» höchstens der Name», sagt Peter Lampe, Autor von «Pocahontas: Die Indianer-Prinzessin am Englischen Hof».
Um 1607 sollen in Jamestown laut Kinofilm die zarten Liebesbande zwischen der Prinzessin Matoaka vom Stamm der Powhatan und dem britischen Kapitän John Smith einen blutigen Krieg zwischen englischen Neuankömmlingen und amerikanischen Ureinwohnern verhindert haben. Matoaka, von den Legendenschreibern bald Pocahontas genannt, war die Tochter von Häuptling Powhatan, der über 40 Algonquin-Stämmen vorstand.
Hätten die Disney-Animatoren und -Autoren die historischen Quellen sowie das Alter der beiden vermeintlichen Friedensapostel bei deren Treffen berücksichtigt, wäre der Film kaum jugendfrei und John Smith der Pädophilie überführt. Pocahontas war beim Rencontre mit dem grobschlächtigen Engländer erst elf, Smith schon bald dreissig Jahre alt. Die im Film suggerierten zärtlichen sexuellen Aktivitäten waren in Wirklichkeit mehrfache brutale Vergewaltigungen.
«Kleider», schreibt der Historiker William Rasmussen in seinem Buch «Pocahontas: Her Life and Legend», «trugen Powhatan-Kinder keine.» Ihre Körper waren fast gänzlich mit Echsen und anderen Wildtieren tätowiert.
Mit einer solchen Geschichte ist bei den Kleinen kein Staat zu machen. Kurzerhand deuteten die drei Autoren von «Pocahontas» die Handlung um. Sie verheimlichten alles, was ihnen nicht kindgerecht erschien oder nicht ins prüde Weltbild Disneys passte.
So verlor der mittlerweile zum amerikanischen Volkshelden avancierte John Smith zwei Jahre nach dem Treffen mit Pocahontas seine holde Männlichkeit. Bei einem Unfall explodierte in seinen Hosentaschen eine Ladung Schiesspulver. Gemäss Smith’ eigenem Tagebuch ging ihm dabei eine «ganze Menge Fleisch» in der Lendengegend abhanden.
Pocahontas selbst wurde im Alter von 16 Jahren von den britischen Kolonialisten in ein Fort entführt und in Gefangenschaft gewalttätig zum Christentum bekehrt. Von nun an hiess sie Rebecca. Ein neureicher Zigarrenbaron namens John Rolfe vergewaltigte, schwängerte und heiratete sie – in dieser Reihenfolge. Nach der Geburt ihres Sohnes Thomas verschleppte Rolfe die gesundheitlich angeschlagene Pocahontas nach England, wo sie ein Jahr später, unfähig, sich an die europäischen Mikroben zu gewöhnen, an Tuberkulose verstarb.
Der ihr angedichtete Lover John Smith war ein dubioser, selbstsüchtiger Kerl. Vor seinen Amerikareisen bekämpfte er in Europa die Osmanen und die Russen. Aus türkischer Gefangenschaft entkam der polygame Smith bloss, weil er der Frau eines schlappen Paschas in den hintersten Gemächern des Palastes seine Liebesdienste anbot.
Sein Charakter wurde für den Film kurzerhand vom egomanischen, kaum vertrauenswürdigen Krieger und Historiker zum feinfühligen und politisch korrekten, gar feministisch angehauchten Jüngling zurechtgerückt. Sein Äusseres veränderten die Disney-Zeichner vom dicklichen Bartträger zum sportlich blonden Recken. Mit Pocahontas soll Smith in Amerika auch noch eine Frau gefunden haben, die ihn auf einen pazifistischen und ökologischen Pfad führte.
Tatsächlich aber kümmerte ihn die indigene Frau wenig. Seine Begegnung mit Pocahontas und seine Gefangenschaft unter den Powhatans notierte Smith erstmals in seinem Buch «General History of Virginia» in einer Randbemerkung. Allerdings erst 1624, siebzehn Jahre nach dem im Film geschilderten angeblich romantischen Treffen.
Über ethnografische Details schauten die Disney-Historiker geflissentlich hinweg. Powhatan-Indianer lebten vor vierhundert Jahren in langgezogenen Häusern, die kleinsten waren über fünfzig Meter lang. In «Pocahontas» hausen sie in primitiven Hüttchen, was Rose Powhatan, eine direkte Nachfahrin von Pocahontas Onkel, «schlicht lächerlich» findet. «Die haben bei Disney so viel Geld und hätten es sich leisten können, gewiefte Ethnologen zu beschäftigen.»
Oder aber Historiker. Gerecht wird der Film näm- lich auch den Kolonialisten nicht. Diese werden als gierige Goldsucher geschildert, die bloss nach Amerika kamen, um die vermeintlich reichen Minen der Virginia Hills zu plündern. In Wirklichkeit liegen die Blue Ridge Mountains, der einzige Ort, wo in Virginia ein paar wenige Goldadern begraben sind, über 100 Meilen von Jamestown entfernt. Die gestrandeten Seefahrer kämpften ums nackte Überleben in den von Malaria verseuchten Sümpfen um Jamestown. An beschwerliche Reisen in das Hinterland dachte niemand. Der Goldrush kam ohnehin erst im 19. Jahrhundert – in Kalifornien.
Disney, ist Indianerin Rose Powhatan überzeugt, erfand die nie gelebte Liebesgeschichte für die grosse Leinwand nur deshalb, weil «das weisse Amerika die erste Begegnung zwischen Engländern und Indianern friedlich und romantisch sehen möchte». Das Bild der edlen Wilden vervollständigt die lieblich gezeichnete, stark sexuell aufgeladene und dem weissen Mann hörige Exotin. Die gezeichnete Version von Pocahontas’ Gesicht basiert auf dem Antlitz von Supermodel Christy Turlington.
«Disneys Pocahontas ist eine rein artifizielle Erscheinung», sagt Rose Powhatan zur stereotypen sexuellen Ausstrahlung der Film-Indianerin. Rose selbst ist stolz auf ihre breite Nase, ein typi- sches Merkmal der Powhatan-Indianer. «Das Model-Gesicht der Film-Pocahontas reichte höchstens dazu, als Puppe das Weihnachtsgeschäft von Disney zu beflügeln.» �