Weggeworfen wie ein gebrauchtes Kleenex

Zwei Filme versuchen, den Mythos einer Amerikanerin in Paris zu entschlüsseln.

Von Peter Hossli

Am 8. September 1979 findet die Pariser Gendarmerie in einer kleinen Nebenstrasse im vornehmen 16. Arrondissement eine zierliche Frau mit kurzen, blondgrauen Haaren. Sie liegt, vollgepumpt mit Alkohol und Schlafmitteln, in einem weissen Renault 5. Jean Seberg, der das verbeulte Auto gehört, hat bei der Polizei zuvor während zehn Tagen als vermisst gegolten. Für den diensthabenden Arzt steht nach Obduktion der Leiche fest, dass die als psychisch labil geltende amerikanische Schauspielerin Tabletten geschluckt und dazu reichlich Whisky getrunken hat: «Dieser selbstgebraute Todescocktail vergiftete sie.» Akte geschlossen.

Kurz darauf versammelt Romain Gary in Paris die internationale Presse. Der Romancier beschuldigt die amerikanische Bundespolizei FBI, seine Ex-Frau getötet zu haben. Andere glauben, Agenten des französischen Service secret hätten die Schauspielerin wegen deren Kontakten zum algerischen Widerstand liquidiert.

Oft sterben berühmte Menschen geheimnisumwittert. Lassen sich aus den Todesumständen aber rätselhafte Verschwörungstheorien ableiten, werden die Toten zu Legenden. Am Filmfestival Locarno sind jetzt gleich zwei Filme zu sehen, die das Leben und den nie gänzlich geklärten Tod der Amerikanerin in Paris nachzeichnen. Mark Rappaport, der New Yorker Dokumentarist und Videoschaffende, seziert in seinem collageartigen Film «From the Journals of Jean Seberg» anhand dokumentarischer und fiktiv nachgestellter Szenen die Lebens geschichte einer Frau, die mit jedem Lebensjahr weniger Aussichten auf gute Rollen in Hollywood hatte.

Während Rappaport in Mary Beth Hurt eine Schauspielerin gefunden hat, die in seinem Film als Seberg auf deren Leben zurückblickt, verfährt das Tessiner Bruderpaar Fosco und Donatello Dubini konventioneller. In «Jean Seberg – American Actress» suchen die beiden Schauplätze und Stationen auf, welche die Seberg prägten, sprechen mit Leuten, die sie kannten, und verweben gekonnt Film- und Ton ausschnitte mit selbst gedrehten Aufnahmen zu einem historischen Epochenbild.

««New York Herald Tribune», «New York Herald Tribune»» – mit kurzen Haaren, verwaschenem T-Shirt, Röhrchenjeans und ihrem gebrochenen französischen Akzent bleibt Seberg ikonenhaft in Erinnerung. Als auslän dische Studentin, die auf den Champs-Elysées Zeitungen verkauft und Jean-Paul Belmondo, den unwiderstehlichen Beau der Pariser Jeunesse dorée, abblitzen lässt – so stilisierte sie Jean-Luc Godard in «A bout de souffle» 1959 zur Muse der Nouvelle Vague: Jean Seberg befand sich, kaum 21, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.

Entdeckt hatte sie Otto Preminger, der Deutsche in Hollywood, der mit der blonden Seberg wiederholen wollte, was Josef von Sternberg mit der blonden Marlene Dietrich vorgeführt hatte: Der alte Cine ast als Förderer eines Mädchens, das Talent genug hatte, eine grosse Aktrice zu werden. Aus 18 000 Bewerberinnen wähl te Preminger die Tochter schwedischer Einwanderer für die Titelrolle seiner aufwendigen Verfilmung der Jeanne-d’Arc-Legende «Saint Joan» (1957).

Innert weniger Wochen war aus dem Mädchen aus dem Provinznest Marshalltown, Iowa, eine gefeierte Szenengrösse des New Yorker Nachtlebens geworden. Doch «Saint Joan» floppte, und «Bonjour Tristesse», die zweite Zusammenarbeit mit Preminger, der mit Seberg einen siebenjährigen Vertrag hatte, war ebenfalls ein kommerzielles Desaster. Wie «ein gebrauchtes Kleenex», so Seberg später, verkaufte Preminger sie an ein anderes Studio, das sie bloss noch für kleine Nebenrollen zweitklassiger Filme einsetzte.

Jean Seberg ging nach Paris, wo sie 1959 mit «A bout de souffle» zwar den wohl grössten Erfolg der Nouvelle Vague feierte, wirklich Fuss fassen konnte sie jedoch weder im französischen Kino noch in Hollywood. Seberg pendelte zwischen Paris und Kalifornien – und fühlte sich an beiden Orten verloren. «Sie war zu sensibel, zu aufrichtig, um sich im Geschäft der bewegten Bilder zu behaupten», sagt Regisseur Mark Rappaport, «zudem zerstörte das FBI ihre Karriere.»

Seit Seberg in den sechziger Jahren schwarzen Bürgerrechtsaktivisten in Los Angeles Asyl gewährt hatte, galt sie als Staatsfeindin. Die Bundespolizei überwachte ihr Telefon und liess eine 300 Seiten starke Akte über die angebliche Kommunistin erstellen, Codename: «Arisa».

1970 verbreitete das FBI mit Hilfe des Nachrichtenmagazins «Newsweek» die Falschmeldung, Jean Seberg sei von einem Anführer der Black Panther Party schwanger. Die Presse stürzte sich auf die prickelnde Story. Seberg, im siebten Monat schwanger, erlitt einen Nerven zusammenbruch – und verlor ihr Kind.

An der Beerdigung in Marshalltown beugten sich 150 Fotografen über den offenen Sarg und lichteten den toten Säugling ab; er war weiss. Jean Seberg selber begann zu trinken. Beruhigungsmittel wurden ihr Elixir. «Ihre naive Aufrichtigkeit, ihr Glaube an die gute Sache waren Hindernisse auf dem Weg zum grossen Star», sagt Rappaport: Jane Fonda oder Vanessa Redgrave, die während der Sixties ebenfalls gegen das Estab lish ment protestierten, waren damals unantastbar. Seberg dagegen war «talentiert, aber kein Star» und somit «ein leichtes Opfer für die US-Bundespolizei».

Jean Seberg führte ein Doppelleben. Für die Öffentlichkeit war sie eine zerbrechliche, unterkühlt-erotische Androgyne, die den frankophilen Amerikanern gefiel, weil sie von den kultur beflissenen Franzosen adoptiert wurde. Dem prüden Amerika verheimlichte Seberg aber lange, dass sie 1962 als Unverheiratete einen Sohn zur Welt brachte.

Verheiratet war sie viermal. Am längsten mit dem Schriftsteller und Filme macher Romain Gary, der öfter pikante Details aus den sieben Ehejahren in sein Schaffen einfliessen liess, als Seberg lieb war. Jahre nach der Trennung schrieb Gary für den griechischen Regisseur Costa-Gavras das Drehbuch zu «Clair de femme» mit Romy Schneider und Yves Montand. Als Seberg im fertigen Film ihre zermürbende Ehe wieder erkannte, versuchte sie, sich vor die heranrasende Metro zu werfen; der Schaffner konnte gerade noch die Notbremse ziehen. Drei Tage später verschwand sie aus der Wohnung, welche die völlig zurückgezogene Frau damals kaum mehr verliess. Sie konnte nur noch tot gefunden werden.

«Wahrscheinlich brachte sich die Seberg nicht um», sagt Rappaport. «Zu viele ungeklärte Hinweise sprechen für einen als Suizid getarnten Mord.» Die kurzsichtige Frau trug immer eine Brille, wenn sie Auto fuhr – gefunden wurden ihre Augengläser nie. Der Alkoholspiegel in ihrem Blut, 7,94 Promille, war zu hoch, als dass sie bei Bewusstsein eine solche Menge gebrannten Wassers hätte konsumieren können. Obwohl sie einige Tage tot im Auto lag, war ihr Renault nicht mit Herbstlaub bedeckt: Das Auto wurde mitsamt der Leiche umparkiert.

«Über die Todesursache zu rätseln ist heute sinnlos», findet Rappaport, «Jean Seberg hätte ohnehin nicht mehr lange gelebt.» Als sie starb, war sie ein körper-liches und psychisches Wrack. Nach wochenlangen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken und mehreren Versuchen, ihre Tabletten- und Alkoholsucht zu kurieren, kapitulierte Jean Seberg vor sich selbst.

Zwei Filme über Jean Seberg: Historiker hinter der Kamera

Mark Rappaport, 44, lässt in «From the Journals of Jean Seberg» Mary Beth Hurt das Leben Sebergs nacherzählen. Hurt wuchs, wie Seberg, in Marshall town, Iowa, auf. Rappaports Beweggründe für den Film waren ursprünglich feind seliger Natur: Vor drei Jahren erfuhr er, dass Jodie Foster beabsichtige, einen Film über Seberg zu drehen und dessen Titelrolle zu spielen. Weil er die Vorstellung einer Foster/Seberg «unerträglich» fand, nahm er sich vor, schneller zu sein. Im grossen Interesse an der Figur – auch Sharon Stone plant einen Seberg-Film – erkennt er den Trend «zur Neubeurteilung der politischen Ereignisse der Sixties».

Die Tessiner Brüder Fosco, 40, und Donatello Dubini, 39, sind filmende Histo riker. Sie stellen ihre Figuren stets in einen geschicht lichen Kontext. Anhand real existierender Menschen – Ludwig II. in «Ludwig 1881», Ettore Majorana in «Das Verschwinden des Ettore Majo rana» oder nun Jean Seberg – versuchen sie, Strömungen und Stimmungen einzufangen.