Von Peter Hossli
Hundert, vielleicht tausend leblose Körper verschwinden im schwarzen Schlund der staubigen Erde. Empor steigt ein geläutertes, vom Joch der Diktatur befreites Land. Noch sind die tiefen Narben aber sichtbar, die Wunden kaum verheilt.
Anhand eindringlicher Metamor phosen reflektiert der Südafrikaner William Kentridge in seinem neuen Animationsfilm die dramatische Übergangsphase, in der sich das Land am Kap von Afrika befindet.
«Felix in Exile», Kentridges aus Kohlezeichnungen animierte neunminütige Allegorie auf das Apartheidsystem, ist gleichermassen ein Versuch gegen das Verdrängen wie ein Appell an das Erinnern. «Das heute demokratische Süd afrika wurde aus vielen toten Menschen errichtet, aus bitterem Schmerz, den uns die Geschichte hinterlassen hat», sagt Kentridge, 40, dessen Grosseltern aus Litauen nach Südafrika kamen.
Sein filmisches Gesamtwerk wurde letzte Woche am Festival für Animations film im hochsavoyischen Annecy, dem Cannes der Trickfilmkunst, vorgestellt. Sowohl sein Wettbewerbsbeitrag «Felix in Exile» wie die in den vergangenen zehn Jahren entstandenen elf Kurzfilme waren Höhepunkte eines gesamthaft enttäuschenden Festivals.
Kentridge sieht sich nicht als Anima tionsfilmer. Er ist ein universeller Künstler, einer, der sich in verschiedenen Bereichen bewegt, Theaterstücke adaptiert und inszeniert, Bilder zeichnet oder für das Fernsehen arbeitet. Trickfilme begann er nur zu drehen, «weil ich mein Schaffen als Zeichner mit einer Bolex kamera dokumentieren wollte». Seine Filme entstehen aus einzelnen Illustrationen, die animiert werden und, auf Leinwände projiziert, zum Leben erwachen.
In der Schweiz ist die führende Persönlichkeit der noch kleinen südafrikanischen Animationsfilmgemeinde kein Unbekannter. Vor zwei Jahren zeigte er am Zürcher Theater Spektakel «Woyszek on the Highveld», ein multimediales Bühnenspiel, arrangiert aus Trickfilmen und Marionetten.
Entwickelt Kentridge Theaterstücke, so sucht er nach einer «vierten Dimen sion», der schöpferischen Wiedergabe seiner eigenen Gedanken. Mit der In szenierung auf der Bühne bewegen sich seine Zeichnungen in der Zeit.
Nach Büchner nimmt sich Kentridge nun Goethes an: «Faustus in Afrika», ein Theaterstück mit Animationsfilmen, Schauspielern und Puppen, befindet sich in der Fertig stellung und wird im Herbst auch in Zürich aufgeführt werden. Es soll eine Art «Afrikanisierung» des «Urfaust» werden. Kentridge spürt darin der kolonialen Last der europäischen Kunst nach, der Afrika zusehends erliegt.
Wie bei keiner anderen Filmgattung prägt die Wahl des Materials das Kolorit eines Animationsfilms. Ken tridge zeichnet beinahe ausschliesslich mit Kohle. Diese Technik erlaubt ihm ein schnelles, expressives Arbeiten. Die einzelnen Zeichnungen wirken schroff, die Ränder robust. Er liebt die Kohle, weil sie ein Naturprodukt ist und den Reichtum seiner Heimat verkörpert: «Ich zeichne mit gebrannter Erde.»
Kentridge reflektiert in seinen Filmen sehr genau, was in der südafrikanischen Gesellschaft vorgeht. Dennoch ist er kein politischer Künstler im herkömmlichen Sinn. Polemik ist im zuwider. Sein Werk lässt sich eher mit einem Tagebuch vergleichen. Private Erfahrungen paaren sich darin mit dem Öffentlichen, dem Politischen.
«Ich habe meine vierzig Lebensjahre als weisser Mann innerhalb der Apartheid Südafrikas verbracht», sagt Ken tridge. Als Begründer oppositioneller Künstlergruppen hat er seine Kunst nie als Interpretation, sondern als Reflexion verstanden.
So nimmt sich sein in Annecy mit Lob überhäufter «Felix in Exile» trotz des Demokratisierungsprozesses in Südafrika düster, gar pessimistisch aus. «Der Prozess des Erinnerns ist ein schrecklicher Vorgang. Aber durch Verdrängung können die Wunden nicht geheilt werden.» Kentridges Kohlefilme sind kleine Anstrengungen, mit gebrannter Erde das Verdrängen zu verhindern.�