Der Informant, der aus der Deckung kommt

Entwicklungsleiter Peter Frutiger wusste, dass die Crypto AG gezinkte Chiffriergeräte verkauft. Die CIA wollte ihn rekrutieren. Nach Gewissensbissen trat er aus der Firma aus und klärte die Schweizer Behörden auf. Jetzt redet er.

Von Peter Hossli und Daniel Meier

Sein Büro sei abhörsicher, betont Peter Frutiger. «Um ein Handy zu überwachen, muss einer schon vor dem Fenster zuhören.» ­­Frutiger – grauer Haarkranz, graublaue Augen – sitzt in einem kahlen Raum, mitten im malerischen Dorfkern von Wangen bei Dübendorf, unweit des Militärflugplatzes. Ein Tisch, drei Stühle, auf dem Boden Spannteppich.

Das Aufnahmegerät läuft. Frutiger erzählt, was er bei der Crypto AG erlebt hat. Seine Aussagen sind bemerkenswert. Einiges lässt sich überprüfen, anderes nicht.

Er war bis 1977 Entwicklungschef und Vizedirektor. Die Zuger Firma verkaufte jahrelang gezinkte Chiffriergeräte. Die Apparate waren mit Hintertüren versehen, damit der amerikanische Geheimdienst CIA und sein deutsches Pendant BND mithören konnten.

Frutiger wusste Bescheid. Seit rund 25 Jahren spricht er aus der Deckung heraus darüber. Jetzt erzählt er erstmals mit Namen und Bild. «Ich rede wegen meiner Gemahlin», erklärt er. «Sie ist vor wenigen Wochen verstorben, zerbrochen an der Angst vor der CIA.» Jetzt, nach dem Tod der Frau – «wir waren 55 Jahre verheiratet» –, kann er offen sprechen.

Lange Zeit war Frutiger für Reporter eine anonymisierte Quelle. «Ich weiss, dass deutsche und amerikanische Geheimdienste ­Crypto-Geräte so manipulierten, dass sie für diese Dienste abhörbar wurden», zitierte ihn 1994 das Schweizer Fernsehen als «Mister X».

Im März wird Frutiger 84 Jahre alt. Er hört nicht mehr gut, was das zweistündige Gespräch erschwert. Fragen liest er vom Bildschirm ab, er beantwortet sie aber klar.

Frutigers Name erscheint mindestens auf einem CIA-Dokument, das Historikern half, Bücher über die Geschichte der Spionage zu verfassen. Darauf festgehalten ist ein Treffen im August 1975 in den USA. Frutiger nahm teil, zwei weitere Mitarbeiter der Crypto AG, zwei Mitarbeiter des US-Geheimdienstes NSA und drei Angestellte von Motorola. Der US-Konzern und die US-Spione sollten der Crypto helfen, neuartige Geräte zu bauen. Die «Baltimore Sun» belegte 1995 mit dem besagten Dokument den «vielleicht verwegensten Spionagecoup». Die US-Journalisten erzählten damals die ­Geschichte, die SRF, «Washington Post» und ZDF jetzt mit vielen Aussagen bestätigen.

Die Einweihung

Schon als kleiner Bub ver- und entschlüsselte Frutiger gerne Texte. Nach der Matura studierte er an der ETH Zürich zuerst Elektronik, später Mathematik und Physik. Als er sich auf eine freie Stelle bei der Crypto AG bewarb, war er bei der ETH als Forscher angestellt.

Nach seinem Stellenantritt stand in Zug ein Wandel an, den Frutiger durchzuziehen hatte: Crypto stellte um, von mechanischen auf elektronische Geräte, von Zahnrädern zu Schaltungen. Wobei die alten Geräte mit den neuen kommunizieren mussten – was nicht eben trivial war. Um die komplexe Aufgabe zu meistern, musste Frutiger die bisherigen Geräte bis ins hinterste Detail verstehen. Sonst hätte er die mechanischen Verkettungen nicht elektronisch umsetzen können.

Der Gründer der Crypto AG, der Schwede Boris Hagelin, weihte den jungen Schweizer ein. Er erzählte ihm, man verkaufe gesicherte und unsichere Chiffriergeräte, je nach Kunde. Bei Letzteren könnten die CIA und der BND verschlüsselte Texte entschlüsseln. Das Programm heisse Minerva. Frutiger war an Herrschaftswissen geraten. «In der Crypto gab es neben Hagelin und mir niemanden, der die Details so gut kannte», sagt er.

Der Schweizer beschreibt den Schweden als «nett und ehrlich». Die Haltung Hagelins beeindruckte Frutiger. Er habe die Idee für Minerva aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Codeknacker die verschlüsselten Botschaften der Nazis dechiffrieren konnten. Das half den Alliierten, die Nachrichten deutscher ­U-Boote abzuhören, was den Krieg entschied.

Der Mythos vom Kampf gegen das Böse band Frutiger an die CAG, wie die Crypto AG im Jargon hiess. Er glaubte, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. «Anfänglich entwickelte ich saubere Geräte, bis der BND verlangte, die Sicherheit einzuschränken.»

Er reiste um die Welt, besuchte Kunden in 30 Ländern, in Afrika, Südamerika, im Nahen Osten. Er traf sich mit Geheimdienstlern, die hinter der CAG standen. Gegen 50-mal sei er im Hauptquartier des BND im bayrischen Pullach gewesen, «vielleicht 10-mal» nach Amerika gereist, meist allein. «Hagelin wollte verhindern, dass ich Kollegen mitnahm», so Frutiger. «Damit niemand Verdacht schöpfte.»

Er besuchte Washington und reiste in die Wüste nach Arizona. «Die CIA hat mir dort den hintersten und letzten Ort gezeigt, einmal führten sie mich 10 Stockwerke unter Tag.» US-Spione bildeten ihn aus, brachten ihm bei, wie er mit Kunden zu reden habe. Geheimdienstler hätten zudem seine Frau instruiert, wie sie Gäste gesellschaftlich ausführen solle.

Mehrmals traf er sich mit Nora Mackabee, einer Mathematikerin des NSA. «Eine blitzgescheite Frau», sagt Frutiger. Einen anderen NSA-Mitarbeiter, Bob Pfeifer, besuchte er auf dessen Ranch bei Scottsdale in Arizona.

Mackabee wie Pfeifer nahmen im August 1975 am dokumentierten Treffen teil.

Das Angebot der CIA

«Die Leute bei der CIA haben mir alles gezeigt, weil sie mich behalten wollten», sagt Frutiger.

Der Schweizer schien den Amerikanern zu imponieren. Ein Ingenieur, sprachgewandt, der rechnen kann, Physik kennt, ausgebildet an einer der besten Hochschulen der Welt. «Die CIA wollte mich nach Amerika holen», sagt er. Zu Beginn der siebziger Jahre habe der US-Geheimdienst ihm eine Stelle angeboten: 100000 Dollar Lohn, dazu ein Einfamilienhaus mit Swimmingpool in einem geschlossenen Wohnkomplex nördlich von Boston. «Das war viel Geld», sagt Frutiger. «Ein Dollar war damals vier Franken wert.» Frutiger lehnte ab. Er hatte eben ein Haus in Wangen gebaut. «Es kam für mich nicht infrage, die Familie mit drei kleinen Knöpfen nach Amerika zu verpflanzen.» Freunde rieten ihm davon ab, in die USA zu ziehen.

Stattdessen brachte er die Crypto zur Blüte. Als er anfing, hatte die Firma erst wenig Angestellte. Als er 1977 austrat waren es 200. «Der Umsatz vervielfachte sich», sagt Frutiger. Es schien ein Geschäft ohne finanzielle Risiken zu sein. Schrieb die Firma Verluste, deckte sie die CIA. Was vorkam, sagt Frutiger. «Unsere Entwicklungen waren kostspielig. Fragten wir, wer das zahlen würde, hiess es: Das Geld ist da.» Wusste er, woher es kam? «Die CIA zahlte.» Um sicherzugehen, dass sich gewisse Länder die Geräte leisten konnten, hätten die USA sogar Militärkredite gewährt.

Er beschreibt ein kollegiales Arbeitsverhältnis bei der Crypto. «Wir haben uns alle geduzt, von der Sekretärin bis hin zum Direktor.» Es habe ein «grosses gegenseitiges Vertrauen geherrscht». Frutiger genoss in der Firma einen guten Ruf. «Sie schauten mich ein bisschen an wie den ‹Herrgott›, weil niemand ähnliche mathematische Kenntnisse hatte, ich sagte immer: ‹Ich bin ein ganz normaler Mensch.›»

Einen Kunden mochte er besonders, den persischen Schah Reza Pahlavi. Die Crypto verkaufte Verschlüsselungstechnologie nach Iran. Im Engadin rüstete Frutiger die Villa des Persers damit aus. Da Pahlavi um seine Sicherheit fürchtete, habe er Frutiger gebeten, ihn nach St. Moritz zu chauffieren. Statt im iranischen Tross mitzufahren, sei der Schah in Frutigers Mercedes gestiegen, getarnt mit Perücke. «Ich fuhr ihn mehrmals ins Engadin.»

Freundschaft mit dem Schah

Es sei diese Freundschaft gewesen, die bei ihm Zweifel geschürt habe. Bei einem Gespräch in der Villa in St. Moritz sagte der Schah zu Frutiger, man müsse mittlerweile aufpassen bei Chiffriergeräten, es seien gezinkte im Umlauf. Deshalb kaufe er bewusst bei der Crypto AG ein, Schweizern können man vertrauen.

Das Gespräch verstärkte Frutigers Gewissensbisse. Weil der Schah wohl die fingierten Geräte erhalten habe. «Da wurde ich skeptisch und fragte mich, ob das moralisch tragbar sei.» Sein Schluss: «Das ist ein Problem.»

Er konnte es nicht mehr verantworten, «Krämpfe in Geräte einzubauen», wie er sagt. Als er Bedenken anbrachte, stiess er beim neuen Chef, bei Heinz Wagner, auf kein Gehör. Es kam zum Bruch. Per Brief verabschiedete er sich am 28. April 1977: «Ich bin zutiefst enttäuscht von dieser Direktion und deren mehrheitlich falschen Darstellungen von aktuellen Problemen und natürlich über die verdrehte Darstellung meines Falles. Sie begreifen sicherlich, dass ich mit dieser Direktion nicht wieder zusammenarbeiten werden kann.»

Es gibt eine Darstellung, wonach er entlassen wurde. Diese Woche erzählt Frutiger, die Amerikaner hätten ihn behalten wollen und ihm sogar einen Bleibebonus von 1,5 Jahresgehältern angeboten. Überprüfen lässt sich das nicht. Sicher ist: Frutiger ging. Nach dem Ausstieg hätten ihm CIA-Agenten mit dem Tod gedroht, sollte er reden, fügt er an. Und: «Man hat sechs Anschläge auf mich verübt.» Gleichwohl schwieg er nicht. Der damalige Leiter der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen Kurt Bolliger fragte ihn, ob die Gerüchte um die Crypto AG stimmten. «Darauf habe ich Bolliger alles erzählt», so Frutiger. «Wir hatten vor, es sofort EMD-Chef Rudolf Gnägi zu melden, aber es kam nie dazu.» Ob Bolliger, 2008 verstorben, das nachholte, wisse er nicht.

Bolliger begleitete Frutiger zu einem Gespräch mit dem Chef des Flieger- und Fliegerabwehrnachrichtendienstes, Rolf Lécher. Wieder will Frutiger alles offengelegt haben. «Lécher sagte: ‹Wir können das nicht verarbeiten.›» Gleichwohl ging Frutiger davon aus, man werde bei der Crypto jetzt einschreiten. «Ich habe nie etwas gehört, null, es ist nie etwas passiert.» Trotz drei eingeschriebenen Briefen nach Bern, in denen er Antworten verlangt habe. «Es kam nie etwas zurück.»

Schliesslich nahm er mit dem ehemaligen Bundesanwalt Hans Walder Kontakt auf. «Hier in Wangen habe ich ihm die gesamte Story erzählt», sagt Frutiger. «Er versprach mir, sich der Sache anzunehmen, meinte aber, das brauche Zeit, es sei halt nicht einfach, und er müsse schauen, mit wem er das behandeln könne, zumal das eine sehr heikle Angelegenheit sei, es mache nur Sinn, wenn man das seriös mache.»

Später habe Walder ausrichten lassen, man habe von der Crypto keine Geräte erhalten, deshalb könne man es nicht untersuchen. «Die hätten das ohnehin nicht verstanden», sagt Frutiger. Hagelin habe stets gesagt, das komme nicht heraus, weil es niemand verstehe. «Die Herren der CIA beruhigten mich mit dem Argument, Komplexität sei die Tarnung. Anwälte hätten keine Ahnung von Mathematik.»

Wussten Schweizer Politiker etwas über Crypto? Frutiger lacht. «Schweizer Politiker verstehen Chiffrierungen nicht.»

Frutiger redet über den tödlichen Autounfall 1970 von Bo Hagelin, dem Sohn des Firmengründers. Er habe es als problematisch eingestuft, manipulierte Geräte zu verkaufen. «Er sagte dem Vater, er dürfe das nicht tun», erzählt Frutiger. «Die beiden sind mehrmals aneinandergeraten.» Später mochte der Vater nicht glauben, dass sein Sohn – «ein guter Autofahrer» – verunfallt sei. Vergebens versuchte er, die Umstände herauszufinden.

Zuletzt schildert Frutiger einen aktenkundigen Überfall im Mai 2017, mitten in der Nacht in Wangen. Bewaffnete Personen seien in sein Haus eingedrungen, hätten seiner Frau den Schmuck vom Körper gezerrt, nach Dokumenten gesucht. Er konnte die Polizei rufen, die Angreifer flohen vor deren Ankunft.

Frutiger vermutet, er sei überfallen worden, weil die Crypto AG verkauft werden sollte. Dahinter stünden Geheimdienste. «Man wollte versuchen, Dokumente zu zerstören.» Die Kantonspolizei glaubt, es sei ein Raubüberfall gewesen. «Gestohlen haben sie nichts Wichtiges», sagt Frutiger. «Nur die Offizierspistole. Die Munition fanden sie nicht.»

Der Überfall setzte seiner Frau zu. Fortan dachte sie bei jedem Anruf, die CIA stelle ihr nach. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch und verstarb wenige Wochen danach. «Mein Leben ist nicht mehr mein Leben», sagt Frutiger. Der sonst kontrollierte Mann beginnt zu weinen. «Meine Gemahlin hat immer gesagt, wenn es herauskommt, gibt das Probleme.»