Interview: Peter Hossli Fotos: Pascal Mora
Gino Strada (67) ist Mailänder, Chirurg – und Gewinner des diesjährigen Right Livelihood Awards, des alternativen Nobelpreises. 1994 gründete er Emergency. Bis heute hat die Organisation über sechs Millionen Kriegsversehrte behandelt.
Doktor Strada, warum ziehen Sie in den Krieg?
Gino Strada: Es ist nötig. Dort hat es viele Verwundete, aber wenige Ärzte.
Sie selbst haben 30000 Kriegsopfer operiert …
… es sind mittlerweile wohl mehr, aber ich habe aufgehört, zu zählen …
… wie ertragen Sie solches Leid?
Es ist schwierig und schockierend. Aber leider habe ich mich daran gewöhnt.
Weil Krieg Ihr Alltag ist?
Seit 25 Jahren verbringe ich jährlich zehn Monate in Kriegsgebieten. Ob meine Heimat Italien oder Afghanistan ist, weiss ich nicht mehr. Der Krieg ist meine Realität, meine Arbeit.
Was ist an Gaza, Afghanistan und Irak attraktiv?
Diese Orte sind nicht attraktiv. Es ist meine Pflicht, dort medizinische Hilfe anzubieten. Für einen Arzt ist die Arbeit spannend.
Menschen verletzen Menschen, die Sie dann behandeln. Macht Sie das wütend?
Wütend macht mich der Krieg. Politiker wissen oft nicht, dass 90 Prozent der Opfer Zivilisten und nicht Soldaten sind. Reiche und Mächtige erklären Kriege. Dann schicken sie Söhne der Armen zum Sterben und Töten an die Front. Bush startete den Irak-Krieg. Im Irak starben aber viele Soldaten, die Rodriguez und Martinez hiessen. Politiker blenden die Realität des Krieges aus.
Behandeln Sie Soldaten?
Eher selten. Da die meisten Opfer ja Zivilisten sind.
Warum ist das so?
Werfen Sie eine Bombe aus einer Höhe von 10000 Metern ab, treffen Sie Zivilisten. Es gibt keine Stadt namens Terror City, die man bombardieren könnte.
Verurteilen Sie Soldaten?
Ein Arzt ist kein Richter. Sehe ich einen Verwundeten, frage ich nicht: «Wer sind Sie, wen haben sie gewählt?» Ich helfe ihm.
Selbst wenn er tötete?
Ein Arzt hat keine Feinde. Die Richter befassen sich mit jenen, die Kriegsopfer zu verantworten haben. Mich kümmern jene, die von Bomben getroffen werden. Nicht, wer sie abwirft.
Um den Krieg zu verstehen, muss man doch die Täter kennen!
Nein. Denn alle, die Kriege führen, sind ja gleich.
Bitte? Ein Terrorist handelt wie ein Soldat in Uniform?
Das Wort «Terrorist» steht für Böses, «Soldat» für Gutes. Beide töten. Und beide üben Gewalt an Menschen aus. Also sind beide gleich. Wir nennen sie nur anders.
Sie sahen sehr viel Gewalt. Was lernten Sie über uns Menschen?
Dass unser Gehirn nicht entwickelt genug ist, um zu verstehen, was der wahre Grund dieser Gewalt ist.
Nämlich?
Dass Gewalt gegen Menschen immer ein Verbrechen ist. Und immer neue Gewalt hervorbringt.
Krieg kann aber Selbstverteidigung sein.
So rechtfertigen wir diese Verbrechen. Wir bilden uns ein, gut zu sein, die anderen sind die Bösen, und die Guten müssen sie töten. Diese Gleichung ist zwar simpel, aber sie ist dumm. Weil sie auf der anderen Seite gleich lautet. Dort sind wir die Bösen, sie sind die Guten.
Lässt sich diese Spirale stoppen?
Hoffentlich. Sonst ist unsere Zukunft nicht rosig. Vor 15 Jahren redeten wir uns ein, der Krieg tobe woanders. Nun merken wir, er ist ganz nahe. Bekämpfen wir nicht jede Gewalt, tobt er vor unserer Tür.
Warum ist die Gewalt uns so nahe gekommen?
Weil wir Kriege anzetteln. Schlage ich Sie jedes Mal wenn ich Sie treffe, organisieren Sie sich und schlagen zurück. Dumm, wer das nicht versteht. Seit 15 Jahren starten wir überall Kriege, töten und verletzen Tausende, zerstören Länder, treiben verarmte Menschen in die Flucht. Sagen sie Danke? Sie schlagen zurück!
Krieger vergewaltigen, morden, brandschatzen. Warum werden wir in Uniform zum Tier?
Tiere tun so etwas nicht. Ein Fuchs schleicht zwar in den Stall und holt sich ein Huhn, um es zu fressen. Nie aber greifen 10000 Füchse einen Stall an. Menschen sind brutaler als Tiere.
Wir beide töten nicht.
Weil Ärzte und Reporter das in der Regel nicht tun. Wer aber zum Militär geht, der wählt die Gewalt.
Eine Emergency-Krankenschwester sagte mir im Irak, Helfen sei wie eine Droge. Auch für Sie?
Für mich ist Helfen keine Sucht, es ist eine moralische Verpflichtung.
Sie haben nichts davon?
Doch. Das Gefühl, Gerechtes zu tun.
Was treibt Sie an?
Ein Feuerwehrmann löscht Feuer. Ärzte behandeln Patienten. Mich treibt nichts an. Ich habe diesen Job gewählt, nun übe ich ihn aus.
Sie könnten in einer Privatklinik mehr verdienen.
Interessierte mich Geld, raubte ich eine Bank aus.
Sie sind Kettenraucher. Kümmern Sie sich mehr um die Gesundheit anderer als um Ihre eigene?
Rauchen tötet langsam, ich bin nicht in Eile, zu sterben.
Aber Ihre Gesundheit!
Raucher rauchen gerne. Andere betreiben Extremsport. Aber: Sogar jene, die nie rauchen, nicht trinken, nichts Gefährliches tun, werden sterben!
Sie sind Pazifist …
… Ich bin kein Pazifist, ich bin gegen den Krieg …
… okay, wie besiegen Sie den sogenannten Islamischen Staat?
Das Problem ist nicht dieses oder jenes Monster. In drei Jahren spricht keiner mehr vom IS. Dann haben wir ein neues Monster. Vor drei Jahren sprach keiner vom IS. Damals waren die Taliban die Monster. Heute sollen uns die Taliban helfen, den IS zu besiegen. Alle paar Jahre das Monster auszuwechseln, ist eine gefährliche Strategie.
Sie weichen der Frage aus: Wie stoppen wir den IS?
Wir können ihren Geldfluss stoppen, ihnen keine Waffen mehr verkaufen.
Der IS ist das schlimmste Monster. Seine Schergen sprengen sich in Städten wie Paris in die Luft.
Aus deren Sicht war es Rache für französische Bomben in Syrien. Jede Gruppe setzt die Waffen ein, die sie hat. Hätten sie Jets, hätten sie Paris bombardiert.
Gewalt generiert Gewalt. Wie bringt man eine Partei dazu, die Waffen niederzulegen?
Das geht gar nicht! Alle müssen die Waffen niederlegen. Die Wurzel des Bösen liegt in unserem Glauben, dass wir recht haben und die anderen nicht. Dass wir die Guten sind und die anderen schlecht.
US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump möchte Muslime an der Einreise in die USA hindern.
Donald Trump ist ein Vollidiot. Er gehört sofort in psychiatrische Pflege. Tragisch, dass dieser Idiot US-Präsident werden könnte!
Sie sollten einst italienischer Präsident werden.
Es gab Italiener, die mich vorschlugen. Selbst habe ich keine Sekunde daran gedacht. Zumal ich seit 40 Jahren nicht gewählt habe.
Was, Sie wählen nicht?
Für mich stand nie ein Politiker zur Wahl, der tatsächlich gegen Krieg war.
Sollten alle nicht wählen?
Das muss jeder für sich selber entscheiden.
Die Schweiz ist in Kriegen neutral. Zu Recht?
Neutralität ist gut, aber das reicht nicht. Man muss gegen Krieg sein.
Sie sind 67. Werden Sie die friedliche Welt noch erleben?
Es ist mein grosser Wunsch. Unmöglich ist es nicht. Aber es käme nicht von der Politik, es fiele nicht vom Himmel. Nur wenn wir Bürger das wollen, wird aus Utopie eine Realität.
Sind Sie optimistisch?
Menschen wollen Frieden. Noch nie ging eine Million auf die Strasse, um für Krieg zu demonstrieren. Für Frieden aber schon.