Wie stoppen wir den Terror?

Ex-FBI-Agent Ali Soufan ermittelte jahrelang gegen Al Qaida. Im Interview erklärt er, was Europa nach Paris tun muss

Interview: Peter Hossli

aliHerr Soufan, wird nach den Anschlägen von Paris alles anders?
Ali Soufan: Nicht, was die Gefahr betrifft. Sie bestand zuvor, sie wird weiterhin bestehen.

Was ändert sich denn?
Die europäischen Sicherheitsdienste sind endlich gezwungen, ihre ­Informationen auszutauschen.

Weil das bisher nicht passierte, starben in Paris 129 Menschen?
Die Terroristen kamen aus Syrien zurück. Sie liessen sich in Paris und Brüssel nieder. Weil europäische Geheimdienste ihr Wissen kaum teilen, bemerkte das niemand. Zumal EU-Grenzen offen sind. Nun müssen die Europäer ein System schaffen, um Bewegungen von verdächtigen EU-Bürgern zu melden.

Und wenn das nicht geschieht?
Dann kann in jeder europäischen Stadt passieren, was in Paris geschah. Es gibt ein paar Tausend ­Europäer, die nach Syrien gingen und sich dort dem IS anschlossen. Wir müssen sie bei ihrer Rückkehr abfangen. Diese Leute sind brandgefährlich.

Neu ist, dass sich mitten in Paris Menschen in die Luft sprengen.
Das machte der IS bereits in Irak und Syrien. Nun tragen die Kämpfer diese Taktik nach Europa.

Warum greift der IS neuerdings im Westen an?
Weil der IS in Syrien und im Irak arg unter Druck geraten ist. Das Ziel, ein Kalifat, einen eigenen Staat zu errichten, scheint zu scheitern. Die Muslime laufen ihnen in Syrien nicht in Scharen zu.

Millionen von Syrern fliehen.
Und zwar nicht ins Kalifat, sondern direkt zu den Ungläubigen. In Europa fühlen sich Muslime sicherer.

ali_afghanistanWeil das Kalifat ein Phantom bleibt, kommt der Terror zu uns?
Absolut. Und auf den Sinai, nach ­Libyen, Tunesien – und eben nach Paris. Der IS verliert wegen amerikanischer und russischer Bomben, irakischer Soldaten und den Kurden an Boden.

Wo plant der IS nun Angriffe?
Wo er Sicherheitslücken sieht. Europa ist ein gutes Ziel. Es ist einfach, hier zu reisen. Man kann von der Türkei mit dem Bus nach Brüssel fahren und von dort mit dem Auto nach Paris. Keiner merkt das.

Seit 9/11 investiert der Westen in die Sicherheit. Warum können wir einen Anschlag wie in Paris trotzdem nicht verhindern?
Weil Europa die Privatsphäre über alles stellt und keine Informationen über Reisen von EU-Bürgern austauscht. Das dürfte sich ändern.

Um sicher zu sein, müssen wir die Privatsphäre opfern?
Unsere Freiheit aufzugeben, wäre eine Kapitulation vor dem Terror. Ich will nicht ihre Informationen teilen, sondern jene von Verdächtigen.

Keine einfache Unterscheidung!
Hier liegt der Schlüssel im Kampf gegen den Terrorismus. Wir brauchen intelligente Leute, die genau dies unterscheiden. Es darf nicht sein, dass der Drahtzieher der Paris-Attacken unerkannt durch Europa reist.

Im Januar gab es die Attacke auf «Charlie Hebdo». Hat Frankreich schlechte Geheimdienste?
Nein. Frankreich hat rund 1200 Kämpfer, die nach Syrien gingen. Richten nur wenige unter ihnen nach der Rückkehr etwas Schlimmes an, ist das ein Problem.

Sind in Paris gezielt französische Werte angegriffen worden?
Terroristen wollen keine Werte zerstören. Sie greifen an, um Angst zu schüren – und um die Gesellschaft zu spalten. Sie suchen sich Orte aus, wo genau das möglich ist.

Welche Länder sind gefährdet?
Gelingt ein Angriff in New York, London, Rom oder Berlin, tun sie es. Sie fanden eine Sicherheits­lücke beim Flughafen von Sharm El-Sheikh und sprengten ein russisches Passagierflugzeug in die Luft.

Finden sie eine Lücke in der Schweiz …
… dann greifen sie in der Schweiz an, davon bin ich überzeugt.

Um ein Haar stoppten Sie 9/11. Woran scheiterten Sie?
Der Schlüssel zu allem ist der Austausch von Informationen. Es darf nicht sein, dass Terroristen von ­einer schwerfälligen Bürokratie profitieren. Die USA haben enorme Fortschritte gemacht. US-Behörden arbeiten nun eng zusammen. Europa muss dorthin kommen.

Wie wichtig wären Spione, welche den IS infiltrieren?
Sie sind zentral. Seit zehn Jahren liegt der Fokus auf einer flächen­deckenden Überwachung. Wir sammeln alles. Wer alles sammelt, sieht nichts mehr.

Was Geheimdienste derzeit tun, bringt nichts?
Nach einer Attacke können wir sehr schnell sagen, was geschehen ist. Überwachungskameras klären Verbrechen auf, stoppen sie aber nicht.

Was sollten Geheimdienste tun?
Spione anheuern, die Wissen analysieren. Wir suchen die Nadel im Heuhaufen, sind aber besessen vom Heuhaufen. Vergessen geht dabei die Nadel. Wir klären Attacken rasch auf, weil die meisten Terroristen in irgendeinem System erfasst sind. Wir haben Daten, erkennen aber die Gefahr nicht. Es fehlt der Kontext zu den Daten.

Wer kann Kontext schaffen?
Statt am Computer müssen wir Informationen wieder auf der Strasse sammeln. Es braucht mehr Spione vor Ort, die sehen, was wirklich passiert.

Kann ein Spion unter IS-Terroristen leben?
Klar, das passiert gerade jetzt. Aber es braucht mehr davon.

Was ist der IS?
Der IS ist ein Frankenstein-Monster, halb Bin Laden, halb Saddam. Ihre Ideologie basiert auf Al Kaida, die Führung besteht aus einstigen Gesellen des irakischen Diktators.

Gäbe es den IS ohne Irak-Invasion im Jahr 2003?
Nein, vermutlich nicht.

Dann hat George W. Bush den IS erschaffen?
Diese Erklärung greift zu kurz. Der Irak-Krieg war der Inkubator, der Syrien-Krieg ist der ­Katalysator. Vor Syrien befand sich der IS ja auf dem Rückzug.

Weder die USA noch Frankreich entsenden Bodentruppen. Mit Luftangriffen allein lässt sich der IS aber nicht schlagen.
Sie liegen falsch. Bodentruppen zu fordern, ist Macho-Gehabe – und dumm. Wir haben 2001 nach 9/11 Truppen nach Afghanistan geschickt. Sie sind immer noch dort, die Taliban sind noch dort, der IS ist jetzt auch dort. Es brachte nichts.

Wer kann den IS stoppen, wenn nicht westliche Soldaten?
Der IS ist nur das Symptom einer Krankheit.

Was ist die Krankheit?
Geopolitischer Knatsch unter Saudi-Arabien, der Türkei und Iran; zwischen den USA, der EU und Russland. Zudem hat der Arabische Frühling ein Vakuum im Nahen Osten erzeugt. Die Diktatoren sind weg, niemand hat sie ersetzt. Dieses Vakuum hat einen Nährboden geschaffen für Terror-Gruppen wie Al Kaida, IS oder Al Nusra.

Nochmals: Wer zerstört den IS?
Es gibt genug Sunniten, die den IS hassen, genug Schiiten und genug Kurden, die gegen den IS vorgehen. Sie können den IS bekämpfen, wir beraten sie, helfen aus der Luft. Unsere Truppen bringen nichts. Es dauerte zehn Tage, um Irak zu erobern. Und zehn Jahre, Irak zu verlassen.

Ist dieser Krieg zu gewinnen?
Dieser Feind ist der Feind von allen. Was in Paris geschah, dürfte die Konflikte in Syrien und Irak rascher lösen. Ausser die Syrer sitzen jetzt alle an einem Tisch: die USA, Iran, Irak, Russland, die Türken, die Saudis. Alle sind betroffen. Sie müssen ihre Konflikte überwinden.

Da jedes Land nur für sich schaut, ist das unmöglich.
Gerade deshalb braucht es mehr gute Diplomaten als Soldaten.