“Ich, Avi Rivkind, hätte Hitler das Leben gerettet”

Avi Rivkind ist einer der besten Notfallchirurgen der Welt. Und er behandelt selbst jene, die ihn töten wollen. Jetzt stellt er sich für viele Opfer der neuen Gewaltwelle in Israel ein.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

avi1Avi Rivkind weiss, was er tut. «Ich rette Leben», sagt der grosse Mann mit den grossen Händen. So einfach ist das.

Schon Tausenden hat er das Leben gerettet. Rivkind, der im Zürcher Hotel St. Gotthard frühstückt, ist Notfallchirurg in
Jerusalem. «Wir bereiten uns auf viele Opfer vor», sagt er. Eine neue Gewaltwelle rollt über Israel. Und doch bleibt Rivkind gelassen. Sein Grundsatz: «Ich glaube an das Leben, und ich tue alles, um es zu erhalten.»

Wie macht er das? «Ich kämpfe gegen den Tod», erklärt der Arzt. Er leitet die Trauma-Abteilung des Hadassah Medical Center, eine der grössten medizinischen Einrichtungen im Nahen Osten. Wer sich schwer verletzt, ist bei ihm in guten Händen. Das Hadassah hat eine der höchsten Überlebensraten, höher als viele britische und US-Spitäler. Weltweit bildet er Chirurgen aus. «Unser Personal ist gut», so Rivkin. «Die alten Ärzte haben das Sagen.» Erfahrung rette Menschen. Er selbst ist 65, will operieren «bis 120», sagt er. «Meine Hände sind ruhig, und ich werde jedes Jahr besser.»

Er setzt das Skalpell bei vielem an. Nach Autounfällen, Stich- und Schusswunden, nach Stürzen und Bombenattentaten. Oft behandelt er Hitzschläge. «Jeder Fall ist anders, es ist gar nicht möglich zu sagen, wie man rettet.» Er greift sich einen Kaffee, sagt trocken: «Ich bin vom Leben besessen.»

avi_handSchlafend wach seinEr ist ein besonnener Mann, redet bedächtig, Englisch mit starkem Akzent. Hebräisch ist seine Muttersprache. Seine Vorfahren stammen aus der Ukraine. Im Operationssaal, wenn er arbeitet, sei er zwar «voller Energie», äusserlich aber bleibe er ruhig. «Bist du als Chirurg nervös, steckst du dein ganzes Team an.»

Nie schaltet er das Smart­phone auf lautlos. Nachts liegt es neben dem Bett. «Es ist immer okay, mich um zwei Uhr morgens für eine Operation zu wecken», sagt er. «Beim Schlafen warte ich auf den Anruf, 365 Tage im Jahr.»

Während der zweiten Intifada – dem Aufstand der Palästinenser von 2000 bis 2005 – waren 60 Prozent seiner Patienten Opfer von Gewaltakten. Eine dritte Intifada brächte ihm viele weitere. Zumal das Spital in Jerusalem liegt, nahe der meisten Ziele von Terrorattacken. Rivkind behandelt Israelis und Palästinenser. Nie unterscheidet er zwischen jüdischem und arabischem Leben. Am Montag kam ein 13-jähriger Palästinenser bei ihm an, verletzt von jüdischen Siedlern. Er hatte einen zwölfjährigen Israeli mit dem Messer schwer verletzt. Rivkind nahm beide auf. «Wir retten auch unsere Feinde.»

Und das passt nicht allen. Jüngst entzog eine jüdische Engländerin dem Spital deswegen ihre grosszügige Spende. Rivkind antwortete ihr: «Danke für die bisherige Hilfe, wir werden es ohne sie schaffen.» Zwar nennt er Palästinenser «Terroristen», aber er operiert sie, «egal, was sie glauben».

Über ein Jahr lag ein Mitglied der Terrororganisation Hamas in seinem Spital, verursachte Kosten von einer halben Million Franken. Der Mann wurde im April 2002 bei einem Schusswechsel mit der israelischen Armee verletzt, lag zwölf Tage mit offenen Wunden in der Geburtskirche in Bethlehem. «Als er zu uns kam, wuselten Maden in seinen Gedärmen», so Rivkind. Der damals 25-Jährige roch wie der Tod. «Er tat mir leid.»

Warum pflegt er Menschen, die ihn hassen, die Israel hassen, die Juden töten wollen? «Wir wissen, was Leid ist, Juden müssen Menschlichkeit zeigen», sagt Rivkind. Er erzählt, wie seine Grosseltern in der Ukraine im Holocaust starben, ermordet von Nazis. Sein Vater überlebte nur, weil er sich vor den Schergen tot stellte.

avi2Würde er einem verletzten Nazi das Leben retten? Ohne zu zögern, antwortet er sofort: «Ich, Avi Rivkind, hätte Hitler das Leben gerettet, Yassir Arafat würde ich auch behandeln.» Arafat war bis zu seinem Tod 2004 Palästinenser-Chef.

Und doch zieht Rivkind eine Grenze zwischen ärztlichen Pflichten und Privatleben. Vor bald zwanzig Jahren flog er mit der Lufthansa nach Argentinien. An Bord steckte er notfallmässig einem älteren Mann mit blockierter Blase einen Katheter, was ihn vermutlich vor dem Tod bewahrte. Der Patient hiess Heinz, war Deutscher, über siebzig Jahre alt, flog nach Buenos Aires ins Militärspital: Er war wohl ein alter Nazi.

Todesstrafe hinnehmen
Als Rivkind in Buenos Aires im Hotel ankam, übergab ihm der Concierge einen Zettel. Heinz lud ihn zum Dank ein. Der Arzt reagierte nicht: «Ich rette alle, aber ich esse nicht mit jedem.»

Würde er Adolf Hitler umbringen, nachdem er ihn behandelt hat? «Nein, ich würde ihn behandeln, damit er einen Prozess durchstehen kann.» Und wenn dieser mit der Todesstrafe endet? «Jemanden zu töten ist für mich kaum zu akzeptieren», sagt Rivkind. «Sieht das Gesetz dieses Urteil aber vor, würde ich mich ihm beugen und es hinnehmen.»

Arzt wurde Rivkind eher zufällig. Sein Vater starb, als er 15 Jahre alt war. Um einer Elite-Einheit der israelischen Armee beitreten zu dürfen, benötigte der Halbwaise die Einwilligung seiner Mutter. Was sie ihm verwehrte. Statt an die Front ging er zur Militärpolizei. Und untersuchte Todesfälle. Bis ein junger Offizier durch einen Kopfschuss starb. Ein Arzt zeigte Avi, wie er ihn behandelt hatte, welche Medikamente er ihm gab, wo er Schnitte gesetzt hatte. «Ich verstand kein Wort», sagt Rivkind. «Es war mir peinlich.»

Der Arzt nahm sich Zeit für den jungen Polizisten. Zuletzt schenkte er ihm ein Buch über Anatomie. Es öffnete ihm eine neue Welt: Rivkind studierte Medizin an der Hebrew University in Jerusalem.

Noch heute packe ihn jeder neue Fall. «Weil ich in einem sich ruckartig verändernden Umfeld
arbeite.» Egal, ob Schusswunde oder Autounfall: «Es ist gibt unendlich viele Fragezeichen, du musst schnell handeln, du musst richtig handeln, du musst das Prob­lem sofort erkennen und eine Lösung haben, ohne lange zu ­fackeln. Zeit ist alles.» Hat er denn die Kontrolle? «Du entscheidest dich für einen Weg, dann bleibst du dabei, erst nach der Operation erklärst du, was du gemacht hast.»

Wobei das Ziel immer das gleiche bleibe: «Ich rette Leben.»

Naher Osten: Der Beginn einer dritten Intifada?
Die Gewaltspirale in Is­rael dreht sich im Höllentempo. Seit Wochen mehren sich Messerangriffe von Palästinensern auf Israelis. Viele deuten es als Beginn ­einer dritten Intifada – nach den Palästinenser-Aufständen 1987–93 und 2000–05. Hadassah, das Spital von Avi Rivkind, ist mittendrin. «Die Patienten mit Stichwunden kommen zu uns», sagt Sprecherin Barbara Sofer. «Wir sind bereit für zahlreiche Opfer.» Von beiden Seiten. Am Montag griff der Palästinenser Ahmad Manasra (13) den Israeli Naor Shalev Ben-Ezra (12) an, verletzte ihn lebensgefährlich mit einem Messer. Ein israelischer Siedler überfuhr Manasra mit dem Auto. Beide Buben kamen in Hadassah-Spitäler.

Mahmud Abbas (80), Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, zeigte im Fernsehen ein Foto des blutüberströmten Ahmad. Israelis hätten ihn getötet. «Er ist bei uns in Pflege, ausser Lebensgefahr», widerspricht Sofer. Das Spital liess Ahmad von der Presse beim Essen im Spitalbett filmen und fotografieren. Ebenfalls ausser Lebensgefahr ist sein Opfer Naor. Sicher ist: Die Buben sind Spielbälle im Propaganda­krieg eines unendlichen Konflikts.