«Die Patienten erhalten die Macht»

Der Chef der Medizinalfirma Lifewatch Stephan Rietiker sieht eine Revolution in der Medizin.

Von Peter Hossli

Die Schweiz hadert, medizinische Daten zu erfassen. In den USA aber ist es das grosse Geschäft. «Das Gesundheitswesen erlebt gerade eine Revolution», sagt der Schweizer Arzt Stephan Rietiker (58). Als CEO führt er die schweizerisch-amerikanische Firma Lifewatch – und setzt voll auf «digital health», digitale Gesundheit. Lifewatch erfasst den Herzrhythmus von Menschen, misst ihren Schlaf. Die Daten werden nonstop analysiert. Erkennt ein Computer eine gefährdende Abweichung, erhält der Patient die Empfehlung, einen Arzt aufzusuchen oder sich medizinisch beraten zu lassen.

Gemäss Rietiker befindet sich das Zentrum der digitalen Medizin im Silicon Valley. Also südlich von San Francisco – dort, wo Konzerne wie Apple, Google und Facebook ge­rade jede erdenkliche Branche umkrempeln.

Jetzt nehmen sie sich der Gesundheit an. Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts erlaubt eine gezieltere, individuelle Behandlung. Diese ist dank digitaler medizinischer Daten sehr effi­zient. Patienten erhalten rascher eine Diagnose und schnellen Zugang zu medizinischen Leistungen. «Eine Person, deren Daten digital vorliegen, muss nicht tagelang warten. Sie erfährt online sofort, was zu tun ist», sagt Rietiker.

Vor allem verändere sich die Macht. «Weg vom Arzt hin zum Patienten.» Gesunde wie Kranke sammeln ihre eigenen Daten auf eigenen Geräten, etwa mit Sensoren an oder unter der Haut. Auf Servern speichern sie ab, wie viel sie schlafen, was sie essen, wie das Herz schlägt, welche Pillen sie wann schlucken, wo der Blutzuckerspiegel steht, was die Bakterien
im Darm anrichten. «Die Ärzte verlieren Einfluss, der Patient rückt ins Zentrum», so Rietiker. «Ärzte machen künftig weniger Diagnostik und konzentrieren sich vermehrt auf die Therapie.»

Kranke tragen ihre Daten zum Arzt, lassen sich behandeln und nehmen die Daten wieder mit. Heute liegen sie verborgen bei
einem Arzt. Der Patient weiss meist nicht, was über ihn abgespeichert ist, er hat keinerlei Zugang.

Zentral sei, dass die Daten «dem Patienten gehören», sagt Stephan Rietiker. Dafür brauche es einheitliche elektronische Dossiers. Die Computer der Spitäler und Arztpraxen müssten sie lesen können. Diesbezüglich seien die USA und skandinavische Län­-der schon sehr weit. Die Schweiz und Deutschland aber liegen weit zurück. «Wegen einer weitverbreiteten Angst vor dem Austausch von Daten.» Eine Angst, die Rietiker versteht. «Datenschutz ist unabdingbar.»

Zudem glaubt er an einen Quantensprung in der medizinischen Forschung. Universitäten und Pharmafirmen haben Zugang zu einem Schatz von anonymen Daten. Klinische Versuche für neue Medikamente führen somit weit schneller zu Resultaten.