Von Peter Hossli (Text) und Peter Gerber (Fotos)
Im Nu sind die kleinen Hände oben. «Wer von euch will, dass Sepp Blatter erneut zum Fifa-Präsidenten gewählt wird?» Elf Kinder strecken sofort auf. Elf von elf.
Es geht sie etwas an. «Verliert er nächste Woche die Wahl, erhält unsere Schule einen neuen Namen, daran gewöhnen will ich mich nicht.»
Das sagt Michelle, das Mädchen ist elf, geht in die 5. Klasse – und besucht wie die anderen zehn Knirpse das «Primarschulhaus Sepp Blatter». Es steht seit 1907 unter der Dreikönigskirche in Visp VS. An einem Masten flattert eine vergilbte «Fifa Fair Play»-Fahne.
Bis 1998 war es das «Alte Schulhaus». Dann stieg Blatter zum Fifa-Präsidenten auf. Visp stand kopf, feierte den mächtigen Fussball-Funktionär mit Umzug, Reden und Bankett. Drei fussballverrückte Lehrer sowie der Abwart benannten das Schulhaus kurzerhand um – zu Ehren Blatters. Der büffelte hier von 1943 bis 1948, meist im Parterre hinten links. Dort liegt heute der Werkraum.
Visps Schuldirektor wusste von nichts. Geht es um Blatter, ist das im Wallis nicht nötig. Ein Lehrer schnitzte ein Relief, das Blatters Kopf zeigt. Blatter schraubte es an die Wand. Davon zeugt noch heute ein Foto im Flur.
Einen frischen Anstrich bräuchte der bräunliche Schriftzug «Sepp Blatter», der an der Westwand der Schule prangt, über dem Knaben-Eingang. Bis in die Sechzigerjahre waren Pausenplatz und Klassen nach Geschlechtern getrennt. Lehrer unterrichteten die Buben, Nonnen die Mädchen. Blatter, heisst es in Visp, war König des Pausenplatzes. Schon damals. Als Einziger besass er einen Hartgummi-Ball.
Alle Visper, die heute graues oder gar kein Haar mehr haben, besuchten diese Schule. Sie nennen es meist «Altes Schulhaus». Ist aber einer Gast in der Stadt, führt man ihn ins «Sepp Blatter Schulhaus».
«Er schaut, dass alle genügend Geld haben.»
Er ist präsent, ohne jemals da zu sein. Lehrerin Christine Dani (54) weiss: «Seine Tochter sitzt in der Schulkommission, seine Enkelin sitzt in einer Klasse.» Die Kleine erhielt 2010 einen Sonderurlaub, um ans WM-Eröffnungsspiel nach Südafrika zu fliegen. Bringt der Grossvater die WM nach Afrika, soll die Enkelin hinreisen dürfen. «Das gibt es nicht jeden Tag», sagt Dani.
An der Blatter-Schule lernen heute 120 Kinder in sechs Klassen, unterrichtet von 13 Lehrerinnen und zwei Lehrern. Kinder von der 3. bis zur 5. Klasse treffen den Reporter. Es riecht nach frischem Bohnerwachs.
Wer von euch weiss, was Sepp Blatter macht? «Er organisiert Fussball-Spiele», sagt David (9). «Er ist Fussball-Präsident», so Joel (11). «Er ist hier zur Schule gegangen, man hat ihn nicht überall gern, er hat ein paar Sachen falsch gemacht.» Was denn? «Das weiss ich nicht, meine Eltern sagten das.» Joel weiss dafür anderes: «Er ging nach Brasilien und übergab dort den WM-Pokal, er schaut, dass im Fussball alle genügend Geld verdienen, dass sie richtig spielen, dass es keine Fouls gibt.»
Wie nennen sie die Schule im Alltag? Zehn Kinder sagen «Altes Schulhaus». Nur Michelle (11) weicht ab: «Ich sage beides, ‹Sepp Blatter› und ‹Altes Schulhaus›.»
Von wem wissen Sie, dass Blatter hier zur Schule ging? «Mir hat das niemand erzählt», sagt Nora (11). Lisa: «Meine Eltern, und man kann es ja beim Eingang lesen.»
Die Kinder wissen vom Fifa-Kongress am 29. Mai in Zürich. «Wählen sie Blatter dort nicht, wäre das Schulhaus nicht mehr so bekannt, deshalb ist es besser, er bleibt weiterhin Fifa-Präsident», meint Joel. Michelle stimmt ihm zu. «Ich gehe gerne in eine berühmte Schule.»
Dann ist Blatter der berühmteste Walliser? «Ja, eindeutig», so Nora. «Wir haben sonst ja niemanden», klagt Joel. Und Pirmin Zurbriggen (52)? Die meisten zucken verlegen die Schultern. Der einstige Ski-Star ist bei den Jungen vergessen gegangen. «Vielleicht Stefanie Heinzmann», sagt die jüngere Michelle (10) – und meint die 26-jährige Popsängerin aus Visp-Eyholz VS.
Blatter ist 79. Kann er da noch Fussball-Präsident sein? «Klar», sagt Joel. «Er hat an dieser Schule etwas gelernt, das ihm noch heute nützt.» David (9) findet «seine Wahl für das Wallis wichtig, dank ihm ist das Wallis bekannt, ohne ihn kennt das Wallis keiner.» Ist es denn okay, wenn ein Grossvater so viel arbeitet? «Nein», findet Lisa. «Er ist alt und bricht sich schnell das Bein.» Gnädiger ist Joel: «Er hat das ja selber entschieden, und er kann jederzeit aufhören, er will ja weitermachen.» Für seine Enkel sieht Michelle nur Vorteile: «Sie haben ihn als Vorbild, da er kein Bergsteiger ist, bricht er sich die Beine kaum.»
Für Lisa ist er «ein Idol, denn er hat einen anständigen Job». Sie selbst will Lehrerin oder Köchin werden. Und die anderen? Nora: Lehrerin. Joel: Polizist oder Elektriker. Michelle und Saranda (11): Schauspielerin. Martiya Luisa (11): Ärztin. Leila (10): Friseurin. David: Tennis-Spieler. «Ich mag Roger Federer mehr als Sepp Blatter.»
Blatter hat Macht. Was bedeutet das? «Er kann viele Sachen entscheiden», so Lisa. «Und er kann befehlen.» Joel weiss: «Er ist so mächtig, weil man ihn überall auf der Welt kennt.» Und das finden die Schüler gut. «Er hat das Wallis in der Welt bekannt gemacht», sagt Nora. Wie denn? «Er ist schlau, deshalb hat er es so weit gebracht», so Michelle. Nora sieht es etwas anders: «Er hat es so weit gebracht, weil er so viel Macht hat.»
«Zeitungen erfinden die Kritik an Blatter»
Gesehen haben ihn in Visp schon einige, auf dem Sportplatz, im Restaurant Napoleon, das dem Schwiegersohn gehört, in der Altstadt, wo er eine Wohnung hat. Nur in der Schule, die seinen Namen trägt, sei er seit 1998 nie mehr gewesen.
Was würden sie ihn fragen, wenn er käme? «Er soll erzählen, was er hier lernte, um berühmt zu werden», sagt Joel. Nora: «Wie fand er die Schule früher?» Nina: «Wie hat es ihm im Schulhaus gefallen?» Michelle: «Was war sein Lieblingsfach?» David: «Ging er gerne in die Schule, wie hiess seine liebste Lehrerin?» Dilan (9): «Wie hiess sein Freund an der Schule.» Martiya Luisa: «Wie alt ist er – und kann ich ein Autogramm haben.» Lisa: «Wünschte er sich schon damals, Fussball-Präsident zu werden?» Und Dilan: «Wie lange möchte er noch Fussball-Präsident bleiben?»
Wenn er käme, was soll er mitbringen? «Einen Ball», sagt Lisa. «Ein Foto von sich als Schüler», so Joel. «Mehr Sportunterricht», so Michelle. «Neue Fenster», sagt Schuldirektor Bruno Schmid (57). Lisa hofft, Blatter bringe «neue Storen» mit. «Längere Pausen» wünscht sich Michelle.
Joel glaubt, nach diesem Artikel werde Blatter sicher kommen. Michelle ist skeptisch. «Es könnte sein, dass er die Zeitung nicht liest, dann kommt er nicht.»
Dass Blatter zuweilen in der Kritik steht, lässt man in Visp nicht gelten. «Kritik gibt es nur in England, Deutschland – und der Deutschschweiz», heisst es im Martini-Keller, einer Beiz nahe der Schule. Und die Kinder? «Zeitungen erfinden die Kritik», sagt Lisa. Zum Reporter sagt sie: «Journalisten schreiben oft einen Quatsch.»
Es ist 15 Uhr, Freitagnachmittag. Die Glocke läutet nicht, sie ist kaputt. Die Schüler aber eilen in die Pause. Scheren-Stein-Papier. Sie küren, wer zuerst wählt und bilden Teams, Mädchen und Knaben gemischt. Alle jagen auf dem Pausenplatz dem Ball nach, wo einst Sepp Blatter kickte. Oben thronen die noch verschneiten Berge. Das Spiel ist schnell, die Pässe kurz. Ein Lattenknaller eines Mädchens, ein Nachsetzer per Kopf durch einen Jungen, das erste Tor fällt. Sie jubeln und kicken weiter. Wie einst Sepp.