Von Peter Hossli (Text) und Sabine Wunderlin (Fotos)
Jean Ziegler klaubt eine vergilbte Visitenkarte aus der Tasche. Sie gehört einem Kommissar der Genfer Polizei. «Ihn rufe ich jeweils an, bevor ich öffentlich auftrete.» Der Achtzigjährige – Professor, Linker und Nestbeschmutzer der Nation – benötigt Polizeischutz. Noch immer. «Lese ich irgendwo vor, stehen häufig zwei Wächter hinter mir.» Wegen Büchern, die kritisch mit der Schweiz, den Bankiers, unserer Nähe zu Hitler umspringen.
An der Uno in Genf empfängt er, in einem hellen Saal im Palais des Nations mit hoher Decke und Möbeln aus edlen Hölzern. Gut sichtbar der Mont Blanc über dem Lac Léman. Gut gelaunt der Gastgeber.
Er hat recht behalten. Die Bücher, derentwegen die Polizei ihn schützt, waren der Wahrheit näher als viele in der Schweiz wahrhaben wollten. Der einstige «Verleumder» und «Verräter» ist eine Art Prophet geworden. «Machen Sie mich ja nicht zum Helden», entgegnet Ziegler. «Ich bin doch nicht mutig.»
Vor 25 Jahren schrieb er, wie Banker das Bankgeheimnis missbrauchten, wie sie kriminelle Gelder wuschen, den Kunden beim Steuerbetrug halfen, sogar Terroristen finanzierten. Ziegler galt als Spinner, gesteuert von Moskau.
Nun belegen Konten der Bank HSBC Schweiz vieles, was er sagte.
Millionen Schulden
Sie hätten die dubiosen Kunden 1999 lediglich bei der Übernahme eines anderen Instituts erworben, wehren sich HSBC-Manager. Ein Fakt, den Ziegler gut kennt. Für 16,3 Milliarden Franken kaufte HSBC von Edmond Safra (1932–1999) die Safra Republic Corporation. Ziegler rückte den libanesischen Bankier 1990 in seinem Buch «Die Schweiz wäscht weisser» in die Nähe eines Drogenhändlers. Safra verklagte ihn. Ziegler verlor.
Wie so oft. Insgesamt verlor er neun Prozesse in fünf Ländern. Richter verdonnerten ihn zu Zahlungen über mehrere Millionen Franken. Geld, das er nicht hat. Er musste seinen Lohn verpfänden. Das Haus, das er bewohnt, gehört seiner Frau. «Ich habe nichts, ich bin Untermieter.» Inzwischen bezieht Ziegler ein Gehalt von der Uno. «Das können sie nicht pfänden.»
Für die SP sass er im Nationalrat, doch der Rat hob 1991 seine Immunität auf. «Die Bank-Moguln wollten mich mundtot machen.»
Und heute? Strotzt er noch immer vor Kraft, sprudeln die Worte nur so aus ihm heraus. Ist vieles von dem belegt, was er damals schrieb. Hat die Schweiz das strengste Gesetz gegen Geldwäscherei. Ist das Bankgeheimnis brüchig. Bemüht sich der Bund, von Despoten geraubte Gelder zurückzugeben.
Ist er rehabilitiert? «Hätte ich Geld, um gegen HSBC in die Revision zu gehen, würde ich sicher gewinnen», sagt Ziegler. «Es geht hier aber nicht um mich, um den Kleinbürger aus Genf, der recht haben will.» Die Häme gegen HSBC freut ihn nicht? Keinesfalls will er eitel erscheinen. «Schreiben Sie ja nicht, ich empfände Schadenfreude!»
Klar, seine Anwälte klärten ab, ob er gegen HSBC vor Gericht ziehen sollte, der Rechtsnachfolgerin von Safra. In Paris, Köln, in Wien müsste er klagen. «Das wäre zeitraubend», sagt Ziegler. «Was würde ich gewinnen? Nichts als Geld.» Geld aber sei ihm nicht wichtig. «Transparenz wollte ich schaffen, und das ist mir teilweise gelungen.»
Der Tod im Penthouse
Zu einem hohen Preis. Ziegler erhielt Morddrohungen. Der Polizei erlaubte er, sein Telefon zu überwachen, um Stimmen anonymer Anrufer zu identifizieren. Drei Mal fand er sein Auto zertrümmert vor. Ständig patrouillierte die Polizei in seinem Quartier. Einmal sogar biss ein Polizeihund seinen Sohn.
Oft lachte er, wenn es zum Weinen nicht reichte. Kurz nach dem Verkauf an die HSBC erstickte Edmond Safra bei einem Brand in dessen Penthouse in Monaco. «Jeder Journalist wollte mit mir reden», erinnert sich Ziegler augenzwinkernd. «Meine Frau wimmelte sie ab, sagte, der Jean ist in Monaco.»
Noch heute ist er «perplex, wie paranoid die Beutejäger der Zürcher Bahnhofstrasse auf meine Bücher reagierten». Statt ihn totzuschweigen, hätten sie Zeter und Mordio geschrien. Die SBG intervenierte direkt beim Verlag von «Die Schweiz wäscht weisser». Ziegler: «Die Banken reagierten auf mich wie Stalin auf die Dissidenten.»
Er habe im «Ausland einen guten Ruf, doch daheim gilt er als Nestbeschmutzer», schrieb der «Spiegel» 1998 nach Publikation von Zieglers Buch «Die Schweiz, das Gold und die Toten». Die Abhandlung über die Schweiz und das Nazigold empörte zwanzig eidgenössische Würdenträger derart, dass sie Klage wegen Landesverrat einreichten. Weil er Banker als «Halunken», «Mafia-Brüder», «kalte Monster» beschimpfte, ihren «Kasino-Kapitalismus» und ihre «Raffgier» anprangerte.
Zornig ist er noch immer. Mitte März erscheint sein nächstes Buch. Dessen Titel: «Ändere die Welt!»
Er poltert gegen die Bundesanwaltschaft, die passiv bleibe bei der HSBC. «Seit fünf Jahren haben sie die Listen», sagt Ziegler. «Drogen- und Terrorgelder sind ersichtlich, Geldwäscherei. Alles Offizialdelikte – und der Bundesanwalt macht nichts», sagt Ziegler. «Damit bricht er das Gesetz.» Die Nachsicht erzürnt ihn. «Bei Banken-Banditismus ist unsere Justiz blind.» Den Ausdruck gibt es zwar nicht, aber die Wortschöpfung ist typisch für Ziegler.
Was hat er bewirkt? Er weicht aus zum deutschen Dramaturgen Bertolt Brecht (1898–1956), der auf dieselbe Frage mit «ohne uns hätten sie es leichter gehabt» antwortete. Das, sagt Ziegler, «ist das Einzige, was ich sagen kann». Ohne ihn, hätten sie es leichter gehabt.
Hinter dicken Brillengläsern funkeln wache Augen. «Jetzt aber ist ihr Lügengebäude zusammengekracht, und das schmerzt die Calvinisten sehr. Ihre kriminelle Energie aber ist lebendiger denn je.»
Hat denn er das Haus niedergerissen? «Etwas gebe ich zu», sagt Ziegler – und holt aus. Erzählt von der Banken-Initiative gegen «den Missbrauch des Bankgeheimnisses». Ja sagten 1984 nur 27 Prozent. «Es hat mich damals betrübt, wie viele anständige Schweizer den Lügenbaronen glaubten.» Das sei passé. «Jetzt freut es mich, dass die einfachen Leute, die arbeiten, Miete zahlen, dass sie endlich merken, wie sehr sie die Wegelagerer in Zürich und Genf angelogen hatten.»
«Banken verstaatlichen»
Es genügt ihm nicht, selbst im Alter, «das ich beim Skifahren spüre». Er fantasiert. «Wir müssen die Grossbanken verstaatlichen», sie seien «eine tödliche Gefahr für die Schweiz». Doppelt so gross wie das Schweizer Bruttosozialprodukt sei allein die Bilanzsumme der UBS.
Persönlich bewege ihn «das Blutgeld», sagt Ziegler. «Liegen auf Schweizer Konten 100 Millionen Franken von Kabila (Präsident der Demokratischen Republik Kongo, Anm. der Red.), «dann sterben im Kongo viele Kinder an Hunger.»
Eine Stunde ist vorbei, mehr Zeit hat er nicht. Eine letzte Frage. Was treibt ihn an? Plötzlich ist er einen Moment lang still. «Das Leben ist so kurz, und ich bin unglaublich privilegiert», sagt er. Als Weisser gehöre er zu den «13 Prozent, welche die Welt reagieren». Er lebe in einem sicheren Land, hätte als Professor jegliche Freiheiten gehabt, mit seinen Büchern vielleicht das Bewusstsein einiger beeinflusst.
Dann, als er in Afrika hungernde Menschen sah, in Gaza sterbende Kinder, «konnte ich nicht mehr schweigen», so Ziegler. «Ich glaube an Gott, das Leben ist kein Zufall, ich bin hier, um etwas zu tun.»