Von Peter Hossli
Montag oder Mittwoch? Fünfmal fragt sie nach dem Wochentag. Ein Ei nennt sie Tomate. Das eigene WC findet sie nicht mehr. Sie schlägt den Mann, mit dem sie seit 50 Jahren verheiratet ist.
Sie ist 72, und sie leidet an Alzheimer.
Vor fünf Jahren erhielt sie die Diagnose. Länger schon schrumpft ihr Hirn. Sie verliert zuerst das Gedächtnis, dann die Kontrolle über ihren Körper. Zuletzt verschwindet ihr ganzes Ich.
Eine Pille dagegen gibt es nicht, keine Impfung. Alzheimer ist unheilbar. Alle Versuche, den Zellzerfall zu stoppen, sind bisher fehlgeschlagen. In der Schweiz entschwinden derzeit 116000 Patienten. Deren Pflege kostet jährlich rund sieben Milliarden Franken.
Statistiker zeichnen ein düsteres Bild. Mehr als Verdreifachen werde sich bis 2050 weltweit die Zahl der Alzheimer-Kranken – von heute 30 Millionen auf dann 106,2 Millionen. Davon etwa 282000 in der Schweiz.
Das muss nicht sein, schreiben britisch-amerikanische Forscher in einer neuen Studie. Sie sind überzeugt: Millionen von Krankheitsfällen könnten vermieden werden – wenn wir uns nur anders verhielten.
Noch ist nicht klar, was Alzheimer auslöst. Jedoch sind die Faktoren bekannt, die das Risiko beeinflussen, daran zu erkranken. Es sind sieben: geringe Bildung, Diabetes, zu hoher Blutdruck, zu viel Gewicht, wenig Bewegung, Depression und Rauchen.
Die neue Studie zeigt, wie die Faktoren einander prägen. Und in welchem Masse sie das Alzheimer-Risiko senken. «Ein beachtlicher Anteil der Alzheimer-Fälle kann vermutlich kontrollierbaren Risiken zugeordnet werden», schreibt der Autor der Studie, der Brite Sam Norton. Was heisst: Durch eigenes Tun können wir die Chance erhöhen, gesund zu bleiben.
Weltweit am meisten ins Gewicht – 20 Prozent – fällt die Bildung. Je länger einer die Schulbank drückte, um so seltener erkrankt er an Alzheimer. Nutzen wir die Hirnzellen, bleiben sie länger intakt.
In den USA und in Europa – Orten mit hoher Bildung – entscheidet vor allem die Bewegung über das Alzheimer-Risiko. Wer es senken will, muss sich dreimal die Woche 20 Minuten intensiv oder fünfmal 30 Minuten moderat bewegen. Möglich wäre es dann, Alzheimer davonzulaufen.
Zumal Sport die Diabetes, hohen Blutdruck und Übergewicht oft lindert. Athleten rauchen seltener.
Gutes Umfeld für Zellen
Der Alzheimer-Spezialist Andreas Monsch (56) von der Universität Basel teilt den Befund. «Bei Alzheimer zerfallen die Nervenzellen», erklärt er. «Wir alle können die Umgebungsbedingungen der Hirnzellen optimieren.» Wie geht das? «Zellen benötigen viel Sauerstoff und wenig toxische Stoffe. Und sie wollen oft gebraucht werden.»
Ist Alzheimer gänzlich vermeidbar? «Nein», sagt Monsch. «Sind die Lebensbedingungen für die Zellen aber besser, arbeiten Neuronen länger.» Das reduziert die Zahl der Erkrankungen drastisch, so die Studie, die eben im Wissenschaftsmagazin «Lancet Neurology» erschien.
Die Forscher erstellen darin Prognosen für eine Dauer von 40 Jahren – von 2010 bis 2050. Gelingt es, die sieben Faktoren alle zehn Jahre um 10 oder sogar 20 Prozent zu senken, «kann eine grosse Anzahl der Alzheimer-Erkrankungen verhindert werden», schreibt Forscher Norton.
Bei einer Reduktion um 10 Prozent, sinkt die Anzahl der Kranken um 8,8 Millionen. Bei 20 Prozent wären es 16,2 Millionen weniger. Zehntausende davon wären es in der Schweiz.
Nicht zulässig ist der Umkehrschluss. Wer raucht oder dick ist und oft sitzt, beginnt nicht per se zu vergessen. «Keiner ist Schuld an Alzheimer», sagt Monsch.
Rund 60 Prozent der Demenzkranken haben Alzheimer. Für die G8-Staaten gilt das Leiden «als zentrales gesellschaftliches Anliegen». Zumal die Zahl der Alten weltweit zunimmt – und trotz intensiver Forschung keinerlei Heilmittel absehbar sind.
Umso wichtiger sei Vorsorge, sagt Monsch. Geistiges und körperliches Training seien zentral, «den Beginn von Alzheimer zu verzögern und die Auswirkungen zu lindern.» Es sei nie zu früh anzufangen. «Und nie zu spät.» Spätestens ab 40 aber, wenn der Körper nicht mehr alles wegsteckt, sollten die vorbeugenden Massnahmen starten.
Von 116000 Schweizer Alzheimer-Patienten wird die Hälfte daheim gepflegt. 73000 sind Frauen. Gemäss Schweizerischer Alzheimervereinigung verursachen sie 6,4 Prozent der direkten Kosten des Gesundheitswesens.
Psychiater Alzheimer
Als Erster beschrieben hat das geistige Entschwinden der bayerische Psychiater Alois Alzheimer (1864–1915). Fünf Jahre begleitete er Auguste Deter. Ihr Gatte lieferte sie 1901 in eine Anstalt in Frankfurt ein. Sie konnte den Haushalt nicht mehr besorgen, vergass vieles, störte ihre Nachbarn, war oft eifersüchtig.
So verlief ein Gespräch mit Doktor Alzheimer: «Wie heissen Sie?» – «Auguste.» – «Familienname?» – «Auguste.» – «Wie heisst ihr Mann?» – «Ich glaube … Auguste.» – «Ihr Mann?» – «Ach so.» – «Wo wohnen Sie?» – «Ach, Sie waren doch schon bei uns.» – «Wo sind Sie hier?» – «Hier und überall, hier und jetzt, sie dürfen mir nichts übelnehmen.» – «Wo ist Ihr Bett?» – «Wo soll es sein?»
Auguste Deter starb im April 1906, noch nicht ganz 56-jährig. Im folgenden November schilderte Alois Alzheimer ihren Fall an einer Tagung in Tübingen.
Noch immer sind die Ursachen nicht restlos geklärt. Erwiesen ist: Die Lebenserwartung nach der Diagnose liegt bei neun Jahren. Nervenzellen zerfallen. Das Hirn schrumpft um 20 Prozent. Besonders betroffen sind die Zonen, die Gedächtnis und Denkfähigkeit steuern.
Gefeit ist keiner. Fussball-Manager Rudi Assauer (70) gestand seinen Alzheimer vor zwei Jahren. Playboy Gunter Sachs (1932–2011) erschoss sich, weil er das Vergessen nicht mehr ertrug. US-Präsident Ronald
Reagan (1911–2004) verabschiedete sich 1994, gewohnt optimistisch. «Ich beginne nun die Reise, die mich zum Sonnenuntergang meines Lebens führt, in der Gewissheit, dass über Amerika immer wieder ein strahlender Morgen dämmern wird.»
Forschung bleibt nötig
Die Resultate der neuen Studie sind genauer als frühere Prognosen. Sie sollten «Motivation sein, bewusst gesünder zu leben», so Monsch. Die Leiterin der Memory Klinik am Zürcher Waidspital, Irene Bopp, findet solche Studien zwar wichtig: «Dennoch sollte die Grundlagenforschung weiterhin forciert werden.»
Monsch stimmt zu. «Wir müssen auf die Vorbeugung aufmerksam machen.» Die Forschung aber brauche mehr Geld – «um der Krankheit mit Sorgfalt auf die Spur zu kommen.» Das Ziel sei: «Man muss die Krankheit verstehen, heilen und letztlich verhindern.»
Zumal zu viel Vorsorge Risiken birgt. Gesunde leben länger – was die Chancen hebt, an Alzheimer zu erkranken.
Mitarbeit: Fibo Deutsch
Das erhöht Ihr Alzheimer-Risiko
• Bildung Menschen, die eine tiefe Schulbildung haben • Bewegung Weniger als 3 mal 20 Minuten intensiv oder 5 mal 30 Minuten moderat (pro Woche) • Übergewicht wer eine BMI von über 30 auf die Waage bringt • Bluthochdruck im Alter von 35 bis 64 • Diabetes Typ 2 Im Alter von 20 bis 79 • Rauchen • Depression
Wenn das Hirn schrumpft
Jeder Mensch hat gegen 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn. Über Billionen Verknüpfungen unterhalten sie sich mit anderen Hirnzellen. Bei Alzheimer lagern sich Eiweisse an den Verbindungen ab. Der Belag behindert die Zellen. Sie sterben ab. Das Gehirn verliert markant an Masse (Hirnhälfte links) – und an Leistung. Der Zerfall ist nicht umkehrbar.