Von Peter Hossli und Fibo Deutsch
Michael Schumacher (45) atme selbständig, berichtete vorgestern eine italienische Sportzeitung. Umgehend kam das Dementi der Managerin des Ex-Rennfahrers. «Michael befindet sich noch immer in der Aufwachphase. Die Situation ist unverändert.»
Einundsiebzig Tage liegt Schumacher nun schon im Koma. Wie es ihm wirklich geht, das weiss niemand. Nicht einmal sein Ärzteteam. «Die Spekulation ist letztlich die Prognose», sagt Mark Mäder (68), jahrzehntelange Chefarzt der Rehab-Klinik Basel und erfahrenster Schweizer Spezialist für Hirnverletzungen und Koma-Patienten.
Er nimmt die Medien in Schutz: «Wie die Angehörigen und die Spezialisten versuchen die Journalisten, sich ein Bild aus den wenigen Fakten zu zeichnen.»
Klar ist: Schumacher erlitt am 29. Dezember 2013 bei einem Ski-Unfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Es kam zu Blutergüssen, was den Zufluss von Sauerstoff unterband. Dabei sind Hirnzellen beschädigt, andere zerstört worden. Damit das Leben gesichert ist und das Hirn sich erholen kann, versetzten Ärzte den Sportler in ein künstliches Koma – eine Narkose. Maschinen beatmen und ernähren ihn.
Vor über fünf Wochen begannen die Ärzte, die Narkosemittel stufenweise abzusetzen, um das künstliche Koma aufzuheben.
Mit drei möglichen Folgen: Der Patient stirbt. Er erwacht. Oder er gleitet ins Wachkoma – das heisst, er bleibt bewusstlos, kann aber selbständig atmen.
Bei Schumacher hält die schwierige Aufwachphase eher länger an als bei Patienten, die nach einem künstlichen Koma genesen, sagt der Koma-Experte. Was nichts Gutes verheisst. «Die Wahrscheinlichkeit für eine komplette Erholung wird bei Schumacher immer geringer», so Mäder. «Den bekannten, lachenden, strahlenden, schnellen Schumi gibt es wohl nie wieder.»
Die Uhr tickt gegen den ehemaligen Rennfahrer. «Je länger jemand im Koma liegt, desto weniger gut kann sich das Hirn erholen», erklärt Mäder. «Erwacht Schumacher, bleiben wahrscheinlich schwere Schäden.»
Es brauche nicht Tage oder Wochen sondern Monate, um genau zu wissen, ob und wie Schumacher sich erholen kann. Das verlange von den Angehörigen einiges an Geduld ab. «Es ist tragisch, wenn sich ein einst so schneller Mann plötzlich auf eine langsame Entwicklung einstellen muss – und mit ihm sein Umfeld, das bestimmt ebenso rasch unterwegs war.» Dazu gehören seine Familie, seine Fans – und seine Sponsoren. Sie alle müssen die grosse Ungewissheit aushalten.
Nur wenig können die Ärzte zur Genesung Schumachers beitragen – abgesehen von einer optimalen medizinischen Betreuung. Sie versorgen sein Gehirn mit Sauerstoff und Blut. Offenbar braucht sein Gehirn weiterhin Zeit und Ruhe, um sich zu erholen. Es gibt keine Medikamente, die diesen Prozess beschleunigen.
Abwehren müssen Ärzte zudem Komplikationen. Eine Lungenentzündung verschlimmerte Schumachers Zustand. Je häufiger sie auftreten, desto schwieriger wird es. Zumal sich dann gewisse Bakterien nicht mehr behandeln lassen – und der Körper resistent wird gegen Antibiotika.
Derweil versuchen Pfleger, den Muskelschwund zu minimieren. Sie stellen den deutschen Rennfahrer auf die Beine, setzen ihn in den Rollstuhl. Gleichwohl magert Schumacher stark ab. Von seinen 75 Kilogramm dürfte er mehr als 20 verloren haben.
Noch aber seien Erfolge bei Schumacher möglich, betont Mäder. Wobei bei Hirntraumata jeder Erfolg Ansichtssache sei. «Reicht es etwa, wenn er wieder Lebensfreude zum Ausdruck bringen kann?»
Ohnehin: «Zuerst muss er überleben.» Dann stellen sich die schwierigen Fragen, sagt Mäder. «Kann ein Leben mit einer schweren Behinderung nicht auch ein gutes Leben sein?» Die Antwort auf diese Frage ist zutiefst persönlich.
Die Chronik eines Dramas
29. Dezember 2013, 11 Uhr Im Skigebiet Meribel in Frankreich macht Michael Schumacher (45) mit seinem Sohn Mick (14) am Mont Saulire (2783 Meter ü. M.) zwischen zwei Pisten im Tiefschnee eine Abfahrt. Mit seinem Mietski bleibt er an einem verdeckten Felsstück hängen, schlägt mit der rechten Seiten seines Kopfes an einen anderen Felsen und bleibt benommen liegen. Der Helm ist zerbrochen. Vier Minuten später sind Bergretter vor Ort. 11.30 Uhr: Ein Helikopter fliegt Schumi ins Provinzkrankenhaus Albertville-Moutiers. 12.40 Uhr: Schumi wird ins Uni-Krankenhaus Grenoble gebracht. 22.30 Uhr: Erste offizielle Mitteilung «Schumacher erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma mit Koma». Noch in der Nacht: erster Neurochirurgischer Eingriff.
30. Dezember 2013, 11 Uhr Pressekonferenz mit Chefarzt Prof. Jean-François Payen: «Schumacher ist in ein künstliches Koma versetzt worden.» Um 22 Uhr entfernen die Ärzte in einer zweiten Operation einen Bluterguss im Gehirn.
1. Januar 2014 Managerin Sabine Kehm (links): «Sein Zustand ist stabil.» Vor der Klinik schwenken 120 Fans Ferrari-Fahnen.
3. Januar 2014 Schumi feiert seinen 45. Geburtstag, Besuch von Ehefrau Corinna, Bruder Ralf, Vater Rolf und FIA-Boss Jean Todt.
27. Januar 2014 Die Ferrari-Crews zeigen bei den ersten Formel-1-Tests Tafeln mit «Forza Schumi», Mercedes schreibt auf die Silberpfeile «Keep Fighting Michael».
30. Januar 2014 Die Narkosemittel werden reduziert, um Schumi aus dem Koma in einen Aufwachprozess zu überführen.
10. Januar 2014 Besuch von Ex-Rennkollege Felipe Massa.
14. Januar 2014 Schumi übersteht eine Lungenentzündung.
17. Januar 2014 Staatsanwalt Patrick Quincy stellt die Untersuchung über den Unfall ein: «Kein Vergehen durch wen auch immer.»
1. März 2014 Beim Training zur Formel-1-Saison 2014 wird in Bahrain die erste Kurve in Michael-Schumacher-Kurve getauft.
2. März 2014 Corinna feiert ihren 45. Geburtstag. Sie ist jeden Tag im Spital bei Michael.