Von Peter Hossli (Interview) und Charly Kurz (Fotos)
Professor James, die Welt hofft auf Barack Obama. Reicht der neue amerikanische Optimismus, um eine finanzielle Kernschmelze abzuwenden?
Harold James: Es ist extrem, von einer Kernschmelze zu sprechen. Aber wir werden während langer Zeit schwer wiegende Probleme haben. Wer Präsident der USA ist, spielt da keine Rolle.
Während wir reden, trifft sich Obama mit seinen Wirtschaftsberatern. Was muss er tun?
James: Mir wäre es am wohlsten, wenn er nicht allzu viel machen würde. Es besteht eine grosse Gefahr, dass eine Welle von Regulierungen losgetreten wird, die nicht durchdacht ist. Es wäre besser, der Enthusiasmus für staatliche Eingriffe würde gebremst werden.
Obamas Leute tönen anders. Stabschef Rahm Emanuel will die «Krise nicht verschenken» und «Gutes tun». Was meint er?
James: Das zentrale Problem sind nach wie vor die verfaulten Anlagen, die in hochkomplexen Finanzinstrumenten verpackt sind. Niemand weiss genau, wo sie liegen. Wir spazieren durch Minenfelder. Explodieren kann es überall. Die Minen müssen so rasch wie möglich gefunden und aus dem Weg geräumt werden. Beängstigend ist, dass wir noch nicht einmal damit angefangen haben, die Banken von den vergifteten Anlagen zu befreien.
Warum dauert es so lange?
James: Niemand weiss, wie genau das gehen soll. Die Anlagen sind derart kompliziert verpackt, dass es enorm schwierig ist, sie zu entwirren.
Weil die Banken einander nicht mehr trauen. Niemand hält ihre Bilanzen für wahrheitsgetreu. Wann legt sich die Vertrauenskrise?
James: Sobald der Wert der Anlagen ordentlich bilanziert werden kann. Das ist entscheidend, aber nicht sofort möglich. Es dauert Jahre.
Sie zeichnen ein düsteres Bild.
James: Möglich ist eine sehr lange, tiefe Krise. Wenn zutrifft, dass Lieferungen nicht mehr abgewickelt werden, weil Exporteure keine Kredite kriegen, fällt die Welt bald in ein schlimmes Ungleichgewicht. Es ist wie beim Herzinfarkt. Zuerst stoppt alles. Danach folgt eine Zeit mit sehr geringer Aktivität.
Wie ist der Herzinfarkt abzuwenden?
James: Auf keinen Fall mit Regulierung. Wir müssen die toxischen Anlagen so schnell wie möglich finden und aus den Bilanzen entfernen.
Historiker vergleichen den Amtsantritt Obamas mit dem Einzug von Franklin D. Roosevelt ins Weisse Haus im Jahr 1933. Ist das richtig?
James: Damals war die internationale Atmosphäre sehr angespannt. Die USA verlangten von Frankreich und England, sie müssten die Kriegsschulden bezahlen. Beide weigerten sich. Das trieb eine Schockwelle durch die bereits angeschlagenen Finanzmärkte. Heute gibt es mehr Willen, die Probleme gemeinsam anzugehen. Roosevelt umgab sich bewusst mit streitsüchtigen Personen. Obama sucht Rat bei unterschiedlichen und besonnenen Leuten wie Paul Volcker, der bereits für die Regierungen von Ronald Reagan und Richard Nixon gearbeitet hat. Das schafft Vertrauen.
Gibt es heute mehr Schutznetze als zur Zeit der Depression?
James: Bestimmt. Aber das internationale Finanzsystem ist heute chaotischer als am Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals konnten die USA – nach kurzer Absprache mit Grossbritannien – die Karte der Weltfinanz nach ihrem Gutdünken neu anlegen. Allein diese beiden Länder zählten. Heute gibt es mehr einflussreiche Nationen, die nicht harmonieren.
Es gibt rund 13 000 professionelle Ökonomen in den USA. Warum hat nur eine Handvoll die Finanzkrise vorausgeahnt?
James: Die Ökonomie als akademische Disziplin liegt im Argen. Die Ökonomen glaubten, die Risiken würden sich so weitläufig verteilen, dass für das System kein Risiko besteht. Nun ist klar, dass die Risiken so getarnt waren, dass wir heute nicht wissen, was noch kommt. Ökonomen und Zentralbanken werden der Kontrolle von Anlagewerten weit mehr Beachtung schenken müssen.
Die US-Notenbank wird von Ihrem ehemaligen Princeton-Kollegen Ben Bernanke geführt. Zuvor hat er Finanzblasen studiert und Lösungsvorschläge für Krisen ausgearbeitet. Kann er die Theorie in die Praxis überführen?
James: Wir müssen uns glücklich schätzen, Bernanke an der Spitze der Notenbank zu haben. Bereits 2007 hat er das Problem erkannt. Aus der Depression hat er die richtige Lehre gezogen, dass ein kolossaler Kollaps der Finanzmärkte die Realwirtschaft langfristig aus dem Gleichgewicht werfen wird.
Damit begreift er zwar das Problem. Ein Lösungsansatz ist das aber nicht.
James: Die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank haben richtig gehandelt und Liquidität in die Finanzmärkte gepumpt. Die giftigen Anlagen der Banken sind jedoch ein finanzpolitisches Problem. Es liegt an den Finanzministerien und schliesslich an den Parlamenten, sich darum zu kümmern.
Dann sind weitere staatliche Eingriffe notwendig. Kann die freie Marktwirtschaft überhaupt noch gedeihen?
James: Der politische Wind in den USA und in Europa bläst in die andere Richtung. Eben las ich in einer deutschen Zeitung die Überschrift «Hat Karl Marx die Antwort auf all das?». Das ist absurd. Marx ist komplett irrelevant und hilft nicht. Es wäre katastrophal, wenn wir versuchten, mit seinen Rezepten die gegenwärtigen Probleme zu beheben. Leute, die an die Marktwirtschaft glauben, sind jetzt gefordert, all das zu preisen, was sie uns gebracht hat.
Stattdessen wird der nächste staatliche Rettungsanker gesetzt. Bald soll die Autoindustrie vor der Pleite bewahrt werden.
James: Es war ein Fehler, in den frühen achtziger Jahren die US-Autoindustrie vor der Ölkrise und der Konkurrenz aus Japan zu schützen. Es wäre besser gewesen, man hätte sie gezwungen, japanischer und somit effizienter zu werden. Mit staatlicher Hilfe legten die Autofabrikanten mit den Geländewagen den Grundstein für die nächste Krise.
Es wäre richtig gewesen, die Autobranche damals zu Reformen zu zwingen. Nun scheint dieser Wirtschaftszweig zu gross, als dass man seine Pleite zulassen könnte.
James: Wer auf diese Weise denkt, hat nichts aus den Fehlern der achtziger Jahre gelernt.
Der Schweizer Privatbankier Konrad Hummler gibt der US-Notenbank die Schuld für die Krise. Sie gebe den Investoren seit 1987 mit regelmässigen Zinssenkungen zu verstehen, sie hätten nichts zu befürchten. Stimmt das?
James: Die US-Notenbank hat tatsächlich als eine Art globale Zentralbank agiert und auf Krisen wie das Ende der Dotcom-Blase oder 9/11 mit Zinssenkungen reagiert. Aber das ist nur eine Seite. Hinzu kommt die globale Sparwut. Infolge der Globalisierung prosperierten viele Schwellenländer, hauptsächlich in Asien.
Sie machen das billige Geld aus China verantwortlich?
James: Nicht nur in China, sondern auch in anderen asiatischen Ländern wie Indien oder auch in Südamerika hat sich die Sparquote geradezu dramatisch erhöht. China produziert enorme Überschüsse. Die gigantischen Ersparnisse der Schwellenländer haben die Finanzmärkte mit frischem Kapital überflutet. Das hat die Finanzkrise ebenso geschürt wie die Zinspolitik der US-Notenbank.
Die Schuld weisen derweil andere der Deregulierung der Hochfinanz zu, die der heutige UBS-Banker Phil Gramm 1999 und 2000 durch den Senat gedrückt und Bill Clinton unterzeichnet hat.
James: Das halte ich für nebensächlich. Die Deregulierung hat finanzielle Innovation begünstigt, ein Grossteil davon war nützlich. Wir tendieren dazu, in Krisen einzelne Leute oder die Löhne der Banker als Ursachen anzuführen. Die Banker und die Deregulierung sind nur kleine Zahnräder im Getriebe.
Im Jahr 2000 platzte die Internetblase. Es folgte eine kurze Rezession, die Weltwirtschaft erholte sich rasch. 9/11 hat sich kaum merklich auf die Konjunktur ausgewirkt. Warum soll das jetzt anders sein?
James: Wir stecken in der ersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, in der die Finanzsysteme der grossen Industrieländer schwer angeschlagen sind. Das war weder während der Lateinamerika-Krise von 1982 noch in der Asien-Krise der neunziger Jahre der Fall. Das Ende des Dotcom-Booms hat das Finanzsystem kaum berührt. Am nächsten kommt der jetzigen Krise die Ölkrise der siebziger Jahre, in deren Folge etliche englische Banken zusammenbrachen.
Einher mit der Finanzkrise geht ein weltweiter Schrei nach Nationalismus und Protektionismus. Ist er ernst zu nehmen?
James: Wenn die Politiker darauf hören und die Handelsbarrieren errichten, die in den letzten zwanzig Jahren fielen, wird sich das Wirtschaftsleben bald wieder in kleinen, nationalen Räumen abspielen. Bei diesem Szenario verlieren die grossen Länder weniger als die kleinen.
Dann ist die kleine Schweiz gefährdet?
James: Die Schweiz hat weniger zu befürchten als beispielsweise Island oder Grossbritannien. Beide haben ihre Schulden in den letzten Jahren massiv aufgebläht und ihre Defizite am Finanzmarkt finanziert. Die Schweiz aber schreibt Leistungsbilanzüberschüsse. Makroökonomisch steht die Schweiz sehr gut da.
Die beiden Grossbanken Credit Suisse und UBS haben im Verhältnis zum Schweizer Bruttoinlandprodukt enorme Bilanzsummen. Die Regierung könnte die Banken kaum vor dem Kollaps retten. Insofern ist die Schweiz besonderen Gefahren ausgesetzt.
James: Klar, zumal beide Banken international aktiv sind. Aber das ist weit weniger ein rein schweizerisches Phänomen, als oft angenommen wird. Englische Banken oder die Deutsche Bank weisen Bilanzsummen auf, die auch gigantisch sind im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt der Herkunftsländer.
China hat ein enormes Rettungspaket angekündigt, um die abflauende Binnenkonjunktur anzukurbeln. Wie wichtig ist das für die globale Wirtschaft?
James: Wir erleben derzeit eine geografische Machtverschiebung wie seit 1933 nicht mehr. Zu Beginn der dreissiger Jahre war Grossbritannien das Zentrum des Finanzsystems. Die Briten waren aber nicht in der Lage, etwas gegen die Krise der frühen dreissiger Jahre zu tun. Amerika war damals die künftige Wirtschaftsmacht. Das Land weigerte sich, ins politische Durcheinander der Reparationszahlungen einzugreifen. Heute sind die USA in der Position von Grossbritannien. Die asiatischen Länder und speziell China sind in der damaligen Position der USA.
Dann zieht China die Welt aus dem Schlamassel?
James: Das Investmentprogramm von 586 Milliarden Dollar übertrifft alles, was die alten Industrieländer derzeit tun. Die Bereitschaft von China, sich bei den internationalen Institutionen vermehrt zu beteiligen, wird Teil der Lösung sein. Die chinesische Führung ist weit besser auf die Krise vorbereitet, als es die amerikanische Führung während der dreissiger Jahre war. Das macht Hoffnung.
Sie beschreiben eine grundsätzliche Verschiebung des Machtgefüges. Sind die USA nicht mehr wichtig?
James: Grossbritannien ist heute kein kleiner, unwichtiger Ort. Es ist ein bedeutendes Land mit einer bedeutenden Wirtschaft. Verschwinden werden die USA nicht, aber sie werden weit weniger wichtig sein.
Die Krise startete in den USA. Warum zieht stets Amerika die Welt nach unten?
James: Es ist falsch, allein die USA zu beschuldigen. Zwar ist die Subprime-Krise ein amerikanisches Phänomen. Aber Immobilienblasen gab es gleichzeitig in Spanien, Irland, Grossbritannien und Australien. Die meisten Banken sind mittlerweile weltweit tätig.
Es dauerte über 200 Jahre, bis die US-Regierung fünf Billionen Dollar Schulden angehäuft hatte. In den letzten acht Jahren hat sich der Schuldenberg auf zehn Billionen verdoppelt. Wie lange kann Amerika seinen Lebensstil noch von Petrodollars und China finanzieren lassen?
James: Solange die US-Wirtschaft wächst – selbst beim derzeit minimalen Level –, kann die Verschuldung weitergehen. Bricht das Wachstum weg, droht eine enorme Verschuldungskrise. Gibt es eine lange Periode mit geringem Wachstum, müssen sich die USA ernsthaft sorgen. Ich halte die US-Wirtschaft für innovativ und dynamisch genug, die Gefahr abzuwenden.
Prophezeien deshalb viele Ökonomen, die USA würden die Krise zuerst überstehen?
James: Noch gelten die USA als sicherer Hafen. Zudem ist es einfacher, mit den USA zu verhandeln als mit den Europäern. Dort muss man zuerst herausfinden, wo jede einzelne Regierung gerade steht. Die Länder der Europäischen Union haben allesamt unterschiedliche Visionen. Seit zwanzig Jahren fordern Experten vergeblich, es brauche angesichts der gemeinsamen Geldmärkte und der grenzüberschreitenden Aktivitäten der Banken eine europäische Aufsicht über die Banken. Ein zentrales Charakteristikum dieser Finanzkrise ist der Wunsch aller europäischen Länder, eigene Lösungen zu finden. Herr Sarkozy hat eine andere Vision als Herr Brown, der denkt anders als Frau Merkel oder Herr Zapatero. Es ist lächerlich. Während Amerika Lösungen findet, gehen die EU-Länder eigene Wege. Dabei wäre es dringend notwendig, eine vereinte europäische Vertretung beim Währungsfonds zu haben. Die Europäer scheinen total unfähig, sogar das hinzukriegen.
Warum sind die Europäer blockiert?
James: Die Banken zu retten und das Finanzsystem zu stabilisieren, kostet Geld. Das müssen die einzelnen Regierungen aufbringen. Besteuerung ist eine nationale Angelegenheit. Franzosen oder Deutsche wollen nicht mehr Steuern bezahlen, um eine Mafia-Bank in Italien vor dem Kollaps zu bewahren. Deshalb schreien alle nach nationalen Lösungen. Das ist suboptimal und teurer. Zumal es europäische Probleme gibt, die auf europäischer und nicht nationaler Ebene diskutiert werden sollten. Für die Europäische Union ist die Finanzkrise ein Test, bei dem sie nicht gut abschneidet.
Sie haben im Jahr 2001 das Buch «Das Ende der Globalisierung» publiziert. Kurz darauf breitete sich die Globalisierung erst richtig aus. Ist Ihre Prophezeiung jetzt eingetroffen?
James: Heute stehen wir am Ende der von der Finanzbranche begünstigten Globalisierung.
Gibt es Sektoren, welche die Hochfinanz als globalen Wachstumsmotor ersetzen?
James: Zwei stechen hervor. Im Gesundheitswesen sind technologische Durchbrüche zu erwarten, was die Industrie- und Schwellenländer begünstigt. Und es gibt Dynamik beim Management von Energie.
Die Welt hofft auf einen Führer oder auf eine Nation, die sie führt. Wer kann das sein?
James: Die Führung muss vom Land ausgehen, das für das System am wichtigsten ist. Daher schauen wir nach Peking. Wenn Peking das Richtige tut, überwinden wir die Krise rascher.
Professor Harold James
Der Brite Harold James (52) studierte Wirtschaftsgeschichte in Cambridge und lehrt seit 1986 an der Princeton University in New Jersey. Er ist Experte für deutsche Geschichte und globale Wirtschaftsgeschichte. James hat Standardwerke über die Deutsche Bank und europäische Familienfirmen geschrieben. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift «World Politics».
Schwarz oder Weiss, Herr James?
Geschichte oder Wirtschaftswissenschaften? Geschichte, da die meisten Ökonomen die langfristige Perspektive ausser Acht lassen und auf die Gegenwart fixiert sind.
Bernanke oder Greenspan? Bernanke. Weil er viel über Geldmengenpolitik nachdachte, versteht er die historische Zerbrechlichkeit des Systems.
Dollar oder Euro? Kurzfristig der Dollar. Langfristig wird es zahlreiche Schlüsselwährungen geben.
«Wall Street Journal» oder «New York Times»? Ich ziehe die «Financial Times» oder die «NZZ» beiden US-Zeitungen vor. Der US-Presse fehlt oft die internationale Sichtweise.
Inflation oder Deflation? Derzeit bestehen kaum inflationäre Gefahren. Die massive Zerstörung von Werten schürt deflationäre Tendenzen.
Harold James hat keine Ahnung von Marx – zip, nada, zilch, niente, nixe wisse. Hier eine Kritik eines FTD Gastkommentars aus Herrn James eliteuniversitaerer Feder :
Sehr geehrter Herr James,
ich bin mit Ihrem Gastkommentar bei der FTD nicht zufrieden. Ich meine, unzweifelhaft dartun zu koennen, dass Sie von Marx keine Ahnung haben. Betrachten Sie dies also als ungebetenen Gastkommentar zu Ihrem eigenen. Leider hatte ich weder die Zeit fuer besondere formale Sorgfalt, noch um mich kurz zu fassen. Desweiteren sind nicht alle angefuehrten Stellen genau belegt. Bei Interesse – was ich kaum erwarte – werde ich gerne mit Quellenangaben aushelfen.
« Marx’ Beschreibung des ‹ Fetischismus der Waren › – die Übertragung von Gütern in handelbare Vermögenswerte, die vom Herstellungsprozess oder ihrem Nutzen abgekoppelt sind – scheint auf den komplexen Prozess der Substitution von Bankkrediten durch handelbare Wertpapiere vollkommen zuzutreffen, bei dem Werte durch obskure Transaktionen versteckt zu werden scheinen. »
1. Bei der sogenannten Theorie des Fetischismus handelt es sich keinesfalls um eine « Beschreibung ». « Das Kapital » stellt keine empirisch-historische Studie der kapitalistischen Gesellschaften des 19. Jh. dar, trotz der zahlreichen historischen Illustrationen. Vielmehr handelt es sich bei der Darstellung um den logischen Zusammenhang der Formen oder Kategorien der buergerlichen Gesellschaft – mit allen Nachteilen, die dies fuer die Erklaerung aktueller empirischer Phaenomene birgt. So berichtet Marx in einem Brief an Engels vom 24. August 1867 von seiner Genugtuung, beim Studium der beruehmten « blue books » seine « theoretischen Resultate durch die facts vollständig bestätigt zu sehn ». Der Fetischismuskritik eignet ein heuristisches Motiv : etwas alltaegliches, gesellschaftlich gueltiges enthuellt sich erst dem wissenschaftlichen Blick als « verrueckte Form ». Wer das Kapital nicht gelesen hat, stoert sich auch nicht weiter an besagtem Fetischismus. Fuer den Alltagsverstand stellt dieser auch kein « Geheimnisz » da, sondern wird einfach hingenommen ohne mit der Wimper zu zucken. Aber Marx sprach doch vom « fetishism of commodities and the secret thereof ». Worin besteht also dieses « secret »?
2. Woher Sie Ihre Definition vom Marxschen Konzept des Fetischismus gewonnen haben, bleibt Ihr Geheimnis allein. Mit Marx hat es m.E., bei aller zu wohlwollender Ausdeutung einladender Verschwommenheit, nichts zu tun. Im uebrigen erstreckt sich der Fetischismus auch nicht nur auf die Warenform, sondern auf alle Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise, also auch Lohnarbeit, Kapital, Profit, Zins, Grundrente, Aktien usw. usf.
So richtig festlegen wollten Sie sich jedenfalls nicht, weshalb Sie es als « good sport » vorgezogen haben, dem Leser « demokratisch » die Wahl zu ueberlassen, was Sie eigentlich meinen :
a. Fetischismus = Gueter (nuetzliche Dinge, vielleicht sogar Arbeitsprodukte?) werden « handelbare Vermoegenswerte ». Wie man Gueter in handelbare Vermoegenswerte « uebertraegt », geht mir bei aller Faszination an ihrer physikalischen Vorstellungskraft ab. Qu’importe. Als Vermoegenswerte sind Gueter also vom « Herstellungsprozesz oder ihrem Nutzen abgekoppelt ». « Gut », nuetzliches Ding, Nutzwert – oder, wie Marx es nannte – « Gebrauchswert » ist also verschieden vom « handelbaren Vermoegenswert » – dem Marxschen « Tauschwert ». Gebrauchswert und Tauschwert sind verschieden – worin besteht hier der Fetischismus? Was hat das mit Marx zu tun? Die einzelne Ware ist einmal nuetzliches Ding, darueberhinaus besitzt sie einen gesellschaftlichen « Werth » : eine Kinderfibelweisheit, mit der schon David Ricardo sein oekonomisches Hauptwerk begonnen hatte.
b. Fetischismus = « Werte » werden « durch obskure Transaktionen versteckt ». Auf den ersten Blick widerspricht die zweite Definition der ersten – zumindest bleibt ihre Formulierung anfaellig fuer Sprachkritik. Einmal verschwindet das « Gut » hinter den « Vermoegenswerten », das andere mal verschwinden die « Werte » hinter den « Transaktionen » bzw. deren Resultat. Welche Art von « Werten » in letzterem Fall gemeint ist, und was unter einer « Transaktion » genau zu verstehen sei, bleibt raetselhaft. Sollen Werte Gebrauchswerte sein oder Tauschwerte? Da anfangs von « Guetern » die Rede war, wohl ersteres. Das Resultat der « obskuren Transaktion » ist der handelbare Rechtstitel, das sogenannte « Wertpapier » – in ihrer Diktion auch als « Vermoegenswert » bezeichnet. Anstatt des nuetzlichen Gutes « Bankkredit » erscheint nur das obskure (nutzlose?) « Wertpapier ». Abgesehen von der Tatsaeche, dass ein Bankkredit genauso substanzlos ist, wie jedes andere Wertpapier, bliebe auch hier die Frage offen, was dies mit dem Marxschen Fetischismuskonzept zu tun haben soll. Im Falle des Wertpapiers verhaelt es sich vielmehr umgekehrt, als Sie behaupten : durch « obskure Transaktionen » scheint etwas an sich wertloses fuer die Gesellschaft Wert zu bekommen, anstatt dass dieser versteckt wuerde. In etwa so, wie amerikanische Dollars in der EU nichts weiter sind, als gruen bedrucktes Papier.
Offsichtlich sind Sie der Meinung, es handle sich um ein rein psychisches Phaenomen, eine Art « falschen Bewusztseins », einer Sinnestaeuschung. Dies mag bei Ihrem Beispiel der Fall sein, hat aber mit Marx nichts zu tun. Auf der Abstraktionsebene des ersten Bandes des « Kapitals » spielt das Wissen und Wollen einzelner Akteure ueberhaupt keine Rolle – deshalb ist auch nur von « Charaktermasken », und nicht von « Menschen » die Rede. Diesen Begriff hatte Marx nicht zufaellig gewaehlt.
Der beruehmte Fetischismus der kapitalistischen Kategorien ist ein objektives Phaenomen und voellig unabhaengig von individuellen psychischen Dispositionen : Darunter ist ganz allgemein die Verkehrung von gesellschaftlicher Form und oekonomischem Objekt zu verstehen. Wert haben Dinge nicht von Natur, sondern unter spezifischen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Es scheint aber so, als waeren Dinge von Natur aus wertvoll. Warum?
Dieses Geheimnis zu enthuellen, war Ziel der Wertformanalyse. In nuce : « Wert » ist ein gesellschaftliches Verhaeltnis der Menschen (weshalb es aber nicht automatisch ein menschliches Verhaeltnis ist!), dargestellt an ihren Arbeitsprodukten. In kapitalistischen Gesellschaften stellen die Menschen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang nicht direkt und mit Bewusztsein her, sondern durch Tausch ihrer Arbeitsprodukte als Waren. Das Verhaeltnis der individuellen Produzenten zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit erscheint als « Wert » der Arbeitsprodukte. Damit wird aus dem bloszen Produkt im Tausch und nur waehrend des Tauschakts die Ware. Besagtes gesellschaftliches Verhaeltnis kann nicht direkt erscheinen, es muss an etwas anderem – vermittelt – erscheinen (Verhaeltnisse koennen ueberhaupt niemals unmittelbar angeschaut werden). Im Verhaeltnis zweier Waren, der einfachsten Erscheinungsform oder Ausdrucks des Werts, herrscht eine eigentuemliche Reflexivitaet und Polaritaet vor. Dabei dient eine Ware der anderen als Spiegel ihrer Wertgegenstaendlichkeit, d.h. eine Ware erscheint in ihrer Natural- oder Koerperform als unmittelbare Erscheinungsform eines gesellschaftlichen Verhaeltnisses, weil die sich beziehende Ware nicht an sich selbst ihren gesellschaftlichen Charakter darstellen kann. Eben die zweite Form, auf die sich bezogen wird scheint – im Falle der Geldform – auch auszerhalb des Wertverhaeltnisses, auch auszerhalb des Tauschakts – sozusagen von Natur – Wert, Ware zu sein. Lassen wir den Meister noch selbst zu Wort kommen zum Thema :
« Der grobe Materialismus der Ökonomen, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse der Menschen und die Bestimmungen, die die Sachen erhalten, als unter diese Verhältnisse subsumiert, als natürliche Eigenschaften der Dinge zu betrachten, ist ein ebenso grober Idealismus, ja Fetischismus, der den Dingen gesellschaftliche Beziehungen als ihnen immanente Bestimmungen zuschreibt und sie so mystifiziert. » (MEW 42, p. 588. Herv. J. G.)
Um Ihnen das Zitat etwas verstaendlich zu machen : Der « grobe Materialist » fuehrt die Kategorien – « die Bestimmungen, die die Sachen erhalten » – auf ihre statische « natuerliche » Basis zurueck. Geld zu sein erscheint so als Natureigenschaft des Goldes, Wert zu sein als Natureigenschaft der Waren, Kapital zu sein als Natureigenschaft der Maschinerie, Lohnarbeit zu sein als Natureigenschaft jeder Art produktiver Taetigkeit usw.. Vom Resultat her gedacht laeuft dies auf dasselbe hinaus, wie das Verfahren des « groben Idealisten » : ihm gelten seine Begriffe, Kategorien und « Bestimmungen » statisch als den Dingen entsprechend. Im ersten Fall richtet sich der Begriff nach dem Ding, im zweiten muss sich das Ding nach dem Begriff richten. Beiden Verfahren gemein ist der Versuch, Begriff und Ding unmittelbar (= grob) aufeinander zu beziehen, voneinander abzuleiten. Ohne weiter ins Detail gehen zu wollen, darf hier daran erinnert werden, dass Marx schon in jungen Jahren nicht nur am Hegelschen Denken sich schulte, sondern sogar dessen fundierte Kritik unternommen hatte. Worauf es also ankommt, ist die Art der Vermittlung zwischen Denken und Sein, Begriff und Ding. Wahre Erkenntnis bestuende dann darin, die vermittelnde Bewegung darzustellen und genetisch den Formzusammenhang der politischen Oekonomie zu entwickeln. Ein (unabgeschlossener, vielleicht auch miszlungener) Versuch, sich dieser Aufgabe zu naehern, liegt vor im enormen corpus fragmentari des Marxschen Werkes. Man muss ihn nicht ernst nehmen, es spricht aber auch nichts dagegen.
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« Aus der Analyse des trügerischen Charakters der Komplexität folgte der Rat des ‹ Kommunistischen Manifests ›, der den heutigen ‹ Marxisten › am attraktivsten erscheint. Er stand an fünfter Stelle in einem Zehn-Punkte-Programm. Punkt fünf, dem die “Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen” vorausging, war die ‹ Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol ›. »
1. Die zitierte Schrift ist zwar bekannt wie ein bunter Hund, wissenschaftlich aber nur von geringem Wert. Ich darf Sie daran erinnern, dass Marx nach eigener Auskunft erstmal im Jahre 1843 mit Fragen der politischen Oekonomie konfrontiert wurde – das « Manifest » entstand aber schon Ende 1847, nach nur 4 Jahren gelegentlicher oekonomischer Studien. Keinesfalls handelt es sich um ein gelehrtes Werk, sondern um eine Auftragsarbeit fuer den Bruesseler Arbeiterverein in unmittelbarer Erwartung einer gesamteuropaeischen Revolution. Ich kann an dieser Stelle nicht darauf eingehen, wieso Marx und andere der Meinung waren, diese Revolution wuerde rueckstaendige Laender wie Deutschland nicht nur auf die aktuelle, sondern mit Resteuropa zusammen sogar auf eine hoehere Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung heben koennen. Das Hauptwerk des Karl Marx heiszt jedenfalls « Das Kapital ». Zu Lebzeiten erschienen ist davon nur Band 1. Alles andere ist Politik und Rezeptionsgeschichte.
Um es noch zu verdeutlichen : Wie wuerde es Ihnen gefallen, wenn man Ihre akademische Profizienz nicht anhand Ihrer Habilitationsschrift, sondern einem alten mid-term paper aus laengst vergangenen Collegetagen beurteilen wollte? Eben.
2. Im uebrigen hat Marx (oder Engels) weiland obige Doktrin direkt von den franzoesischen Sozialisten uebernommen. Fourier, Proudhon, Louis Blanc, Pierre Leroux und besonders St. Simone (cf. MEW 25, p. 621ff) waren allen Junghegelianern gelaeufig – nicht nur Karl Marx.
Ich kann mit Engels an sich nichts anfangen, moechte ihn in diesem Fall aber eine Ausnahme machen.
« […] 1862 pflanzte Lassalle, ein Schüler von Marx, von neuem die sozialistische Fahne auf. Aber das war nicht mehr der kühne Sozialismus des ‹ Manifests ›; was Lassalle im Interesse der Arbeiterklasse forderte, das war die Errichtung von Kooperativ Produktionsgenossenschaften vermittelst des Staatskredits. » (MEW 22, p. 248)
Es ist lange bekannt, dass die Gedanken des reifen Marx nie angemessen von der Arbeiterbewegung rezipiert worden; mit seiner Theorie waere auch keine reformistische Politik moeglich gewesen (siehe « Lohn, Preis und Profit », letzte Seite). Dafuer umsomehr Ferdinand Lassalle. Ihm verdankt die ganz bis heute verbleibende « Linke » ihre unverbesserliche Staatsglaeubigkeit. Ach, haetten die Linken nur die « Kritik des Hegelschen Staatsrechts » aus dem Kreuznacher Manuskript gelesen! Haben sie aber mehrheitlich nicht.
Amuesanterweise argumentieren Sie malgre-vous wie ein orthodoxer PG.
Was Marx von solchen Projekten hielt, durchzieht u.a. auch als Kritik des Proudhonschen « credit gratuit » sein gesamtes Schaffen seit 1850. Im Social-Demokrat vom 5. Februar 1865 schreibt er folgendes :
« Proudhon’s Entdeckung des ‹ Credit gratuit › und die auf ihn basirte ‹ Volksbank › (banque du peuple) waren seine letzten ökonomischen ‹ Thaten ›. In meiner Schrift ‹ Zur Kritik der Politischen Oekonomie. Heft 1. › Berlin 1859 (p. 59-64) findet man den Beweis, daß die theoretische Grundlage seiner Ansicht aus einer Verkennung der ersten Elemente der bürgerlichen ‹ Politischen Oekonomie ›, nämlich des Verhältnisses der Waaren zum Geld, entspringt, während der praktische Ueberbau [hiermit ist Proudhons Arbeit gemeint, das hat nichts mit dem beruchtigten Basis-Ueberbau Schema zu tun, J.G.] bloße Reproduktion viel älterer und weit besser ausgearbeiteter Pläne war. […] Aber das zinstragende Capital als die Hauptform des Capitals betrachten, aber eine besondere Anwendung des Creditwesens, angebliche Abschaffung des Zinses, zur Basis der Gesellschaftsumgestaltung machen wollen, ist eine durchaus spießbürgerliche Phantasie. »
In der Tat. Wenn es einen Rat von Marx gegeben haette, dann der, Ware und Geld abzuschaffen – und zwar zusammen. Sonst muss sich naemlich « dieselbe alte Scheisze » nach temporaerer « Stoerung » wieder herstellen. (cf. MEW 3, p. 35 und MEW 42, p. 166).
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« Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Lösung des Idioten auch sinnvoll ist. »
1. Offenbar war diese Bemerkung nebenbei als Hieb gegen die « Marxisten » gedacht, am liebsten aber gegen Marx. Ich spare mir an dieser Stelle weitere Wortspiele.
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« Doch sollten seine Anhänger die in der Vergangenheit durchweg katastrophalen Ergebnisse zentralisierter Kreditvergabe bedenken. »
1. Abgesehen davon, dass ich Ihnen prinzipiell zustimmen wuerde (wenn auch aus anderen Gruenden) – wieviel katastrophaler soll es denn noch kommen? Eine vollausgewachsene Weltwirtschaftskrise steht ins Haus. Es ist schon ein starkes Stueck, « zentralisierte Kreditvergabe » bereits « Marxismus » zu nennen, aber gesetzt den Fall – was wuerde dann passieren? Sonnenfinsternis? Abschmelzen der Polkappen? Megatsunamis? Meteoritenschwaerme bombardieren die Erde? Endgueltiges Aufloesen der Ozonschicht? Immer heraus mit der Sprache, werter Herr Professor, behalten Sie Ihre Weisheiten nicht fuer sich allein!
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Eine sehr gute und durchdachte Reaktion auf Harold James. Was an ihr allerdings deutlich wird, ist, daß man Marxens reifes Werk, also das Kapital, letzten Endes nicht wirklich verstehen KANN. Es hat eine Abstraktionsebene, die keinem normal begabten Menschen mehr zugänglich ist. Daher ging es m.E. nie darum, daß bedeutende Persönlichkeiten der Politikgeschichte es nicht gelesen haben (z.B. August Bebel), sondern darum, daß es nicht zu verstehen und praktisch nicht umsetzbar war. Es hat den Anschein, daß es eine invariante Grundgegebenheit menschlichen Wirtschaftens beschreibt, aus der es kein Entrinnen gibt. Denn die Forderung, Geld und Waren “abzuschaffen” ist blanker Unsinn. M.a.W. wenn die Fetischismustheorie zutrifft, dann ist der Mensch so konstruiert,daß er diesem Vorgang erliegen muß; und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier an eine Beschaffenheit gerührt wird, die mit dem Sündenfall im Garten Eden manifestiert wurde. Noch einmal mit anderen Worten: Der Zustand des Wirtschaftens, den Marx erhellt hat, kann nur enden durch das, was uns das Neue Testament gebracht hat, also die Erlösung durch den Sohn Gottes, Jesus Christus. Im Millennium wird dieser Zustand nicht mehr existent sein. Dies bedeutet keine Lächerlichmachung von Marxens Bemühungen, eher im Gegenteil, denn er ist bis an die äußerste Grenze der intellektuellen Durchdringung vorgestoßen. Nur konnte und kann man daraus keine handhabbare Alternative gesellschaftlicher Konstruktion gewinnen. Der nächste Schritt ist unausweichlich religiöser Art, s.o.
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