“Marx hilft nicht”

Wenn die Prognosen von Ökonomen und Managern nichts taugen, braucht es Historiker: Princeton-Professor Harold James über die Dauer der Krise, den Vergleich mit der grossen Depression – und die Rettung durch China.

Von Peter Hossli (Interview) und Charly Kurz (Fotos)

harold_james.jpgProfessor James, die Welt hofft auf Barack Obama. Reicht der neue amerikanische Optimismus, um eine finanzielle Kernschmelze abzuwenden?
Harold James: Es ist extrem, von einer Kernschmelze zu sprechen. Aber wir werden während langer Zeit schwer wiegende Probleme haben. Wer Präsident der USA ist, spielt da keine Rolle.

Während wir reden, trifft sich Obama mit seinen Wirtschaftsberatern. Was muss er tun?
James: Mir wäre es am wohlsten, wenn er nicht allzu viel machen würde. Es besteht eine grosse Gefahr, dass eine Welle von Regulierungen losgetreten wird, die nicht durchdacht ist. Es wäre besser, der Enthusiasmus für staatliche Eingriffe würde gebremst werden.

Obamas Leute tönen anders. Stabschef Rahm Emanuel will die «Krise nicht verschenken» und «Gutes tun». Was meint er?
James: Das zentrale Problem sind nach wie vor die verfaulten Anlagen, die in hochkomplexen Finanzinstrumenten verpackt sind. Niemand weiss genau, wo sie liegen. Wir spazieren durch Minenfelder. Explodieren kann es überall. Die Minen müssen so rasch wie möglich gefunden und aus dem Weg geräumt werden. Beängstigend ist, dass wir noch nicht einmal damit angefangen haben, die Banken von den vergifteten Anlagen zu befreien.

Warum dauert es so lange?
James: Niemand weiss, wie genau das gehen soll. Die Anlagen sind derart kompliziert verpackt, dass es enorm schwierig ist, sie zu entwirren.

Weil die Banken einander nicht mehr trauen. Niemand hält ihre Bilanzen für wahrheitsgetreu. Wann legt sich die Vertrauenskrise?
James: Sobald der Wert der Anlagen ordentlich bilanziert werden kann. Das ist entscheidend, aber nicht sofort möglich. Es dauert Jahre.

Sie zeichnen ein düsteres Bild.
James: Möglich ist eine sehr lange, tiefe Krise. Wenn zutrifft, dass Lieferungen nicht mehr abgewickelt werden, weil Exporteure keine Kredite kriegen, fällt die Welt bald in ein schlimmes Ungleichgewicht. Es ist wie beim Herzinfarkt. Zuerst stoppt alles. Danach folgt eine Zeit mit sehr geringer Aktivität.

Wie ist der Herzinfarkt abzuwenden?
James: Auf keinen Fall mit Regulierung. Wir müssen die toxischen Anlagen so schnell wie möglich finden und aus den Bilanzen entfernen.

Historiker vergleichen den Amtsantritt Obamas mit dem Einzug von Franklin D. Roosevelt ins Weisse Haus im Jahr 1933. Ist das richtig?
James: Damals war die internationale Atmosphäre sehr angespannt. Die USA verlangten von Frankreich und England, sie müssten die Kriegsschulden bezahlen. Beide weigerten sich. Das trieb eine Schockwelle durch die bereits angeschlagenen Finanzmärkte. Heute gibt es mehr Willen, die Probleme gemeinsam anzugehen. Roosevelt umgab sich bewusst mit streitsüchtigen Personen. Obama sucht Rat bei unterschiedlichen und besonnenen Leuten wie Paul Volcker, der bereits für die Regierungen von Ronald Reagan und Richard Nixon gearbeitet hat. Das schafft Vertrauen.

Gibt es heute mehr Schutznetze als zur Zeit der Depression?
James: Bestimmt. Aber das internationale Finanzsystem ist heute chaotischer als am Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals konnten die USA – nach kurzer Absprache mit Grossbritannien – die Karte der Weltfinanz nach ihrem Gutdünken neu anlegen. Allein diese beiden Länder zählten. Heute gibt es mehr einflussreiche Nationen, die nicht harmonieren.

Es gibt rund 13 000 professionelle Ökonomen in den USA. Warum hat nur eine Handvoll die Finanzkrise vorausgeahnt?
James: Die Ökonomie als akademische Disziplin liegt im Argen. Die Ökonomen glaubten, die Risiken würden sich so weitläufig verteilen, dass für das System kein Risiko besteht. Nun ist klar, dass die Risiken so getarnt waren, dass wir heute nicht wissen, was noch kommt. Ökonomen und Zentralbanken werden der Kontrolle von Anlagewerten weit mehr Beachtung schenken müssen.

hossli_james.jpgDie US-Notenbank wird von Ihrem ehemaligen Princeton-Kollegen Ben Bernanke geführt. Zuvor hat er Finanzblasen studiert und Lösungsvorschläge für Krisen ausgearbeitet. Kann er die Theorie in die Praxis überführen?
James: Wir müssen uns glücklich schätzen, Bernanke an der Spitze der Notenbank zu haben. Bereits 2007 hat er das Problem erkannt. Aus der Depression hat er die richtige Lehre gezogen, dass ein kolossaler Kollaps der Finanzmärkte die Realwirtschaft langfristig aus dem Gleichgewicht werfen wird.

Damit begreift er zwar das Problem. Ein Lösungsansatz ist das aber nicht.
James: Die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank haben richtig gehandelt und Liquidität in die Finanzmärkte gepumpt. Die giftigen Anlagen der Banken sind jedoch ein finanzpolitisches Problem. Es liegt an den Finanzministerien und schliesslich an den Parlamenten, sich darum zu kümmern.

Dann sind weitere staatliche Eingriffe notwendig. Kann die freie Marktwirtschaft überhaupt noch gedeihen?
James: Der politische Wind in den USA und in Europa bläst in die andere Richtung. Eben las ich in einer deutschen Zeitung die Überschrift «Hat Karl Marx die Antwort auf all das?». Das ist absurd. Marx ist komplett irrelevant und hilft nicht. Es wäre katastrophal, wenn wir versuchten, mit seinen Rezepten die gegenwärtigen Probleme zu beheben. Leute, die an die Marktwirtschaft glauben, sind jetzt gefordert, all das zu preisen, was sie uns gebracht hat.

Stattdessen wird der nächste staatliche Rettungsanker gesetzt. Bald soll die Autoindustrie vor der Pleite bewahrt werden.
James: Es war ein Fehler, in den frühen achtziger Jahren die US-Autoindustrie vor der Ölkrise und der Konkurrenz aus Japan zu schützen. Es wäre besser gewesen, man hätte sie gezwungen, japanischer und somit effizienter zu werden. Mit staatlicher Hilfe legten die Autofabrikanten mit den Geländewagen den Grundstein für die nächste Krise.

Es wäre richtig gewesen, die Autobranche damals zu Reformen zu zwingen. Nun scheint dieser Wirtschaftszweig zu gross, als dass man seine Pleite zulassen könnte.
James: Wer auf diese Weise denkt, hat nichts aus den Fehlern der achtziger Jahre gelernt.

Der Schweizer Privatbankier Konrad Hummler gibt der US-Notenbank die Schuld für die Krise. Sie gebe den Investoren seit 1987 mit regelmässigen Zinssenkungen zu verstehen, sie hätten nichts zu befürchten. Stimmt das?
James: Die US-Notenbank hat tatsächlich als eine Art globale Zentralbank agiert und auf Krisen wie das Ende der Dotcom-Blase oder 9/11 mit Zinssenkungen reagiert. Aber das ist nur eine Seite. Hinzu kommt die globale Sparwut. Infolge der Globalisierung prosperierten viele Schwellenländer, hauptsächlich in Asien.

harold_james1.jpgSie machen das billige Geld aus China verantwortlich?
James: Nicht nur in China, sondern auch in anderen asiatischen Ländern wie Indien oder auch in Südamerika hat sich die Sparquote geradezu dramatisch erhöht. China produziert enorme Überschüsse. Die gigantischen Ersparnisse der Schwellenländer haben die Finanzmärkte mit frischem Kapital überflutet. Das hat die Finanzkrise ebenso geschürt wie die Zinspolitik der US-Notenbank.

Die Schuld weisen derweil andere der Deregulierung der Hochfinanz zu, die der heutige UBS-Banker Phil Gramm 1999 und 2000 durch den Senat gedrückt und Bill Clinton unterzeichnet hat.
James: Das halte ich für nebensächlich. Die Deregulierung hat finanzielle Innovation begünstigt, ein Grossteil davon war nützlich. Wir tendieren dazu, in Krisen einzelne Leute oder die Löhne der Banker als Ursachen anzuführen. Die Banker und die Deregulierung sind nur kleine Zahnräder im Getriebe.

Im Jahr 2000 platzte die Internetblase. Es folgte eine kurze Rezession, die Weltwirtschaft erholte sich rasch. 9/11 hat sich kaum merklich auf die Konjunktur ausgewirkt. Warum soll das jetzt anders sein?
James: Wir stecken in der ersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, in der die Finanzsysteme der grossen Industrieländer schwer angeschlagen sind. Das war weder während der Lateinamerika-Krise von 1982 noch in der Asien-Krise der neunziger Jahre der Fall. Das Ende des Dotcom-Booms hat das Finanzsystem kaum berührt. Am nächsten kommt der jetzigen Krise die Ölkrise der siebziger Jahre, in deren Folge etliche englische Banken zusammenbrachen.

Einher mit der Finanzkrise geht ein weltweiter Schrei nach Nationalismus und Protektionismus. Ist er ernst zu nehmen?
James: Wenn die Politiker darauf hören und die Handelsbarrieren errichten, die in den letzten zwanzig Jahren fielen, wird sich das Wirtschaftsleben bald wieder in kleinen, nationalen Räumen abspielen. Bei diesem Szenario verlieren die grossen Länder weniger als die kleinen.

Dann ist die kleine Schweiz gefährdet?
James: Die Schweiz hat weniger zu befürchten als beispielsweise Island oder Grossbritannien. Beide haben ihre Schulden in den letzten Jahren massiv aufgebläht und ihre Defizite am Finanzmarkt finanziert. Die Schweiz aber schreibt Leistungsbilanzüberschüsse. Makroökonomisch steht die Schweiz sehr gut da.

Die beiden Grossbanken Credit Suisse und UBS haben im Verhältnis zum Schweizer Bruttoinlandprodukt enorme Bilanzsummen. Die Regierung könnte die Banken kaum vor dem Kollaps retten. Insofern ist die Schweiz besonderen Gefahren ausgesetzt.
James: Klar, zumal beide Banken international aktiv sind. Aber das ist weit weniger ein rein schweizerisches Phänomen, als oft angenommen wird. Englische Banken oder die Deutsche Bank weisen Bilanzsummen auf, die auch gigantisch sind im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt der Herkunftsländer.

China hat ein enormes Rettungspaket angekündigt, um die abflauende Binnenkonjunktur anzukurbeln. Wie wichtig ist das für die globale Wirtschaft?
James: Wir erleben derzeit eine geografische Machtverschiebung wie seit 1933 nicht mehr. Zu Beginn der dreissiger Jahre war Grossbritannien das Zentrum des Finanzsystems. Die Briten waren aber nicht in der Lage, etwas gegen die Krise der frühen dreissiger Jahre zu tun. Amerika war damals die künftige Wirtschaftsmacht. Das Land weigerte sich, ins politische Durcheinander der Reparationszahlungen einzugreifen. Heute sind die USA in der Position von Grossbritannien. Die asiatischen Länder und speziell China sind in der damaligen Position der USA.

Dann zieht China die Welt aus dem Schlamassel?
James: Das Investmentprogramm von 586 Milliarden Dollar übertrifft alles, was die alten Industrieländer derzeit tun. Die Bereitschaft von China, sich bei den internationalen Institutionen vermehrt zu beteiligen, wird Teil der Lösung sein. Die chinesische Führung ist weit besser auf die Krise vorbereitet, als es die amerikanische Führung während der dreissiger Jahre war. Das macht Hoffnung.

Sie beschreiben eine grundsätzliche Verschiebung des Machtgefüges. Sind die USA nicht mehr wichtig?
James: Grossbritannien ist heute kein kleiner, unwichtiger Ort. Es ist ein bedeutendes Land mit einer bedeutenden Wirtschaft. Verschwinden werden die USA nicht, aber sie werden weit weniger wichtig sein.

Die Krise startete in den USA. Warum zieht stets Amerika die Welt nach unten?
James: Es ist falsch, allein die USA zu beschuldigen. Zwar ist die Subprime-Krise ein amerikanisches Phänomen. Aber Immobilienblasen gab es gleichzeitig in Spanien, Irland, Grossbritannien und Australien. Die meisten Banken sind mittlerweile weltweit tätig.

Es dauerte über 200 Jahre, bis die US-Regierung fünf Billionen Dollar Schulden angehäuft hatte. In den letzten acht Jahren hat sich der Schuldenberg auf zehn Billionen verdoppelt. Wie lange kann Amerika seinen Lebensstil noch von Petrodollars und China finanzieren lassen?
James: Solange die US-Wirtschaft wächst – selbst beim derzeit minimalen Level –, kann die Verschuldung weitergehen. Bricht das Wachstum weg, droht eine enorme Verschuldungskrise. Gibt es eine lange Periode mit geringem Wachstum, müssen sich die USA ernsthaft sorgen. Ich halte die US-Wirtschaft für innovativ und dynamisch genug, die Gefahr abzuwenden.

Prophezeien deshalb viele Ökonomen, die USA würden die Krise zuerst überstehen?
James: Noch gelten die USA als sicherer Hafen. Zudem ist es einfacher, mit den USA zu verhandeln als mit den Europäern. Dort muss man zuerst herausfinden, wo jede einzelne Regierung gerade steht. Die Länder der Europäischen Union haben allesamt unterschiedliche Visionen. Seit zwanzig Jahren fordern Experten vergeblich, es brauche angesichts der gemeinsamen Geldmärkte und der grenzüberschreitenden Aktivitäten der Banken eine europäische Aufsicht über die Banken. Ein zentrales Charakteristikum dieser Finanzkrise ist der Wunsch aller europäischen Länder, eigene Lösungen zu finden. Herr Sarkozy hat eine andere Vision als Herr Brown, der denkt anders als Frau Merkel oder Herr Zapatero. Es ist lächerlich. Während Amerika Lösungen findet, gehen die EU-Länder eigene Wege. Dabei wäre es dringend notwendig, eine vereinte europäische Vertretung beim Währungsfonds zu haben. Die Europäer scheinen total unfähig, sogar das hinzukriegen.

Warum sind die Europäer blockiert?
James: Die Banken zu retten und das Finanzsystem zu stabilisieren, kostet Geld. Das müssen die einzelnen Regierungen aufbringen. Besteuerung ist eine nationale Angelegenheit. Franzosen oder Deutsche wollen nicht mehr Steuern bezahlen, um eine Mafia-Bank in Italien vor dem Kollaps zu bewahren. Deshalb schreien alle nach nationalen Lösungen. Das ist suboptimal und teurer. Zumal es europäische Probleme gibt, die auf europäischer und nicht nationaler Ebene diskutiert werden sollten. Für die Europäische Union ist die Finanzkrise ein Test, bei dem sie nicht gut abschneidet.

Sie haben im Jahr 2001 das Buch «Das Ende der Globalisierung» publiziert. Kurz darauf breitete sich die Globalisierung erst richtig aus. Ist Ihre Prophezeiung jetzt eingetroffen?
James: Heute stehen wir am Ende der von der Finanzbranche begünstigten Globalisierung.

Gibt es Sektoren, welche die Hochfinanz als globalen Wachstumsmotor ersetzen?
James: Zwei stechen hervor. Im Gesundheitswesen sind technologische Durchbrüche zu erwarten, was die Industrie- und Schwellenländer begünstigt. Und es gibt Dynamik beim Management von Energie.

Die Welt hofft auf einen Führer oder auf eine Nation, die sie führt. Wer kann das sein?
James: Die Führung muss vom Land ausgehen, das für das System am wichtigsten ist. Daher schauen wir nach Peking. Wenn Peking das Richtige tut, überwinden wir die Krise rascher.

Professor Harold James

Der Brite Harold James (52) studierte Wirtschaftsgeschichte in Cambridge und lehrt seit 1986 an der Princeton University in New Jersey. Er ist Experte für deutsche Geschichte und globale Wirtschaftsgeschichte. James hat Standardwerke über die Deutsche Bank und europäische Familienfirmen geschrieben. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift «World Politics».

Schwarz oder Weiss, Herr James?

Geschichte oder Wirtschaftswissenschaften? Geschichte, da die meisten Ökonomen die langfristige Perspektive ausser Acht lassen und auf die Gegenwart fixiert sind.

Bernanke oder Greenspan? Bernanke. Weil er viel über Geldmengenpolitik nachdachte, versteht er die historische Zerbrechlichkeit des Systems.

Dollar oder Euro? Kurzfristig der Dollar. Langfristig wird es zahlreiche Schlüsselwährungen geben.

«Wall Street Journal» oder «New York Times»? Ich ziehe die «Financial Times» oder die «NZZ» beiden US-Zeitungen vor. Der US-Presse fehlt oft die internationale Sichtweise.

Inflation oder Deflation? Derzeit bestehen kaum inflationäre Gefahren. Die massive Zerstörung von Werten schürt deflationäre Tendenzen.