Immer mehr Privatkonkurse

Per Gesetz wollte der US-Kongress die Zahl der Bankrotte vermindern. Die Wirtschaftskrise hat den Effekt bereits aufgehoben. Eine neue Pleitewelle schwappt durch die Vereinigten Staaten. Besonders betroffen sind Senioren.

Von Peter Hossli

tent6.jpgDavid James legt ein Stück Holz aufs Feuer. Mit beiden Füssen schiebt der hagere Kerl mit blondem Bürstenschnitt einen Rost auf die glimmende Kohle und stellt einen verrussten Kessel drauf. Kaum brodelt das Wasser, giesst er eine Tasse Kaffee auf. Er schlürft daran. «Nicht schlecht», sagt James. «Vor ein paar Monaten konnte ich nicht einmal ein Feuer entfachen.»

Bei der Arbeit brach sich der Gabelstaplerfahrer die Wade. Er war nicht versichert, die Spital- und Arztkosten beliefen sich auf 40 000 Dollar. Just ging der 52-Jährige Pleite und verlor sein Haus. Jetzt lebt er in einer Zeltstadt für Obdachlose ausserhalb von Los Angeles.

Fast 50 Prozent mehr Pleiten

David James ist einer von vielen Amerikanern, die ihre Rechnungen nicht begleichen können und vor Gericht um Stundung nachsuchen. Atemberaubend schnellt derzeit die Zahl privater Pleiten in die Höhe. Zwischen April 2007 und April 2008 nahmen Bankrotte in den USA um 47,7 Prozent zu, so eine neue Studie des American Bancruptcy Institutes (ABI). Eine Million Amerikaner wird dieses Jahr zahlungsunfähig sein. «Die Zunahme bei den Privatbankrotten ist ein Abbild des ansteigenden finanziellen Drucks auf amerikanische Familien», sagt ABI-Direktor Samuel Gerdano.

Teure Energie und weniger Jobs

In einen «perfekten Sturm» geraten seien amerikanische Familien, sagt Christian Weller vom Center for American Progress, einer liberalen Denkfabrik. Zu den rasch ansteigenden Preisen für Energie und Lebensmittel kommen fallende Häuserpreise, stagnierende Löhne, weniger Jobs und verminderte Leistungen der Krankenkassen. «Das bringt viele an den Rand des finanziellen Ruins», sagt er. Die Folge: Konkursgerichte sind überlastet.

Dabei hätte ein vor zweieinhalb Jahren verabschiedetes Gesetz die Pleitenzahl eindämmen sollen. Acht Jahre hatten Kreditkartenfirmen und Warenhäuser darauf gedrängt, die Hürde für den Privatbankrott zu erhöhen. Mit Erfolg. So sind die Verfahrenskosten für Bankrotte gestiegen. Kreditgeber können neu auf Vermögenswerte zurückgreifen, die als unantastbar galten, etwa das Auto, das Eigenheim oder das Ausbildungsgeld der Kinder. Bevor sich ein Pleitier beim Konkursgericht in die Reihe stellen darf, muss er drei Monate mit einem Finanzberater nach Alternativen suchen. Erst wenn das nichts bringt, meldet er Konkurs an.

Nachdem Präsident George W. Bush das Gesetz unterzeichnete, ging die Zahl der Pleiten von knapp einer Million bis auf 600 000 zurück. Doch schon im Jahr 2007 stieg sie wieder auf 800 000 an. Die wirtschaftliche Realität hatte die Rechtssprechung ein- und überholt. «Trotz massiv verschärftem Gesetz reichen die Leute vermehrt Bankrott ein», sagt Rechtsprofessor Robert Lawless von der University of Nevada in Las Vegas. «Die steigende Pleitezahl reflektiert die immer schwierigere Situation, in welcher sich US-Familien befinden.»

90 000 Dollar Schulden pro Kopf

Parallel zu den Pleiten explodieren die Verbindlichkeiten. 2,6 Billionen Dollar schuldeten Amerikaner im März dieses Jahres, belegt ein im Mai veröffentlichter Bericht der US-Notenbank. Das sind 2600 Milliarden oder fast 90 000 Dollar pro Person, auch Greise oder Babys. Statt wie prognostiziert um 6 Milliarden Dollar stieg der private Schuldenberg im März dieses Jahres um 15,3 Milliarden Dollar an. Im Schnitt übersteigen die Schulden das Haushalteinkommen um 32 Prozent. Die Folge: Amerikaner geben 14 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Zinszahlungen aus.

Am meisten leiden die Senioren

Geradezu dramatisch nimmt die Altersarmut zu, belegt ein eben publizierter Report des Seniorenverbandes AARP. Machten Senioren 1991 noch rund 8 Prozent der Pleitefälle aus, sind es mittlerweile über 22 Prozent. Bei den 55- bis 64-jährigen Amerikanern steigt die Pleitenzahl um 40 Prozent an, bei den 65- bis 74-jährigen sogar um 125 Prozent und bei den 75- bis 84-jährigen Alten gar um 433 Prozent. Verantwortlich, sagt AARP, seien enorm angestiegene Kosten für rezeptpflichtige Pillen und Aufenthalte in Spitälern sowie fallende Pensionen.

Der Neustart als Triebfeder

Schämen muss sich jedoch nicht, wer Pleite geht. Das gehört zu Amerika wie der Apfelkuchen. Seit 1898 ist es Privatpersonen möglich, in prekärer finanzieller Lage Bankrott anzumelden und die Schulden vor Gericht wegzuwischen. Möglich wird, was als Triebfeder der hiesigen Risikobereitschaft gilt, nämlich der «fresh start», der Neuanfang. Gelten Pleitiers in vielen europäischen Ländern lebenslang als Versager, schreiben Ökonomen dem nachsichtigen Umgang mit Bankrotten die ungeheure amerikanische Erneuerungskraft zu.

Es gilt in den USA nicht als Schande, sich zu verschulden. Zumal selbst Prominente tief in der Kreide stehen. Cindy McCain etwa, die Gattin des republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain, hat zwei American-Express-Karten mit total 250 000 Dollar belastet. Die First Lady in spe kann sich die Last erlauben. Die Erbin eines Bierhandel-Imperiums verdiente letztes Jahr sechs Millionen Dollar.

Foto: Stefan Falke