Der Kunde – Mitarbeiter des Jahres

Der neuste Trend in der Arbeitswelt: Crowdsourcing, das Auslagern an die arbeitswillige Masse. Innovative Firmen finden ihre billigsten Arbeiter im riesigen Pool an freiwillig unterbezahlten Internet-Surfern.

Von Peter Hossli

Kleider machen bekanntlich Leute. Wenn die Leute die Kleider selber machen und sie trotzdem für teures Geld erwerben, bringt das hohe Gewinnmargen. Diesen simplen Schluss zogen vor sechs Jahren zwei vife Designer in Chicago, Jake Nickell und Jacob DeHart, damals 19 und 18 Jahre alt. Sie lancierten die Website Threadless.com und baten alsbald andere Designer, die Arbeit zu leisten.

Seither haben über 60’000 Amateure und Profis Design-Ideen für T-Shirts eingereicht. Davon gingen 450 in Produktion. Die Auswahl treffen nicht etwa Nickell und DeHart sondern 300’000 registrierte Kunden, die per Mausklick alle eingesandten Designs bewerteten. Gestalter, deren Entwürfe ausgewählt werden, erhalten 2000 Dollar. Ein Klacks dessen, was Profi-Designer üblich kosten.

Die Firma, deren Kunden vornehmlich Trendsetter sind, spart nicht nur beim Design. Indem sie die Konzepte von den Kunden auswählen lässt, fallen sämtliche Kosten für Marktforschung weg. Gleichzeitig bleiben Flops meist aus.

Die Werbung besorgt ebenfalls die Kundschaft. Wer ein Bild von sich mit einem Threadless-Shirt einschickt und zur Veröffentlichung freigibt, kriegt einen Nachlass von 1,5 Dollar beim nächsten Einkauf. Ebenso viel Rabatt erhält, wer auf seiner persönlichen Site einen Hyperlink zu Threadless einbaut.

Fürs laufende Jahr erwartet Threadless 20 Millionen Dollar Umsatz. Firmengründer Nickell und DeHart, jetzt 25 und 24, betreiben eine Holding mit sechs Websites, auf denen die Kunden die Arbeit erledigen.

Das Konzept ist erfolgreich, weil weltweit immer mehr Menschen immer mehr Zeit online verbringen. Weil sie über einen Anschluss mit hoher Bandbreite verfügen. Weil die Betreiber von Websites heute günstig hoch komplexe Software einsetzen. Vor allem aber, weil viele bereit sind, ihre nebenbei aufkeimende Kreativität für ein kleines Entgelt zur Verfügung stellen.

Gemerkt haben das kleine Start-ups wie multinational operierende Konzerne, die vermehrt auf den schier endlos grossen Pool an arbeitswilligen und kostengünstigen Web-Arbeitern zurückgreifen. Das US-Magazin «Wired» gab dem Phänomen nun einen griffigen Namen: Crowdsourcing, in Anlehnung an Outsourcing, die Verlegung von heimischen Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer wie Indien oder China.

Wer auf Crowdsourcing setzt, kann darauf verzichten. Es spielt keine Rolle mehr, wo die billigen Online-Arbeiter sitzen. Sie haben keinen Chef, der anstellt oder beaufsichtigt, keinen Büroplatz, keine feste Arbeitszeit. Sie arbeiten wenn sie Lust haben. Da sie ihren Lebensunterhalt sonst wie bestreiten, werken sie für wenig. Der dänische Spielzeugriese Lego beispielsweise fordert seine Fans auf, ständig neue Ideen für die Plastikbauklotzwelt einzusenden. «Wired»-Autor Jeff Howe definiert Crowdsourcing als «Arbeit, die einst Angestellte erledigt haben, die jetzt aber die anonymen Masse tätigt.» Weit günstiger.

So krempeln derzeit hochwertige aber günstige Foto- und Videokameras den Markt für starre wie bewegte Bilder um. Amateure publizieren ihre Fotos auf iStockphoto.com, ein digitales Bildarchiv, das jedem offen steht. Kunden – Magazine, Werbeagenturen – können das uneingeschränkte Nutzungsrecht an allen online abgelegten Bildern erwerben. Und zwar für einen Dollar das Stück. Ein professioneller Fotograf verlangt für ein Archivbild im Minimum 100 Dollar für eine einzige Verwendung. Kein Wunder, greifen Bildredakteure von Zeitungen oder Websites oder Designer von Geschäftsberichten vermehrt auf solch billige Anbieter zurück. 10 Millionen Bilder will iStockphoto.com im laufenden Jahr verkaufen. Monatlich steigt der Umsatz um 14 Prozent. Solches Wachstum hat die Konkurrenz wachgerüttelt. Im Februar erwarb der weltweit grösste Anbieter von Archivbildern, Getty Images, den Amateurbund für 50 Millionen Dollar.

Ähnlich verändert Crowdsourcing die Produktion und den Vertrieb von Programmen für Fernsehstationen. Ein Drittel aller Inhalte, die Al Gores Fernsehstation Current TV ausstrahlt, haben vife Hobby-Filmer gefertigt. Die weissen Rapppioniere Beastie Boys liessen ihren letzten Konzernfilm von Fans preisgünstig drehen – und verkaufen ihn jetzt als DVD. Produzenten von Fernsehsendern durchforsten zunehmend Sites, auf denen Hobby-Filmer ihre – teilweise hervorragenden – Clips lagern. Gefällt ihnen etwas, kaufen sie es ein und strahlen es aus. Eine weit billigere Produktionsweise als eigene Inhalte zu entwickeln.

Nicht mehr stimmt demnach die alte Weisheit des legendären Ölbrand-Löschers Red Adair. «Wenn Du glaubst, ein Profi sei teuer, warte, bis Du mal einen Amateur anstellst.»

Lange bevor es den Begriff gab, setzte Eli Lilly auf Crowdsourcing. 2001 dachte der US-Pharmakonzern ausserhalb der famosen Box und lancierte InnoCentive, ein Webportal, auf dem Firmen gegen eine Gebühr Probleme publizieren können. Wissenschaftler lösen die kniffeligen und kommerziell wertvollen Aufgaben. Mittlerweile ist InnoCentive zu einem globalen Netzwerk aus 90’000 Denkern aus 100 Ländern angewachsen. Weltkonzerne wie Novartis, Nestlé oder Boeing nutzen den Wissenspool.

Colgate-Palmolive suchte etwa nach einem neuen Verfahren, um Fluoridstaub in eine Tube Zahnpasta zu pumpen. Ein kanadischer Wissenschaftler, der nie einen Doktortitel erworben hat, löste das Problem binnen Tagen. Colgate zahlte ihm 25’000 Dollar. Minimal, im Vergleich dessen, was die Firma für eine interne Lösung bezahlt hätte.

Setzt InnoCentive auf eine hochgebildete Masse, rekrutiert Amazon die Masse per se. Der Internet-Supermarkt hat unlängst die Crowdsourcing-Plattform Mechanical Turk – mechanischer Türke –, lanciert, in Anlehnung an einen Scherz aus dem 18. Jahrhundert. Damals schuf der Schriftsteller Wolfgang von Kempelen aus Bratislava eine hölzerne Box, in der ein Mensch unerkannt Schach spielte. Von Kempelen pries die Kiste als ersten Schachroboter an. Spötter nannten sie «mechanischer Türke».

Amazons Türke erlaubt es Firmen, digitale Aufgaben zu stellen, die sehr simpel sind, die aber dennoch kein Computer erledigen kann, etwa einfach Daten eingeben oder den Inhalt von digitalen Bilder mit einem Wort umschrieben. Lohn pro Stunde: ein Dollar.