Es muss reichen, bis zur letzten Stunde

Jeder Mensch hat eine Zahl, über die er partout nicht reden mag: Was der Rest des Lebens kostet. In einem Aufsehen erregenden Buch bricht Lee Eisenberg das letzte Tabu.

Von Peter Hossli

Geplappert wird am Stammtisch über alles. Das erschlaffte Sexleben. Die wöchentliche Linie Koks. Den Eintrag ins Strafregister. Nur etwas bleibt geheim: Ob das, was auf der hohen Kante liegt, reicht, dem gewohnten Lebensstil bis zum Tod zu frönen. Dabei ist das eine handfeste Zahl, die alle betrifft, ob Bettler, Banker oder Barbier.

Allerdings sieht sie für alle anders aus, in Grösse wie emotional. Banker beispielsweise bekunden damit oft mehr Probleme als Bettler.

Herausgefunden und süffisant niedergeschrieben hat diesen Befund der ehemalige Journalist und «Esquire»-Chefredaktor Lee Eisenberg. Sein Buch «The Number», seit Januar erhältlich, besetzt die obersten Plätze der US-Bestsellerlisten. Talk-Shows reissen sich um ihn. Kritiker loben, er hätte «das letzte Tabu gebrochen». Tritt er auf, sagt er stets dasselbe: Viel zu selten und meist zu spät würden sich Leute Gedanken darüber machen, wie sie den Ruhestand verbringen – und bezahlen sollen.

Dabei reiche es keineswegs, den Taschenrechner hervorzuklauben und Erträge und Kosten aufzurechnen. Nützlicher sei es, ein Leben grundsätzlich zu begutachten, zumal «ein begutachtetes Leben stets weniger kostet als ein ungeprüftes».

Eine simple Frage, so Eisenberg, helfe: «Wenn man erfährt, nur noch 24 Stunden zu leben, was würde man bereuen, zuvor nicht getan zu haben?» Die weit schwierigere Antwort schaffe Klarheit, was wirklich wichtig sei – und wie man den Lebensabend verbringen wolle.

Der Befund bestimme die pikante Nummer meist so tief greifend wie etwa die Gesundheit. Wer in den alten Tagen beispielsweise den grandiosen historischen Roman zu verfassen gedenke, braucht wenig Geld. Wer ins Weltall fliegen möchte, benötigt ein paar Millionen extra. Eisenbergs Erkenntnis: «Wirklich wichtige Dinge sind oft billiger als Konsumprojekte, die tägliche Bergwanderung günstiger als die Jacht in der Karibik.»

Zeitpunkt und Erfolg von «The Number» sind kein Zufall. Heuer werden die ältesten der so genannten Baby-Boomer sechzig. Mit dem Alter konfrontiert ist jene amerikanische Nachkriegsgeneration, die als erste frei war. Die freien Sex und psychedelische Drogen genoss, die in Woodstock feierte, gegen Kriege demonstrierte, Milliarden scheffelte und verlor, die Bill Clinton, George W. Bush und Bill Gates hervorgebracht hatte.

Was die 76 Millionen oft selbst verliebten Baby-Boomer laut Eisenberg verdrängt hatten: Alt zu werden.

Eisenberg, 59, muss es wissen. Er schrieb sein Buch aus finanzieller Beklemmnis. Mit 51 schien seine Karriere am Ende. Der Vater zweier Töchter lebte ausserhalb New Yorks, spielte viel Golf, pendelte dreimal wöchentlich nach Manhattan und beriet das Verlagshaus Time Inc. Finanzielle Planung war ihm egal. Er hatte zwei Kinder – und kriegte plötzlich Angst, den gewohnt beflissenen Lebensstil bald nicht mehr finanzieren zu können.

Just kam ein Jobangebot als Marketingleiter für das etwas biedere Modelabel Land’s End. Eine Stelle, die im reichlich Geld bringen, sein vermeintlich unverrückbares Dasein als New Yorker Kosmopolit jedoch beenden und ihn in den Käsestaat Wisconsin versetzen würde.

Die konfliktreiche Kostenabwägung faszinierte ihn. Hier die finanzielle Sicherheit, dort der gewünschte Lebensstil. Eisenberg nahm den Job, blieb fünf Jahre und kassierte bei der Übernahme von Land’s End rund fünf Millionen Dollar.

Die Frage nach der Lebenszahl liess ihn nicht los. Über ein Jahr reiste er durch Amerika und befragte 40- und 50-jährige zu deren Nummer. Eines fiel ihm auf: Trotz einem Wulst an Informationen zu Anlageformen verdrängt ein Grossteil das heikle Thema – obwohl oder gerade weil die Enron- oder WoldCom-Skandale manche Pensionskasse vernichtet hatte und die amerikanische Einzelverschuldung noch nie so hoch war. Verschärfend wirkt: Die Lebenserwartung ist stark angestiegen, manche und mancher setzt sich gesund und mobil zur Ruhe. Und das kostet.

Nicht einen weiteren Anlageberater wollte Eisenberg verfassen, sondern Fragen anregen. Was will jemand vom Leben? Welche Ziele bleiben? Was bedeutet eigentlich eine Million, ist das viel oder wenig? Aufzeigen will er, was diese ominöse Nummer alles zu leisten hat. Etwa vor Hunger, Kälte und Krankheit schützen. Aber auch Angehörige umsorgen – und vor allem sollte sie Wünsche erfüllen.

Wenig Hilfe biete die Finanzindustrie, stellte Eisenberg rasch fest, trotz riesigem Berater-Heer. Das sei allein an Finanzplanung interessiert, nicht an der emotionalen Seite der Lebensplanung – obwohl diese die Nummer weit mehr beeinflusse.

Viele arme Schlucker und ewige Mittelklässler dürfte eine zentrale Erkenntnis Eisenbergs heimlich freuen: Am meisten Mühe mit der Nummer haben laut Eisenberg Reichen und beruflich Erfolgreiche.

So hat sich mancher Manager an einen Lebensstil gewohnt, den ihm die Firma zahlt – den Tropfen in der Edelkneipe, die Business-Class-Flüge, die Mitgliedschaft im Golfclub. Rasch könnten solche Nettigkeiten einen Wert von jährlich 100’000 Dollar erreichen, so Eisenberg. Geld, das nach der Pensionierung fehlen würde. Vielen bleibt nur die Zurückstufung, der Umzug ins kleinere Haus, zurück zum Fusel und in die Holzklasse.

Massgebend sei noch, ob jemand bei der Abendhygiene täglich Zahnseide benutze. Wer das tut, der lebt wissenschaftlich belegt nämlich ein paar Jahre länger, und braucht dementsprechend mehr Geld.

Die Nummer
Es sei fast unmöglich, einen exakten Betrag zu eruieren, den jemand brauche, um den Rest seines Lebens in gewünschter Form zu verbringen. Zu viele variable Variablen beeinflussen die Zahl, sagt Lee Eisenberg. Dennoch liefert sein Buch «The Number: A Completely different Way to Think About the Rest of Your Life» Lebensstil-Kategorien und eine Formel.

Die Kategorien
• Wer komfortabel lebt, ein Zuhause hat, moderat isst und reist, braucht jährlich zwi-schen 50’000 und 100’000 Dollar. Er muss beim Ruhestand zwischen 1 – 2 Millionen Dollar haben.
• Wer besser als komfortabel lebt, also ab und zu im teureren Hotel absteigen will und ein Ferienhaus hat, braucht zwischen 175’000 bis 250’000 Dollar. Die Nummer: 2 – 5 Millionen Dollar
• Wer beinahe reich ist, teuer isst, reist und trinkt, Geld spendet, ständig die Freunde einlädt, ein paar Häuser hat, braucht jährlich 350’000 – 500’000 Dollar. Die Nummer: 7 – 10 Millionen Dollar.
• Wer wirklich reich ist, also im exklusiven Club Gold spielt, ein Haus für jedes Jahreszeit hat, mehrere Monate im Jahr unterwegs und Teilhaber eines Privatjets ist, braucht jährlich über eine Million Dollar. Die Nummer: über 20 Millionen Dollar.

Die Formel
A. Die Summe aller investierten Anlagen:____
B. Multipliziere A mit dem Faktor 0.4. Das ergibt die Zahl, die man jährlich aus der Inves-tition ziehen kann:___
C. Der Wert des Eigenheims, dividiert durch zu erwartenden Lebensjahre:___
D. Erbsumme, dividiert durch zu erwartenden Lebensjahre:____
E. Alle jährlich zu erwartenden Sozialleistungen:____
F. Alle restlichen jährlichen Einkommen, etwa von Teilzeitarbeit___.
Addiere B. bis F.:_____ Das ist die jährliche Summe, die jemand gewissenlos ausgeben könne.
Allerdings brauche man oft weit weniger, weil der Glücklichkeitsfaktor die Summe ver-ringere, sagt Eisenberg.