Greenspan: Keine Angst vor Defizit

Der Präsident des Fed greift in den Wahlkampf ein und unterstützt George W. Bush. Alan Greenspan signalisiert einen Kurswechsel. Nicht das Defizit, sondern höhere Steuern gefährden nach Ansicht des US-Notenbankchefs den Aufschwung.

Von Peter Hossli

Hustet Alan Greenspan, kränkelt die Wall Street. Tritt der Chef der amerikanischen Notenbank – wie in letzter Zeit fast wöchentlich – ans Mikrofon, schwitzt John Kerry. Die jüngsten Aussagen von Greenspan, im Juni 76-jährig, stehen in starkem Kontrast zum Wirtschaftsplan des demokratischen Herausforderers von George W. Bush. Greenspan, der seine Reden der Legende nach in der Badewanne verfasst, sieht in Kerrys Ideen eine Gefahr für die US-Wirtschaft.

Schafft der Senator aus Massachusetts den Sprung ins Weisse Haus, will er zuerst die Steuern für Amerikas Topverdiener erhöhen. Mit dem zusätzlichen Geld gedenkt er, das enorme Budgetdefizit von derzeit 521 Milliarden Dollar – 4,2 Prozent des Bruttosozialproduktes – zu halbieren. Dieselbe Strategie, sagt Kerry, habe in den neunziger Jahren unter Bill Clinton – mit Greenspans Segen– kontinuierliches Wachstum, einen hohen Beschäftigungsgrad sowie einen ausgeglichenen Haushalt beschert.

Die nach Clintons Finanzminister Robert Rubin benannten Rubinomics gehen davon aus, dass ein ausgeglichener Staatshaushalt auf Goodwill der Finanzmärkte stösst, tiefe Zinsen nach sich zieht und die Konsumenten zum konsumieren anregt. Dem gegenüber stünden Bushs Steuerkürzungen für die Reichen, die ein Loch in die Staatskasse rissen – und Jobs kosteten. Ausserdem würde künftigen Generationen eine riesige Schuldenlast aufgebürdet, argumentiert Kerry.

Dieses Argument höhlt Greenspan, seit 1987 Chef der Federal Reserve Bank, nun aus. Nicht die enorme persönliche Verschuldung der Bürger sowie die hohen Defizite des Staates, sondern höhere Steuern würden den Aufschwung hemmen. Amerika, sagt Greenspan, kann sich Schulden leisten.

Insgesamt seien die Amerikaner reicher geworden, vornehmlich dank stark wachsenden Immobilien- und Aktienpreisen. Da sich das Zinsniveau seit Jahren auf historisch tiefem Niveau – so niedrig wie seit 1958 nicht mehr – einpendelt, sei Schuldenmachen billig geworden. Zudem seien die Finanzmärkte heute weit ausgereifter als noch vor zwanzig Jahren und daher in der Lage, die Schulden der Nation zu finanzieren.

Greenspans Haltung stösst auf harsche Kritik. «Ich widerspreche Herrn Greenspan in aller Deutlichkeit», sagt der Ökonomieprofessor an der Harvard University, Benjamin Friedman. «Es gibt keinerlei Beweise, dass Steuererhöhungen für Reiche zu einer Verminderung der Investitionen führen», sagt er. «Das haben die neunziger Jahre deutlich gezeigt.»

Hingegen hält Friedman die Defizite für sehr «gefährlich für die Zukunft», sagt er. «Unser Land bewegt sich in die falsche Richtung.»

Defizite seien dann «gut und auch notwendig», wenn sich ein Land in einer Rezession befinde und Arbeitsplätze schaffen müsse, wie in den Jahren 2001, 2002 und teilweise 2003. «Jetzt ist die Rezession vorbei, es werden Jobs geschaffen, die Defizite müssten eigentlich fallen.»

Da sie stattdessen stiegen, nähme die Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern stark zu. «Das stellt in der Zukunft eine enorme Gefahr für das Wachstum, die Löhne und die Investitionen dar», sagt Friedman. Er sehe «bei Bush keinerlei Ansätze, die Gefahr zu bannen». Gar als «rücksichtslos» bezichtigt William Gale, ein Ökonom des Brookings Institutes, die Fiskalpolitik der Bush-Regierung. Auf jedes Problem werde kopflos mit einer Steuerkürzung reagiert. «Aber sie verringert die Ausgaben nicht, sie erhöht die Ausgaben sogar.»

Es ist eine Milchbüchleinrechnung. Die Einnahmen sinken, wohingegen die Ausgaben steigen. 15,7 Prozent des Bruttosozialproduktes betragen die Steuereinnahmen der amerikanischen Bundesregierung noch. Vor vier Jahren waren es 20,9 Prozent gewesen. Grund für die Abnahme sind zu 90 Prozent die enormen Steuerkürzungen der Bush-Regierung.

Gleichzeitig betragen die Ausgaben rund 20 Prozent des Bruttosozialproduktes. Unter Bill Clinton waren es noch 18 Prozent gewesen. Gemäss einer Hochrechnung des Brookings Institutes sollen sie im Jahr 2014 sogar 22 Prozent betragen. Werde diese Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben nicht geschlossen, «droht der Kollaps», warnt Harvard-Ökonom Friedman.

Dem widerspricht das Wahlkampfteam von Präsident Bush. «Reagan hat bewiesen, dass Budgetdefizite keine Rollen spielen», verteidigt Vizepräsident Dick Cheney die so genannte «Supply-Side»-Theorie. Demnach müsse man Steuern kürzen, um die Wirtschaft anzukurbeln, was wiederum verlorene Einnahmen wettmache. Unter Ronald Reagan betrug das Defizit 6 Prozent des Bruttosozialproduktes, also mehr als heute, obwohl das Land damals weder im Krieg noch in einer Rezession war.

Tatsächlich wuchs die Wirtschaft damals markant. Das Defizit verringerte sich allerdings erst, nachdem Reagan die Militärausgaben senkte und einige Steuerkürzungen zurück nahm.

Ob Kerry die Defizite wegbringt, könne man noch nicht sagen, sagt Friedman. «Es ist zu begrüssen, dass er den Steuersatz für die Reichen erhöht», sagt er, «allerdings sieht er auch neue Ausgaben vor, die den Staatshaushalt belasten.»

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Greenspan kritisiert Kerry wegen Protektionismus

Nicht nur in Fiskalfragen scheint George W. Bush derzeit Alan Greenspan auf seiner Seite zu haben. Der Fed-Chef brandmarkte John Kerrys Drohung, notfalls Schutzzölle zu erheben, um amerikanische Arbeitsplätze zu erhalten. «Diese angeblichen Heilmittel könnten die Lage eher verschlechtern als verbessern», sagte Greenspan. Mit einem Protektionisten im Weissen Haus, würde der Lebensstandard «stagnieren oder vielleicht zurückgehen». Greenspan hält das Handelsbilanzdefizit der USA – heuer 3,5 Billionen Dollar – für «dem Anschein nach ereignislos». Viel gefährlicher sei der «sich zusammenbrauende Protektionismus». Gemäss Greenspan würden die «Kosten jeglicher protektionistischer Initiative die Flexibilität der globalen Wirtschaft auslöschen».

Harvard-Ökonom Benjamin Friedman stellt sich gegen die Eminenz der US-Wirtschaftstheorie. Er hält das Handelsdefizit für «noch gefährlicher» als das Haushaltsdefizit. Dadurch erhöhe sich die Abhängigkeit von ausländischen Darlehensgebern.