Verdrängte Schuld, verschleppte Sühne

Versicherungen unter Druck: Holocaust-Opfer fordern die sofortige Auszahlung der Policen. Nach wie vor drücken sich deutsche, italienische, französische und Schweizer Versicherer um ihre Verantwortung aus der Holocaust-Vergangenheit. Im US-Kongress und in Kalifornien sind Gesetze hängig, die nicht kooperative Versicherungen vom US-Markt ausschliessen.

Von Peter Hossli

Deutlich formuliert es die Kommission für Regierungsreform in einem Brief an Aussenminister Colin Powell: «Wenn die Firmen künftig von der US-Regierung Schutz bei Klagen wollen, müssen sie ihre Versprechen einlösen.» Damit sind Zahlungen europäischer Versicherungen an Opfer des Holocausts gemeint. «Sollten sie das nicht tun, fordern wir das Aussenministerium auf, die nötigen Schritte einzuleiten, damit Klagen gegen Versicherungsgesellschaften wieder zulässig werden.»

Der Demokrat Henry Waxman hat den Parlamentarierbrief mitunterzeichnet. Die Zeit eile, sagt er: «Viele Überlebende des Holocausts nähern sich dem Lebensende.» Man müsse jetzt rasch handeln. «Gibt es keine Alternative, wäre ich nicht überrascht, wenn es bald wieder Klagen gibt», sagt Waxman gegenüber CASH. Als Ko-Chairman der Kommission für Regierungsreform überwacht der Kalifornier ein tristes Kapital bei der Aufarbeitung des Holocausts: die Rolle der europäischen Versicherungsgesellschaften.

Sie begann in der Kristallnacht im November 1938. Nachdem marodierende Nazis über 1000 Synagogen angezündet und gegen 7500 jüdische Geschäfte niedergebrannt hatten, wurde den Opfern die Rechnung präsentiert – die Juden selbst mussten für den Schaden aufkommen. Obendrein kassierte die Gestapo die Gelder der Gebäudeversicherer. In den Wirren des Kriegs und in den Vernichtungslagern gingen etliche Dokumente verloren. Firmen änderten ihre Namen. Policen von ermordeten Juden fielen unbezahlt den Versicherungen anheim. Später erhielten Überlebende des Holocausts oder die Nachkommen von Opfern weder Lebens- noch Krankenversicherungen ausbezahlt.

Alle richten schwere Vorwürfe an die Versicherungen

Wie bei den nachrichtenlosen Konten zeichneten sich Sammelklagen und Boykotte ab. Seit 1998 versucht eine Kommission unter dem ehemaligen US-Aussenminister Lawrence Eagleburger, Gerechtigkeit herzustellen und Klagen abzuwenden. Gegen die Zusicherung, Rechtsschutz zu erhalten, traten die Versicherungen Zürich, Winterthur, Generali aus Italien, die deutsche Allianz und die französische Axa der International Commission on Holocaust Era Insurance Claims (ICHEIC) bei. Bereits 1999 hatte sich die Basler Leben verabschiedet. Sie hatte zwar einen finanziellen Beitrag geleistet, fürchtete aber, sie könnte zu wenig mitreden. Zudem ist sie in den USA nicht mehr aktiv.

Die ICHEIC hat bisher nicht viel gebracht, denn von den 80 000 Anträgen wurden erst etwa 800 Policen ausbezahlt. Das gehe so langsam, weil die Versicherungen Informationen vorenthielten, sagen jüdische Organisationen und Eagleburger. «Der Hauptgrund für die nach wie vor ungeklärten Versicherungsanträge liegt im Nichtstun der Versicherungen», sagt Waxman. Die betroffenen Firmen veröffentlichten nicht nur keine Listen, sie würden auch zu Unrecht Anträge für nichtig erklären oder deren Wert massiv mindern. Von schätzungsweise drei Millionen Policen hätten die beteiligten Versicherungen gerade mal die Namen von 9000 Betroffenen präsentiert. Aus Protest legte deshalb Lawrence Eagleburger Ende Januar kurzfristig sein Amt nieder. Wutentbrannt verliess er eine ordentliche Sitzung. Erst als ihm zusätzliche Befugnisse eingeräumt wurden, kehrte er zurück.

Die Versicherer klagen die Kommission an

Die Versicherer kontern, die Kommission arbeite ineffizient. Bis anhin hätte Eagleburgers Team über 40 Millionen Dollar an Löhnen und Verwaltungskosten verbraucht, dagegen seien bloss zwölf Millionen Dollar an die Opfer ausbezahlt worden. Das habe vor allem damit zu tun, dass fast sämtliche Sitzungen in London und nicht in Washington stattfinden müssen, verteidigt sich Eagleburger. Damit wollten die Versicherungen verhindern, auf US-Boden Beweismaterial für eine mögliche Klage zu kreieren. Im Übrigen seien die Versicherer ihrem Versprechen nicht nachgekommen, insgesamt 90 Millionen Dollar an die Arbeit der Kommission zu leisten. Bis anhin seien erst 30 Millionen eingetroffen. Seit August 2000 würden die Versicherer überhaupt nichts mehr einzahlen – «um uns zu bestrafen», sagt Eagleburger.

Ein Hearing im vergangenen November, zu dem Waxman alle Beteiligten eingeladen hatte, brachte wenig. Die Frage, warum die Kommission so viel Geld verschlinge, beantwortete Eagleburger unwirsch: «Das geht Sie nichts an.» Daraufhin liess sich Eagleburger exakt sechs Monate Zeit, auf eine Anfrage Waxmans, wo denn das Problem liege, zu antworten. «Wenn die ICHEIC scheitert, bleibt den Opfern keine Möglichkeit mehr, ihre Ansprüche einzufordern», sagt Waxman. Es blieben bloss noch Klagen.

Zusätzlich übt Waxman Druck per Gesetz aus. Gemäss einem im US-Kongress hängigen und kaum auf politischen Widerstand stossenden Entwurf würden Versicherungen, die nicht alle Policen aus der Holocaust-Ära veröffentlichen, automatisch vom lukrativen US-Markt ausgeschlossen werden.�