Der Diktatorenjäger

Weltweit jagt der Menschenrechtsanwalt Reed Brody Diktatoren.

Von Peter Hossli

Eng und wirr ists im kleinen Büro des hartnäckigen Diktatorenjägers. Auf dem Tisch steht eine Flasche blondes belgisches Bier. Daneben eine Kanne kalter Kaffee. Papierberge quillen über. Ordnung herrscht allerdings an der beigen Wand. Dort hängt der berühmte Atlas des Schreckens, eine riesige Weltkarte.

Fein säuberlich hat Reed Brody, 48, darauf mit spitzen Nadeln briefmarkengrosse Bilder von Despoten auf jenen Ländern angesteckt, in denen sie sich vor der Justiz verstecken. Vom Ugander Idi Amin in Saudi-Arabien, dem Tschader Hissène Habré im Senegal, Ariel Sharon in Israel, vom Paraguayer Alfred Stroessner in Brasilien, Jean-Claude Duvalier aus Haiti in Frankreich, Henry Kissinger zu Hause in New York, dem Saudi Osama bin Laden in Afghanistan. Männer, unter deren Regimen Millionen von Menschen ermordet, gefoltert oder sonstwie misshandelt worden sind.

Brody, Advocacy Director der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, jagt sie. Von seinem Büro im 34. Stock des New Yorker Empire State Buildings aus. Und in den abgelegensten Winkeln der Welt. Fast ein Drittel seiner Zeit verbringt der Familienvater ausserhalb der USA, sammelt Beweise, trifft lokale Aktivisten, investigiert. «Man muss sie aus ihren Löchern holen und vor Gerichte stellen», sagt Brody.

Es gebe weltweit mindestens zwanzig Personen, gegen die eine Klage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzureichen sei, schätzt er. Sein Anzug ist zerknittert, die Krawatte lose umgebunden, das Haupthaar dicht. Leicht aus der Form geraten der Rumpf. Scheinbar unerschöpflich die nervöse Energie. Erneut klingelt das Telefon, aus Afrika. In perfektem Französisch gibt Brody einer Radiostation ein Interview zu afrikanischen Anstrengungen beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus.

Eine nächste Anruferin will ihn zu einer eilends einberufenen Konferenz zu den Attacken auf die USA nach Washington einladen. «Stell bitte niemand mehr durch», bittet Brody die Sekretärin.

Als Advocacy Director orchestriert er die internationalen Aktivitäten von Human Rights Watch, eine der weltweit angesehensten Menschenrechtsorganisation. Geradezu leidenschaftlich jagt Brody Diktatoren, «bad guys», wie er sagt, Bösewichte. «Es ist meine Passion», gesteht Brody, «die Bösen zur Strecke zu bringen». Keineswegs Krude Rachegelüste leiten ihn. Eher echte Empathie. «Wir schulden es den Opfern von Verbrechen, dass die Täter der Justiz überführt werden.» Seines Erachtens gibts keinen aufrichtigeren Weg, deren Würde wiederherzustellen. «Ja, ich glaube an Gerechtigkeit», sagt Brody, beinahe ehrfürchtig. Es sei ihm wichtig, «historische Ungerechtigkeiten auszugleichen». Personen, die grausige Delikte begangen haben, will er «entmachten und entwürdigen».

Quirlig redet Reed Brody. Rasch denkt er. Präzise jede Antwort, dazu ein ständiges Schmunzeln im Gesicht. Fliessend spricht der New Yorker auch Spanisch und Portugiesisch. Gerne scheint er zu essen. «Let’s have Lunch», sagt Brody, kaum hat das Interview begonnen. «Ich gebe es ja zu», gesteht er auf dem Weg zum Restaurant, vorbei an den strengen Sicherheitskontrollen beim Empire State Building. «Die düstere Miene Osama bin Ladens hängt erst seit dem 11. September an meiner Wand.»

Für ihn gibts keine Frage, was mit dem Hauptverdächtigen der jüngsten Terroranschläge passieren sollte. «Es war eine Attacke auf die Menschlichkeit», sagt Brody. «Alle Beteiligten müssen vor ordentliche Gerichte gestellt und der Justiz überführt werden». Ideal wäre es, wenn der geplante internationale Strafgerichtshof in Den Haag seine Arbeit bereits aufgenommen hätte. Ein islamischer Richter würde präsidieren. Mit der Exekution als gerechte Strafe? «Abgesehen davon, dass ich gründsätzlich gegen die Todesstrafe bin», sagt Brody, «ist sie für eine solche Tat doch komplett unangemessen.»

Die Chancen des permanenten Weltgericht seien durch die Attacken enorm gestiegen, «zumindest emotional», glaubt Brody. «Das Bewusstsein, dass die Welt globale Probleme wie den Terrorismus nur multilateral lösen kann, breitet sich derzeit blitzschnell aus.» Sogar in den USA, wo der Widerstand gegen übergeordnete richterliche Instanzen besonders ausgeprägt war.

Dass es auch ohne geht, führte Brody selbst vor. In der Nacht vom 16. Oktober 1998 verhaftete die britische Polizei in London den ehemaligen chilenischen Diktator General Augusto Pinochet. Ein spanischer Richter hatte den Haftbefehl ausgesprochen – aufgrund von Klagen von Exilchilenen aus der Schweiz, Chile, Spanien, Frankreich und Belgien. «Ein historischer Akt», sagt Brody, der massgeblich an der juristischen Untersuchung des Falles in London beteiligt war. Federführend argumentierte er vor den britischen Lords. Die internationale Uno-Konvention gegen Folter, überzeugte er die Richter, verlangt von England die Auslieferung Pinochets in ein Land, das ihn strafrechtlich verfolgt.

Zwar erlauben die Rechtssysteme etlicher Länder Klagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter, Kriegsgreuel oder Genozid. Seit dem Nürnberger Prozess von 1946, als die Nazis vor ein russisch-britisch-amerikanisches Gericht gestellt wurden, existiert das Konzept der universellen Gerichtsbarkeit. Bis zur spektakulären Verhaftung Pinochets kam sie jedoch selten zur Anwendung.

Die Gerichte einzelner Staaten sorgten sich bloss um Verbrechen in ihren Ländern. Vornehmlich politische Gründe hinderten Regierungen zudem daran, Klagen zu erheben oder versteckte Täter auszuliefern. «Seit Pinochet zittern vielen Tyrannen die Knie», sagt Brody. «Dass der politische Wille für dessen Verhaftung anhielt, war geradezu revolutionär.» Neu könnten nun nicht mehr bloss Staaten zur Verantwortung gezogen werden, sondern zusätzlich Individuen – Generäle, Präsidenten oder Monarchen.

Als nächstens will er den Ex-Diktator des Tschads, Hissène Habré, zur Strecke bringen. Habré tyrannisierte das afrikanische Land von 1982 bis zu dessen Sturz 1990. Seinem Terrorregime fielen 40000 politische Gegner zum Opfer, schätzungsweise 200000 wurden gefoltert. Unterschlupf fand Habré im Senegal.

Eigenhändig trug Brody im Tschad Beweise zusammen, interviewte Betroffene, sichtete Tausende Dokumente, welche die Taten von Habrés Regimes dokumentieren. Vor einem Gericht in Senegals Hauptstadt Dakar legten Human Rights Watch sowie andere Organisationen detaillierte Hinweise für 97 politische Morde, 142 Folterfälle sowie über 100 verschwundene Personen vor.

Brodys Klage erlitt im Juli 2000 eine Abfuhr, das Gericht in Dakar fühlte sich nicht zuständig. Er ist aber sicher: Habré werde bald nach Belgien ausgeliefert und in Brüssel vor Gericht gestellt. «Offensichtlich bin ich ein Optimist.»

Geschilderte Erlebnisse seines Vaters sowie ein längerer Aufenthalt in Nicaragua haben den Anwalt dazu bewogen, für die Rechte der Menschen einzutreten. Brodys Vater, ein ungarischer Jude, verbrachte während des Zweiten Weltkrieges mehrere Jahre in deutschen Arbeitslagern. Wie ein Wunder entkam er dem Tod. «Böse Kerle müssen zur Strecke gebracht werden», sagte sich Reed bereits als Kind. Sein Waffe wurde das Recht.

Nach dem er einige Jahre im New Yorker World Trade Center als Assistent des städtischen Staatsanwalts gewirkt hatte, nahm er eine Auszeit und reiste Mitte der achtziger Jahre durch Lateinamerika. In den Ferien in Nicaragua stiess der Amerikaner auf wenig Gegenliebe. «Mütter fragten mich direkt, warum meine Regierung die Ermordung ihre Söhne finanziert», erzählt er. «Ich spürte eine ungeheure Verantwortung.» Ein Antwort hatte er noch nicht parat.

Statt dessen stellte er Fragen, interviewte hunderte von Betroffenen, sammelte Beweise für Verbrechen der von den USA unterstützten Contras. Seinen detailreichen Report übergab Brody der «New York Times», die auf der Frontseite über die Abscheulichkeiten berichtete – und die US-Regierung arg in Bedrängnis brachte. Zwischenzeitlich stoppte der Kongress die Finanzierung der Contras.

Amerikaner sind vor Reed Brody ohnehin nicht sicher. So prangt ein schwarzweisses Bild von Henry Kissinger auf der famosen Weltkarte. Der ehemalige Aussenminister der USA wird beschuldigt, bei der Ermordung chilenischer und indonesischer Oppositioneller beteiligt gewesen zu sein. Ausserdem hätten die Flächenbombardements in Südostasien klar gegen Menschenrechte verstossen. Kissinger soll sie angeordnet haben. «Gibt es handfeste Beweise dafür, dass Kissinger von den verdeckten Aktionen in Chile gewusst und sie unterstützt hatte», sagt Brody, «muss er vor Gericht.»

Eine Schuld liegt juristisch nämlich auch dann vor, wenn jemand einem anderen die Waffe in die Hand drückt und ihn zum Verbrechen anstiftet. So waren etwa die Hersteller von Zyklon B noch unschuldig. Diejenigen, die es an die Konzentrationslager geliefert hatten, wurden aber zur Rechenschaft gezogen. Bei Kissinger bestünde zumindest der dringende Verdacht der aktiven Mitwisserschaft.

Nicht immer werden Greueltaten juristisch gesühnt. In Südafrika stellte sich das Apartheidregime einem so genannten Wahrheit- und Aussöhnungskonzil. Nur weil die Opfer den Amnestie-Prozess akzeptiert hatten, gelang Südafrika ein friedlicher Übergang in eine demokratische Gesellschaft. «Seither hat die Menschenrechtsbewegung ein Südafrikaproblem», sagt Brody, der für den haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide ein Wahrheit- und Aussöhnungskonzil organisierte. Es schlug fehl. «Aussöhnung ist nicht immer möglich, nicht immer geeignet.» Zuerst müsse schon die ganze Wahrheit offengelegt werden, «danach Gerechtigkeit hergestellt werden.»

Strafrechtliche Untersuchungen sind dreckig, konfliktreich, schmerzhaft. Deshalb zögen viele Länder nach Diktaturen aussergerichtliche Lösungen vor. Das birgt Gefahren, sagt Brody. « Neue Konflikte sind bereits vorprogrammiert.»

Besonders offen für Klagen sind belgische Gerichte. Belgien adoptierte 1993 ein Gesetz, das es lokalen Gerichten erlaubt, Prozesse aufgrung der Genfer Kriegsverbrecherkonvention zu führen.

Zu Beginn dieses Jahres wurden in Belgien vier Ruander wegen des Genozids von 1994 an der ethnischen Minorität der Tutis zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Anfang Oktober reichten Exilkubaner in Brüssel eine Klage gegen Fidel Castro ein. «Recht wie linke Machthaber müssen genauso zur Verantwortung gezogen werden», sagt Brody. «Castro gehört aber nicht in dieselbe Kategorie wie Pinochet, Habré oder Milosevic.» In Belgien ist überdies eine Klage gegen den israelischen Premierminister Ariel Sharon hängig wegen dessen Rolle in zwei Massakern im Libanon. «Ich wünschte, die Klage gegen Sharon wäre eingebracht worden, bevor er Premierminister wurde», sagt Brody.

Es sei nämlich weitaus einfacher, einen Diktator anzuklagen, nachdem er aus dem Amt ausgeschieden sei, sagt Brody. «Scheiden sie nicht aus, muss man sie halt anlügen», sagt Brody, ihnen versprechen, sie könnten in einen Drittstaat fliehen – und sie auf der Flucht verhaften. Die Welt werde ohnehin kleiner. Immer weniger Länder offerieren alternden Diktatoren ein Refugium. «Man kann sich verstecken, aber man kann nicht davon rennen», sagt Brody.

So gewährt Frankreich Ex-Machthabern noch Schutz, auch Afghanistan, China, Saudi-Arabien, Simbabwe – oder Nordkorea. «Dort sollen sie alle hin, ins düstere Nordkorea», witzelt Brody, der trotz dem Ernst seiner Arbeit den scharfen Schalk beibehalten hat. «Es ist doch der Strafe genug, wenn jemand in Nordkorea leben muss.»

Biografie
Reed Brody kam am 20. Juli 1953 in Brooklyn zur Welt. Er studierte Recht an der Columbia Law School in New York, wo er heute unterrichtet. Er ist Advocacy Director bei Human Rights Watch. Zu Beginn der achtziger Jahre arbeitete er vier Jahre lang als Assistent des New Yorker Staatsanwalts. Nach einer Reise durch Zentralamerika widmete er sich der Menschenrechtsarbeit. Oftmals im Auftrag der Uno oder als Vertreter zahlreicher Menschenrechtsorganisationen hat er fast 90 Länder besucht und sich dort auf höchster Regierungsebene engagiert. So half er 1991 etwa, die neue Verfassung der Mongolei zu schreiben.