Marleys Erben

Auch 20 Jahre nach seinem Tod ist Bob Marley in Jamaika allgegenwärtig. Alle wollen werden wie er. Wohl vergeblich.

Von Peter Hossli

Gemächlich schlurft Magnus aus der schummrigen Kammer, seinem kargen und fensterlosen Büro. In der linken Hand dampft ein Joint. Mit der Rechten schwingt er ein feuchtes Papier, ein knapp gehaltener Vertrag. 350 Dollar in bar muss hinblättern, wer in Trenchtown zu fotografieren gedenkt.

Das sei der Marktpreis, sagt Magnus, die Dreadlocks unter der rotgelbgrünen Strickkappe versorgt. Der stoische Gutsverwalter des Trenchtown Culture Yards mag nicht feilschen. Rita Marley wolle es so, und ihr gehört das Kulturzentrum inmitten von Trenchtown.

Hier, im sagenumwobenen Slum von Jamaikas Hauptstadt Kingston, schaute Magnus einst dem 14-jährigen Robert Marley zu, wie der erstmals an Gitarrensaiten zupfte. «Bob war komplett unmusikalisch, als er ankam», sagt er. Und hier in Trenchtown hauste einst Georgie, jenes fette Scheusal, das seine Gattin öfters schlug, und dessen widerliches Gebaren Marley später im Heuler «No Woman No Cry» der Welt verriet.

«350 Dollar oder keine Bilder», wiederholt der sanfte Magnus. Sein ohnehin schmaler Körper ist vom Kiffen zusätzlich eingefallen. Bob Marley, vor zwanzig Jahren 36-jährig an Hirnkrebs verstorben, diktiert die Preise in Jamaika noch immer – nicht nur in Trenchtown.

Denn: Jamaika, das ist Bob Marley.

Zwanzig grossflächige Marley-Plakate säumen die zwanzig Meilen Schnellstrasse zwischen Flughafen und Kingston Zentrum. Beim Nationalstadion thront eine übermächtige Bronzestatue, die jedes Klischee des Superstars überhöht: die Gitarre, den Fussball, mit dem er noch mehr Zeit verbrachte, den Joint und die dicken Locken. Cable & Wireless, der ansässige Telekomkonzern, schmückt das Telefonbuch der Insel mit dem breiten Grinsen des Reggae-Gottes. Am Osthang der Stadt bietet die renommierte University of the West Indies einen Reggae-Lehrgang an; am häufigsten verfassen Studierende lange Diplomarbeiten über Marley.

An Tony Laings Handgelenk tickt eine braune Plastikuhr. Vom Zifferblatt lacht – Marley. Laing scheint sie immer zu tragen, nicht bloss für europäische Journalisten. Einst musizierte der kräftige, an den Schläfen angegraute Intellektuelle mit Marley. Heute sorgt er sich um die Urheberrechte jamaikanischer Musiker. Er schätzt, dass momentan «über 500 000 Jamaikaner den ökonomischen Ausbruch über Reggae schaffen wollen», ein Fünftel der Bevölkerung. «Fast jeder erwachsene Mann will erreichen, was Marley gelang», sagt Laing.

Ohne Aussicht auf Erfolg. Nur noch in vager Erinnerung ist der revolutionäre Geist der Siebziger. Auf Kuba, in Nicaragua oder Afrika symbolisierten Reggae und Marley den Widerstand der Habenichtse. Romantische Aufwiegler in Europa und den USA schlossen sich kiffend an. Mittlerweile hinterfragen die wenigsten die kapitalistische Beschleunigungswut. Ein Grossteil des zeitgenössischen Reggae zelebriert jetzt, wogegen Marley einst ansang: Gewalt und Sexismus. Da hören die Aufwiegler heute lieber weg.

Als «perfekte Mischung für den fabrizierten Erfolg» beschreibt Laing Bob Marley. Er war schön, die Nase schmal, die Haut hell. Der weisse Vater kam aus England, die Mutter war eine schwarze Jamaikanerin, «der perfekte Mulatte, der in New York, London und Paris genauso gut ankam wie in Kingston und São Paulo». Noch heute nennen ihn manche so liebevoll wie viel sagend «Brownie», Brauner. Will heissen: «Er war anders als wir.»

Mitte der Siebzigerjahre traf Marley den legendären britischen Musikproduzenten und Besitzer der Plattenfirma Island Records, Chris Blackwell. Der hatte zuvor vergebens versucht, wirklich schwarze Jamaikaner zu globalen Stars zu formen. Blackwell erkannte Marleys Potenzial und investierte 7,5 Millionen Dollar in das schmucke Gesicht. «Damals gab es min-destens 600 Reggae-Musiker, die genauso talentiert waren wie Bob», sagt Musikhistoriker Laing, «doch nur einer hatte das enorme Charisma – viel wichtiger: Nur einer erhielt Blackwells Marketingmillionen.»

Dazu kam eiserne Disziplin. Marley wollte unbedingt ein Superstar werden. «Er war ein Opportunist im besten Sinne», sagt Laing. Einer, der «jede Möglichkeit wahrnahm, die er erhielt». Nur etwas sei er nie gewesen, ein echter Revolutionär. «Marley sonnte sich gerne in Ruhm und Glanz. Der echte Revolutionär war Peter Tosh, der wollte zuerst Jamaika und dann die Welt verändern.» Geschossen wurde auf beide. 1976 entkam Marley knapp einem Attentat in seinem Haus in Kingston. Tosh wurde 1987 ermordet, ebenfalls in Kingston.

Im Hinterhof des Culture Yard vergilbt die Patina. Etwas Drittweltschick, gepaart mit dem Stolz, den internationalen Superstar hervorgebracht zu haben. Joints kreisen. Marihuana wuchert. Unter gewelltem Blechdach steht in einem Glaskasten eine zerdrückte Gitarre, die Saiten lahm. Sie gehörte ihm, «Bob», säuselt Magnus. Dessen Augen würden jetzt funkeln, hätte sie nicht kräftiges Gras für immer verwässert. Wers hören will, für den hat Magnus das passende Histörchen zum Instrument parat, für Touristen aus Florida, das Pärchen aus Japan, das Reporterteam aus der Schweiz.

Zuletzt habe Marley darauf «No Woman No Cry» gespielt. Selbstbewusst erzählt Magnus, das US-Magazin «Time» habe Marleys Album «Exodus» zur Platte des Jahrhunderts erkoren, und für die britische Radiostation BBC war dessen Song «One Love» sogar die Millenniums-Hymne. Ausserdem, sagt er, wählte das Musikbranchenblatt «Billboard» Bob Marley zum «Künstler des Jahrhunderts» – nicht Elvis.

Marleys Witwe Rita – sie zog 11 seiner angeblich 27 Kinder auf – verwaltet nun das Erbe. Sie haust hoch über Kingston in einer enormen, Tag und Nacht von dickhalsigen Leibwächtern bewachten Villa. Sie kassiert, wo und was sie kann. An Disney verkaufte Rita das Recht, Marley eine Ecke im Vergnügungspark Disney World zu widmen. In Jamaika verlangt sie überall dort eine Abgeltung, wo ihr verstorbener Mann einst den Fuss hinsetzte. Rita Marley ist die vielleicht einzige Frau Jamaikas, für die ihr Mann finanziell aufkommt.

Gerüchten zufolge zahlt ihr die Tourismusbehörde eine Million Dollar jährlich. Im Gegenzug dürfen sämtliche Jamaika-Werbespots mit der Feel-Good-Hymne «One Love» unterlegt werden. Es lohnt sich. Jährlich 2,2 Milliarden Franken tragen Reisende auf die Insel. «Einen Grossteil der Einnahmen verdient Bob», sagt der Minister für Sport und Tourismus, Wykeman McNeill. Zwar zögen Sonne und Strand, Sportstars wie Merlene Ottey oder die dribbelstarken Fussballer der Nationalmannschaft und der aromatische Kaffee der Blue Mountains zahlreiche Touristen an. Aber: «Jamaika wird weltweit über Reggae wahrgenommen. Reggae ist Marley.»

Als seis eine Nationalfeier, begeht das Land jeweils im Februar dreissig Tage lang Marleys Geburtstag, ein Non-Stop-Reggae-Festival. US-Stars spielen dessen Hits nach. Das US-Fernsehen filmt, und obwohl sonst touristisch in der Krise, quillt Jamaika dann über. Zudem misst der oberste Tourismusbeamte dem untoten Toten noch immer «volksverbindende Fähigkeiten» zu. Jamaikaner hörten täglich Marleys Songs, und deren philosophische Texte seien heute bedeutungsvoller denn je. «Dank Marley ist Jamaika ein Land mit Tiefe», sagt McNeill, «er befreit uns von mentaler Sklaverei.»

Die Realität ist anders. War Marley angetreten, sein Land von Armut und Korruption zu befreien, hat sich in Jamaika wenig bewegt. Das Wirtschaftswachstum ist negativ, die Aussenverschuldung astronomisch. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Kriminalität wie Drogenhandel florieren. Der Grossteil des kolumbianischen Kokains gelangt über Jamaika nach Europa. Jede Nacht wird in Trenchtown gemordet. Bezahlte Arbeit haben wenige. Kinder spielen mit streunenden Ziegen, statt die Schulbank zu drücken. «Ich geh nicht zur Schule, weil ich keine Schuhe habe», sagt ein neunjähriger Bettler. Männer kiffen und lächeln. Frauen arbeiten und erziehen ihre Kleinen meist ohne Vater. Fast alle Kinder in Trenchtown kommen ausserehelich zur Welt, im nationalen Durchschnitt sinds zwei Drittel.

Gegen zwei zusätzliche 20-Dollar-Scheine führt Magnus zur kinderreichen Familie, die im Backsteinhaus lebt, das Marley bewohnte. Zu vormals grauen Wänden, die Künstler mit bunten Graffiti bemalt haben: Bob und dessen frühe Bandmitglieder Peter Tosh und Bunny Wailer.

Ehrfürchtig präsentiert ein junger Kricketspieler eine Art Schrein. Er hat ein klägliches Bushäuschen mit Dutzenden Marley-Bildern tapeziert. «Marley hat uns nicht nur Fische gegeben, er lehrte uns den Fischfang.» Auch er nimmt ein paar Dollar für Bild und hübsche Anekdote. An jener Ecke, weiss er auch noch, bastelte Marley einst eigenhändig Gitarren aus Sardinenfässern und Angelzwirn.

An einen kargen Baum angelehnt, steht in derselben Strasse lässig ein junger Rasta. Er saugt an einem dicken Joint. «Damit leisten wir Widerstand», erklärt er den Genuss der Droge. Auf dem Grab des weisen israelischen Königs Salomon sei ein einziger Baum gewachsen, der Baum der Weisheit. Es war ein buschiger Marihuanastrauch. «Je mehr du rauchst, desto weiser wirst du.» Da die Mächtigen weltweit das Volk dumm und unmündig halten wollten, verböten sie das Gras. Der jamaikanische Beitrag zur Drogendebatte. Nur: In Jamaika ist das Kiffen verboten.

«Marley ist unser Vorbild, ein Botschafter», sagt ein Toningenieur im legendären Tuff-Gong-Studio, dem grössten Aufnahmestudio der Karibik. Wie alle anderen hat er nur Gutes zu sagen. «Nein, Bob steht den jungen Musikern nicht im Weg.» Er legt die Tracks einer jamaikanischen Band übereinander, die Reggae mit Techno mischt. Gold- und Platinplatten an den Wänden gemahnen an Marleys Zeit. Enorm ist die Reggae-Produktion nach wie vor. Wöchentlich gelangen 235 Singles auf den Markt, sämtliche auf Vinyl. Eine CD-Fabrik gibts auf der Insel nicht. Tuff Gong presst täglich 3000 Platten. Ist einmal ein erfolgreicher Rhythmus gefunden, legen vife Sänger 60 Songs darüber.

Aus den dunklen Tanzhallen, wo Bauchnabel an Bauchnabel getanzt wird, schaffen es die Lieder aber selten. Ausserhalb Jamaikas nimmt den neuen Reggae kaum jemand wahr. Marley stellt alle in den Schatten. Internationale Plattenfirmen scheuen den finanziellen Aufwand, in unbekannte Musiker zu investieren. Selten gelingt talentierten Frauen der Ausbruch mittels Musik. «Sie gelten als Risiko», sagt Tony Laing. «Wird eine Frau schwanger, ist das Geld für den Aufbau futsch.»

«Vieles der neuen Sachen ist Mist», sagt Laing. «Zeitgenössischer Reggae basiert zu 90 Prozent auf Hype, nur zu 10 Prozent auf Talent.» Jeder sei ein vifer Hustler, wenige seien wirklich seriöse Musiker. Als «afrikanische Aufschneiderei», die direkt auf die Sklaverei zurückzuführen sei, bezeichnet er das pausenlose theatralische Gebaren. Fast alle Jamaikaner stammen von Sklaven ab. Auf Plantagen gabs keine Klassen. Um einen Platz in der Gesellschaft zu finden, plusterte man sich auf.

Drei beschwerliche Autostunden führen von Kingston an die Nordküste nach Port Antonia. Für den schlüpfrigen Film «The Blue Lagoon» räkelte sich hier einst Brooke Shields. Charmeur und Akteur Errol Flynn nutzte eine vorgelagerte Insel für sagenhafte Feste. Heute mischen hier Musiker aus der ganzen Welt Rhythmen. «Es gibt keinen besseren Ort, neue Musik zu entwickeln, als Jamaika», sagt der englische Produzent Jon Baker. «Kuba ist nah, ebenso New York und Miami.» Der Brite kaufte ein Anwesen an einem bewaldeten Hügel, stopfte es voll mit neuster Aufnahmetechnik und lädt Musikschaffende zum Jam.

Zu vorgerückter Stunde singt eine Puerto-Ricanerin. Ein Kubaner bläst ins Saxofon. Ein Italiener produziert. Ein New-Yorker mixt. Ein Jamaikaner leitet das Studio. Eine amerikanische Anwältin, die in Paris lebt, schliesst die Verträge ab. Entsprechend vielfältig fallen Sound und Texte aus. Spanisch, Englisch und Italienisch fliessen nahtlos ineinander. «Jamaika wird zum neuen Musikzentrum», prophezeit Baker. Carlos, der Mischer aus Brooklyn, verzehrt mit der linken Hand ein süsssaures Hühnchen und Reis. Mit rechts dirigiert er die Maus eines Apple-Computers. Damit legt er Track über Track. «Chinesisches Essen in Jamaika, funny, nicht?», sagt er.

Die Welt friedlich mit Musik zusammenführen – davon träumte schon Marley. 1945 kam er im hügeligen Hinterland Jamaikas zur Welt. Mausarm wuchs er auf, ging als Teenager nach Kingston. Statt kriminell wurde er musikalisch. Mit seinen Kumpels Peter Tosh und Bunny Wailer gründete er 17-jährig eine erste Band, die Teenagers, dann die Wailing Rudeboys, schliesslich die Wailers. Sie experimentierten mit Ska, verlangsamten den Rhythmus, nannten ihre Musik «Rude Boy Music», Räubermusik, dann Rocksteady. Die Welt entdeckte Reggae. Marley kiffte, sang von Rebellion und huldigte Äthiopiens Kaiser und Despoten Haile Selassie. Bob Marley, ein esoterischer Revoluzzer.

Seine Leidenschaft galt dem Fussball. Auf einer Europatournee verletzte er sich 1977 beim Kicken am Knöchel. Angeblich löste die Behandlung Krebs aus. Drei Jahre später brach er in New Yorks Central Park zusammen. Vergeblich unterzog er sich in Deutschland einer Krebstherapie. Auf der Rückreise nach Jamaika starb Marley im Spital in Miami an Hirnkrebs.

Heute komme Marley von offizieller Seite längst nicht die Achtung zu, die er verdiene, sagt Professorin Carolyn Cooper. Sie unterrichtet Reggae-Geschichte an der University of the West Indies. «Er müsste zum Nationalhelden geschlagen werden.» Aber das werde nie geschehen. «Marley bedroht das Establishment nach wie vor.» Der Staat lehne dessen laschen Umgang mit Drogen genauso ab wie die Rastafari-Religion. Paradox: Die Uno anerkennt Rastafari als eigenständige Religion, die jamaikanische Regierung verschmäht sie als Sekte.

Viel von Marleys Besitz ist weg, verkauft in die USA oder Japan. Ein paar kümmerliche Dinge liegen noch im Bob-Marley-Museum, etwa das Kleid, das der Priester bei dessen Beerdigung trug. Ein paar Trommeln, ein paar Zeitungsausschnitte. Die wertvollen Sachen kaufte unlängst Microsoft-Mitgründer Paul Allen. Er schleppte sie in sein Rockmuseum nach Seattle. In Florida glänzt Marley in Disney World neben Goofey und Daisy Duck.

«Eine Schande», sagt Cooper. Der Staat sauge ihn bloss aus und unternehme nichts, um Marleys Erbe würdevoll zu bewahren. «Seien wir ehrlich», sagt sie. «Bob war eine Ausnahme, eine Jahrtausenderscheinung. So einen wie ihn wirds nie mehr geben.»