Von Peter Hossli
Der Mittwoch gehört der “Village Voice”. Seit 44 Jahren erscheint in New York jeweils zur Wochenmitte die weltweit älteste alternative Stadtzeitung. So treffend wie die senfgelben Taxis oder das Loch im Bagel verkörpert das Blatt mit dem blauweissen Logo des Bewusstsein Manhattans. Mancher New Yorker fühlt sich ohne “Voice” orientierungsloser als ohnehin schon. Existierte eine Kultzeitung – es wäre die “Village Voice”.
Das einst von Schriftsteller Norman Mailer mitbegründete Journal entdeckte zuallererst die wirklichen Trends der Nachkriegszeit, seis die Rock-Revolution, die weit verbreitete Freude an psychedelischen Drogen, den erhöhten Spass am Sex dank Pille oder die universelle Kraft der Schwulen- und Lesbenbewegung. Was in der “Voice” stand, ob Kulturelles oder Politisches, regte jahrzehntelang die Gemüter und Denker an in Berlin-Kreuzberg, Paris St-Germain oder in La Habana Vieja auf Kuba. Nun steht die vormals aufmüpfige Zeitung zum Verkauf; die Tochter des Verlegers mag das Unternehmen nicht weiterführen. Drohten die rund hundert fest angestellten Journalisten der Zeitung nach der letzten Übernahme mit Streiks und protestierte die Leserschaft vor den Redaktionsbüros, so hocken jetzt alle aufs Maul. Selbst die Gewerkschaften. Die “New York Times” machte nicht den bevorstehenden Handwechsel, sondern das Desinteresse daran zum Thema.
Einfalls- und einflusslos
Die “Village Voice”, einst global gehörte Stimme der Avantgarde und Subkultur, ist brav geworden, deren politischer Einfluss arg geschrumpft. Die lehrmeisterlich verfassten, überlangen Artikel stossen auf wenig Anklang. Medienschaffende nehmen die Zeitung nicht mehr ernst – weil sie, statt am Kiosk verkauft, in roten Plastikboxen verschenkt wird. Gestiegen ist dadurch zwar die Auflage, innert dreier Jahren von 137 000 auf wöchentlich 250 000 Stück. Das freut die Inserenten, die der “Voice” 1998 einen Gewinn von 16 Millionen Dollar bescherten. Auf Kosten des Images.
Zwecks Lektüre klauben nur wenige eine “Voice” aus der Box. Die zum Gratisanzeiger verkommene Gazette hilft allein, sich im übervollen Kultur- und Freizeitangebot New Yorks zurechtzufinden. “Man muss die «Voice» nicht mehr lesen, um dabei zu sein”, sagt der New Yorker Künstler Henry Ward. “It lost it’s edge”, die Zeitung habe ihre Würze und die Vorreiterrolle eingebüsst.
Genau wie die Stadt, in der sie erscheint. Viele deuten den inhaltlichen Niedergang der “Voice” als Ausdruck des neuen New York. Seit Bürgermeister Rudolph W. Giuliani 1994 das Zepter schwingt, ist die Stadt am Hudson sauberer, sicherer, reicher, teurer – und langweiliger geworden. An Stelle freier Liebe bestimmen Rauch- und Tanzverbote die Nachtklubszenerie. Die Polizei geht hart gegen all das vor, was Lärm macht oder Staub aufwirbelt. Sprayer, von der “Voice” einst als “wahre Künstler der Urbane” gehuldigt, landen im Knast. Neonbeleuchtete Nobelboutiquen, nicht mehr farbverschmierte Ateliers säumen die Strassen. Unkonventionelle verlassen New York. “Yuppie-Insel” heisst Manhattan treffend.
Entsprechend ist die Presse. Nicht mehr scharfe “Voice”-Analysen, bunte Bilder und kurze Texte kommen beim hippen und vorwiegend apolitischen Publikum an, das Geld an der Börse verdient. Seichte Wochenblätter wie “Time Out New York” gefallen Werbern, weil sie farbige Anzeigen auf Hochglanz drucken können. Die Druckertinte der papierenen “Village Voice” hingegen schwärzt beim Blättern die Finger. Überdies, beobachtet der Professor für Journalismus an der “New York Times”, Jay Rosen, hätten andere Zeitungen die “Village Voice” hinsichtlich Avantgarde eingeholt oder gar überflügelt. Underground und Mainstream verschmelzen zunehmend. Grosse Publikationen wie die “New York Times” oder “Time” berichten gleichzeitig übers neuste Stück schwuler Theaterautoren, provokante feministische Theorien oder den Streit zwischen Museumsmachern und Bürgermeister Giuliani.
Verirrung in die Vergangenheit
Da kann der Chefredaktor der “Voice”, Don Frost, Giuliani in einem Interview lange als “Arschloch” bezeichnen. Mehr als eine peinlich missglückte Verirrung in die alten Tage ist das nicht. Einst, 1955, wurde der erste “Voice”-Artikel in einer Dachwohnung im Literatur-Quartier Greenwich Village geschrieben. Junge Schreiberlinge schufen ein Gegenstück zur hysterischen McCarthy-Ära. Die erste Ausgabe kostete 5 Cents. 200 Exemplare gingen davon weg.
Bald galt die “Voice” als verkapptes Organ kommunistischer Spinner, als verlängerter Arm sowjetischer Propagandisten; deren Kulturteil druckte Geschichten über Folksängerinnen oder die Friedensbewegung. Der so genannte New Journalism fand Einlass. Vife Ideen und kecke Meinungen verdrängten die strikt objektive Berichterstattung. Investigativer Journalismus gehörte während der Sechziger und Siebziger zur Stärke der “Voice”. Findige Reporter stöberten korrupten Lokalfürsten nach oder beendeten die Ambitionen zwielichtigen Politiker.
Heutzutage macht die “Village Voice” Reiche reicher. Deren Besitzer Leonard Stern baute sein Imperium einst mit Hunde- und Katzenfutter auf. Vor 14 Jahren übernahm er das Blatt vom australischen Medienmogul Rupert Murdoch für 55 Millionen Dollar. Dazu kaufte er fünf alternative Wochenzeitungen in Los Angeles, Oakland, Seattle, Cleveland und Minneapolis. Jetzt stösst Stern das illustre Sechserpaket Gewinn bringend ab. Er will mindestens 250 Millionen Dollar. Interessenten gibt es zuhauf. Wer zu welchem Preis schliesslich zulangt, steht Ende November fest.
Veränderts die Ausrichtung der “Voice”? Wen kümmerts.