Von Peter Hossli
Brillenträgerin Anais Figuera, ein fünfjähriges Mädchen aus der Bronx, hustet. Schwere Asthmaanfälle begleiten die zierliche Anais seit der Geburt im nördlichsten Stadtteil von New York City. Häufig lebt sie in Spitälern, zurzeit im St. Luke’s-Roosevelt Hospital in Manhattans Upper West Side.
Liebevoll streichelt die Asthmatikerin das beinahe kalbgrosse Dobermannmännchen «Duncan». Ein Hund, fast fünfmal so schwer wie die kleine Anais. Die strahlt vor Glück und schliesst den Vierbeiner in ihre dünnen Ärmchen.
Im Nebenzimmer fletscht «Moo-Shuh», eine drollige Strassenmischung aus britischem Kampfhund und Labrador, die Zähne. Gelassen hockt er auf der Decke von Anastasia Holodny, 7. Verhalten streichelt das Mädchen, wegen eines Hundebisses am Fuss hospitalisiert, den kurzhaarigen Pelz. Als «Moo-Shuh» sich ohne Widerrede liebkosen lässt, blüht Anastasia sichtlich auf.
Was den meisten westlichen Schulmedizinern widerwärtig vorkommen muss – der Atem eines Tiers nahe am Mund eines atemkranken Kindes oder ein bissiger Hund auf dem Bett eines Biss-opfers -, ist im Roosevelt Hospital seit sechs Jahren gängige und erfolgreich praktizierte Heilmethode.
Monatelang ausgebildete Hunde therapieren hier kranke Kinder. Frisch geschorene weisse Pudel betreuen Langzeitpatientinnen. Deutsche Schäferhunde stehen aidskranken Erstklässlern bei – bis ans Totenbett. Freche Schnauzer begleiten ängstliche Pennäler in den Operationssaal. Lauffreudige Dackel spornen Bettlägrige zum Rundgang im Spitalhof an – schlaffe Muskeln werden so schneller wieder durchblutet. Besonders wichtig: Folgsame Hunde steigern rasch den labilen Selbstwert angeschlagener Patienten.
An diesem Dienstagnachmittag besuchen vier Hunde, alle an der Leine ihrer Frauchen, die Kinderabteilung im elften Stock. Sie gehen von Zimmer zu Zimmer, überwacht von Pat McGregor. Die angesehene Hundetrainerin gründete das tierische Therapieprojekt vor sieben Jahren. Sie erzieht nebenbei Tiere notabler New-Yorker Hundeführer, etwa Robert de Niro oder Ivana Trump.
Vorerst ohne gesetzliche Grundlage schlich sie mit vier Hunden durch die Hintertür des Spitals. Zur Freude der Patienten, zum Missfallen der Ärzte. Für die stellten Hunde hauptsächlich Bakterien- und Virenträger oder bissige Bestien dar, keineswegs geeignet, um die Genesung zu beschleunigen.
Nach jahrelanger Überzeugungsarbeit entwickelte Hundetrainerin Pat McGregor mit der Tierpflegerin Cara Campbell ein ausgeklügeltes Schulungsprogramm. In ihrer Freizeit und ohne Entgelt. Hund und Halter können sich in einem rund sechs Monate dauernden Kurs zu Heilern ausbilden lassen. Wer danach die anspruchsvolle Prüfung besteht, wird diplomiert. Darauf folgen erste Krankenbesuche.
Inzwischen völlig legal. Mitte Jahr verabschiedete das Parlament des Staates New York ein neues Gesundheitsgesetz. Die so genannte Pet Assisted Therapy ist gesetzlich anerkannte Therapieform.
Drei weitere Krankenhäuser in Manhattan wollen dem Beispiel des Roosevelt Hospitals bald folgen. US-Krankenhäuser sind marktwirtschaftlich organisiert. Sie müssen rentieren. Niemand möchte beim erbitterten Gerangel um die begrenzte Anzahl Patienten hintanstehen. «Private Spitäler müssen attraktiv bleiben», sagt Betreuer Robert Quinn. Er sorgt sich in der Kinderabteilung des Roosevelt Hospitals um Alternativen zur gängigen Arztvisite. Den Operationssaal liess er vielfarbig anstreichen. Die Besuchszeiten erhöhte er generell auf 24 Stunden pro Tag. «Attraktivitäts-Steigerung» nennt er das. Hundetherapie sei für etliche Eltern triftiger Grund, ihre Kinder einem gewissen Spital anzuvertrauen. Hundelose Krankenhäuser seien bald «kaum noch konkurrenzfähig». Studien hätten klar belegt: «Kinder werden schneller gesund, wenn sie regelmässig mit Tieren in Kontakt kommen», sagt er.
Wissenschaftlich belegte Erfolge des Heilverfahrens veranlassen tatsächlich immer mehr US-Spitäler zum Umdenken. In rund zwanzig Bundesstaaten ist Pet Assisted Therapy zugelassen, im Rocky-Mountain-Staat Colorado schon seit zwanzig Jahren. Weil die Tiere den Spitalaufenthalt alter und junger Menschen häufig verkürzen können, sparen sie den Krankenkassen enorme Kosten.
Bei Betagten steigt der Hunde wegen der schwächlich gewordene Blutdruck, bei Kleinkindern sinkt die Angst vorm weiss geschürzten Arzt, der ach so unverständlich spricht. Autisten öffnen zumindest einen Spalt ihrer verborgenen Seele, wenn Hunde und nicht Menschen zugegen sind. Aids-Patienten sprechen mit den Tieren offen übers Leben nach dem Tod – ohne sich tröstende Antworten der künftig Hinterbliebenen anhören zu müssen. Einer achtjährigen Krebspa-tientin nahm eine britische Dogge die Angst vor der Chemotherapie; nie betrachte die Hündin die haarlos gewordene Kopfhaut des Kindes mit Entsetzen.
Der Hund – ein idealer Therapeut für kranke Menschen. «Hunde richten nie. Sie lieben bedingungslos», sagt Lisa Horowitz, eine Mittelschülerin, die hofft, zusammen mit der Berner Sennenhündin «Sheila» im kommenden Februar erstmals Patienten besuchen zu können. Vorerst müssen beide aber noch einiges lernen.
Einmal wöchentlich besuchen Hündin «Sheila» und Halterin Lisa abends McGregors begehrten Therapiekurs, abgehalten in einer unterirdischen Turnhalle. Im Kriegsfall würde der gelblich gestrichene Ertüchtigungsraum zum schützenden Atombunker umfunktioniert werden. Dort, zwischen Gymnastik-Gerätschaften und unter schief hängenden Basketballkörben, stellen sich acht Hunde und acht Frauen mit dem Rücken zur Wand auf, in Reih und Glied. McGregor dirigiert.
Verführerisch legt sie leckere, nach Fleisch riechende Biskuits aus, nur wenige Zentimeter vor der Nase der animalischen Lehrlinge. Drei schnappen sofort zu – ein Zeichen schwer wiegender Schwäche, kaum förderlich beim künftigen Spitaleinsatz. Vorerst durchgefallen.
Schliesslich ist Selbstkontrolle wichtigste Tugend eines therapeutisch eingesetzten Hunds. Geduldig soll sich das Tier auf Kranke einlassen, sich ihnen jederzeit er- und hingeben. Untersagt ist den Viechern im Hospital alles, was im Park oder beim Spiel mit dem Hündler so richtig Spass bereitet: schlecken, schnappen, fressen, beissen, küssen, toben oder rennen. «Ausschliesslich hundert Prozent zuverlässige Tiere dürfen ins Spital», sagt McGregor stolz: «Nie hat ein Hund ein Kind gebissen.»
Sie legt Hunderte farbiger Spielsachen auf den Linoleumboden. Nur wer gleichgültig die verführerischen Bälle umschlängelt und die bunten Puppen unberührt liegen lässt, wird zur Weiterbildung zugelassen. Die Hälfte aller therapiewilligen Tiere gibt Mitten im Kurs auf. «Nicht jeder Hund ist ein Therapiehund», sagt McGregor, «und längst nicht jeder Hundehalter eignet sich.» Die meisten Menschen seien «viel zu nervös». Überhaupt haben die Hundehalter mehr Training nötig als die Tiere. Oft führen die Menschen die Hunde falsch.
Siebzig Therapieteams, bestehend aus Mensch und Tier, hat McGregor schon im Umgang mit Krücken oder gebohnerten und rutschigen Böden ausgebildet und auf Berührungen fremder Menschen vorbereitet. Reif sind die Hunde, wenn sie in ungewohnten Situationen besonnen bleiben. Bellen verboten.
Kaum jemand mag nach bestandener Abschlussprüfung wieder aussteigen. Etliche machen seit über drei Jahren mit. Die Stippvisiten im Spital haben heilende Wirkung, für alle. Als Wiedergutmachungstrip für New Yorks weisse Mittelklasse eignet sich Pet Assisted Therapy hervorragend. Freiwillig melden sich bei Pat McGregor fast ausschliesslich begüterte Bewohner Manhattans, Weisse, ein paar rüstige Rentner, ansonsten Frauen zwischen fünfundzwanzig und fünfzig. Deren Männer handeln an der Börse mit Wertpapieren, oder sie sind im Immobilien-Geschäft tätig. Mit Hilfe wohl genährter Hunde pflegen die Freiwilligen minderbemittelte Kinder aus verfallenen Stadtbezirken, Schwarze und Latinos, erkrankt in der Bronx, Queens oder Harlem. «Helfen und «Kasha» mit anderen teilen», möchte Judy Leder, den hellen Labrador «Kasha» eng an der Leine geführt. Tagsüber arbeitet sie, Grosskind eingewanderter russischer Juden, an der Wallstreet als Aktienhändlerin. Ihre Freizeit gehört dem Hund. Natürlich hofft die kinderlose Leder, «alsbald kranken Kindern helfen zu dürfen».
Die Hilfe ist staatstragend. Da in den USA Steuern und Sozialleistungen in der Regel tief gehalten werden, brauchts die Freiwilligenarbeit. Unentgeltlich bildet Pat McGregor Hunde aus, unentgeltlich besuchen Freiwillige Spitäler.
Keine hilft mehr als Dana Ronan. Die Gattin eines Investment-Bankers hat drei Hunde und vier Kinder. «Sailor», der gefleckte Schnauzer, amtet seit zwei Jahren anstandslos als Therapeut. Alexandra, Robert und Marc, die älteren Kinder, stehen in der Turnhalle einmal wöchentlich zu Verfügung – als Versuchskaninchen.
Pflichtbewusst setzt sich die neunjährige Alexandra in den stählernen Rollstuhl. Jeder der lernwilligen Hunde muss sich von ihr liebkosen lassen – ohne das blonde Mädchen zu lecken oder gar zu beissen. «Ich liebe Kinder, und ich liebe Tiere», sagt Dana Ronan. «Die Kleinen tun gerne Gutes.»
Anderntags ist sie bereits wieder unterwegs für den guten Zweck. An der straffen Leine führt sie «Sailor» ans Bett von Raphel Garcia, 8, der seit einer Woche wegen unerklärlichen Fiebers hospitalisiert ist. Weil Raphel kein Englisch und Dana kein Spanisch spricht, eilt eine Übersetzerin herbei. Nötig war das nicht. Der Bube mag nur mit «Sailor» reden; die beiden verstehen sich bestens – sprachlos.
Ins nächste Zimmer darf «Sailor» nicht. Dort liegt ein Mädchen, deren Eltern einst aus New Delhi nach New Jersey kamen. Hunde gelten in Indien als minderwertig. Sie gehören nicht ins Haus und schon gar nicht in die Nähe von Kranken. Ein Kinderarzt aus Haiti setzte sich jahrelang gegen Pat McGregor zur Wehr. Im Karibikstaat lungern Hunde in Hinterhöfen rum, weitab der Kranken.
Neben kulturellen Aversionen meldeten Hundehasser vornehmlich hygienische Bedenken an. Dabei seien die Hunde «bedenkenlos», sagt McGregor. Es sei kein einziger Fall bekannt, bei dem eine Krankheit übertragen worden sei. Zweimal jährlich werden sie einer medizinischen Untersuchung unterzogen. Alle sind geimpft. Würmer haben sie keine.
Die Motive der Hundebesitzer
Kathleen Wyman ist pensionierte Sozialarbeiterin. Ihr erster Mann kam schon früh ums Leben. Dann kaufte sie sich einen Hund, der ihr half, die Kinder grosszuziehen. Damals habe sie realisiert, wie gut Hunde für Kinder seien. Hundchen «Aziza» sei das «Baby» von Wyman und ihrem Lebenspartner Joe Handal.
Greer Griffith ist selbstständige Designerin. Zurzeit arbeitet sie an einer Trickfilmserie. Ihr Mann ist Anwalt bei der New York Police. Sie macht beim Programm mit, weil sie ihren Hund «Clayton» mit anderen teilen möchte.Judy Leder möchte «alten und kranken Leuten helfen». Deshalb hat sie ihren Labrador «Kasha» ins Training geschickt. Es sei eine «tolle Abwechslung» zu ihrem Job, sagt das Grosskind russischer Einwanderer. Leder handelt wie ihr Ehemann mit Aktien.
New Dog City
New York trägt einen kaum bekannten Kosenamen: «New Dog City» – Hundestadt. Nichts ist den sieben Millionen Bewohnern lieber als ihre treusten Freunde. Nirgendwo sonst sind sie besser aufgehoben.
Fürsorgliche New-Yorker bringen «Fifi» schon früh morgens zur Massage. 125 Dollar kostet die Lockerung der Hundemuskeln mitsamt nachfolgender Dusche. Ausgeruht bringt das Hundetaxi den Vierbeiner darauf ins Frühstückscafé für Hunde. Dort werden exquisite Mahlzeiten serviert sowie Hundefilme gezeigt.
In teuren Boutiquen auf der Madison Avenue lassen sich Rottweiler mit Halsbändern, geschmückt mit Brillanten, oder mit nappaledernen Leinen einkleiden.
Geputzt und gekleidet, gehts nachmittags auf eine der dreizehn Hunderennbahnen zum Auslauf, dann zum Porträtieren. Etliche Fotografen haben sich auf Hunde spezialisiert. Porträtmaler verewigen den Pudel auf Leinwand und in Öl.
Letzte Ruhe
Wem der Hund nicht gehorchen mag, kauft Privatlektionen – für 125 Dollar die Stunde. Acht Magazine beraten allein in New York Hilfe suchende Hundehalter.
Abwesende können ihre Hunde ins Hotel bringen. Für 55 Dollar die Nacht werden sie gefüttert, erhalten Auslauf und werden geputzt. Eine Autostunde nördlich von Manhattan in Hartsdale finden die Hunde ihre letzte Ruhe, zu horrenden Preisen. Dort haben die Schönen, Reichen und Berühmten ihre Hunde begraben. Sängerin Diana Ross oder Modemacherin Elizabeth Arden besuchen angeblich oft die Überreste ihrer treusten Freunde.