Von Peter Hossli
Olympia interessiert mich erst seit Samstagmorgen, 9 Uhr Zürcher Zeit. Dank der Bombe im Olympic Park gibt mir Atlanta endlich, was ich von Sport erwarte: Drama, Gefühle, grosse Sieger und gebrochene Verlierer, ein Hauch von Brot und Spielen altrömischer Prägung. Vorbei ist das nächtliche Warten auf Helden, Fernsehgeschichte ist die Übertragung perfekt organisierter, aber blutleerer Wettkämpfe. Bis zu diesem Morgen empfand ich Olympia als Pflichtübung, als reines, von Bürokraten organisiertes Abspulen des offiziellen Zeitplans.
Dann kam das wahre Spektakel, die Bombe. Am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt. Sie explodierte inmitten der Zuschauer, zur Halbzeit der Spiele, kurz bevor mein Interesse an Atlanta gänzlich versiegte. «The games can begin», Olympia kann beginnen, zumindest für mich und für den US-Nachrichtensender CNN.
Um drei Uhr Ortszeit, knapp eine Stunde nach der Bombe, startet die perfekt inszenierte und wirklich unterhaltende Show, live auf allen Kanälen. Nicht 10-Meter-Luftgewehrschiessen der Frauen, nein: «Olympic Park Bombing». Interviews mit Überlebenden, Augenzeugenberichte, Stellungnahme vom Olympia-Organisator Billy Payne, selbst die Grundsteinlegung im Olympic Centennial Park durch Vizepräsident Al Gore kramt CNN aus dem Archiv. Echtes, emotionsgeladenes Drama, richtige Menschen, nicht von Training und Doping abgestumpfte Sportler. Wie einst während des Golfkrieges erzählt der Newssender die Geschichte «as it unfolds», wie sie sich gerade ereignet. Bald schon flimmert ein rhythmisch gestalteter, zu jeder Stunde wiederholter Trailer in Schwarzweiss und in Zeitlupe über den Bildschirm. Zu sehen sind blinkende Sirenen, weinende Gesichter, unterlegt mit klassischer Musik. Grossartig.
Geboren ist der erste wahre Held der Spiele. Robert Gee, Mitarbeiter des US-Elektronikgiganten Motorola und Einwohner der Stadt San Francisco, liefert auf CNN zwei Stunden nach dem Attentat die Bilder zum Knall, wackelfrei und gestochen scharf. Minuten später ist das Gee-Video auf DRS, ZDF, ARD, NBC, CBS, ORF und ABC zu sehen. Auch japanische, australische, afrikanische und brasilianische Fernsehanstalten zeigen die CNN-Bilder. Wo die Welt Stunden zuvor noch in Wettkämpfen gegeneinander antrat, ist sie nun vereint. Olympischer Geist allenthalben.
Was weder Franzi van Almsick im Schwimmbecken noch Frankie Fredericks auf der Tartanbahn schafften, gelang einem amerikanischen Chinesen mit der Videokamera.
Wie ein geübter Schauspieler gibt Gee im CNN-Headquarter Auskunft auf die Fragen der Moderatorin. Während einer Live-schaltung in die Nähe des Tatorts wechselte der Amateurfilmer kurzerhand das verschwitzte T-Shirt. Ein CNN-Coiffeur frisiert ihm das durcheinandergeratene Haar. Gee hat seine «fifteen minutes of fame», seine fünfzehn Minuten auf der Weltbühne. Er, nicht Frankie Fredericks. Am nächsten Tag ist es ein Vater von vier Kindern, dessen Frau sich unter den Leichtverletzten befindet. In Tränen gibt er ein Interview. Hochgefühl.
Ernüchterung schleicht sich nur kurzzeitig ein, als die CNN-Nachrichtensprecherin den Pressemann des Grady Memorial Hospitals in Atlanta zitiert. Es sei, beruhigt der Spitalvertreter fünf Stunden nach dem Attentat, «ein ganz normaler Freitagabend in Atlanta». Zwei Tote, ein paar Verletzte? Für das Grady-Spital nicht der Rede wert, für mich auch nicht.
Die Bombe selbst gezündet haben weder CNN noch die Organisatoren der Olympischen Spiele. Das zu denken wäre zynisch. Dennoch hofften wir, CNN und ich, insgeheim auf spektakulärere Bilder als jene der Greco-Ringer. Obwohl CNN in Atlanta beheimatet ist, darf der Sender nämlich keine Minute der Spiele vor der eigenen Haustüre zeigen. Die Übertragungsrechte sicherte sich der Fernsehsender NBC für 456 Millionen Dollar. Nach der Bombe gehören die Spiele nun aber CNN.
Zum Glück. Denn nur CNN hat einen direkten Draht zu den Behörden. Stets weiss ich dank dem Sender über die Anzahl der Toten und Verletzten Bescheid. CNN kennt die Opferrangliste, auch ohne Swatch Timing.
Letztlich hat die samstägliche Bombe Olympia gerettet. Zugeben darf das niemand, doch alle wissen, dass es stimmt.