Von Peter Hossli
Den Kaffee trinkt Howard L. Kohn aus Plastikbechern, während elf Tagen immer schwarz, immer ohne Zucker. Seine Hauptaufgabe besteht aus warten. Der Vizepräsident von Santa Monica Pictures verkauft am Filmfestival von Cannes Actionfilme. Seine Kundschaft empfängt er in Suite Nummer 138 im Hotel «Noga Hilton». Von den Wettbewerbsfilmen hat Kohn keinen einzigen gesehen. Warum auch?
In Cannes kümmert sich kaum jemand um Kunst, gestaltet aus Licht und Schatten. Hierfür sind nur die rund 3000 Journalistinnen und Journalisten nach Südfrankreich gereist. Die anderen kamen fürs Geschäft.
Sie kaufen Glaceautomaten fürs Kinofoyer, begutachten neuere Designs moderner Kinosessel und, vor allem, preisen Filme an, die nie in regulären Lichtspieltheatern zu sehen sein werden. Mike Leigh, die Goldene Palme? Who cares? Das internationale Filmfestival von Cannes ist primär eine Industriemesse. Am weltweit aufsehenerregendsten Medienereignis treffen sich alljährlich 25 000 Menschen, die nach bewegten Bildern Ausschau halten, diese selber anbieten oder solche finanzieren wollen. Um Kunst geht es kaum. Es zählt allein das Business.
Wie an jeder anderen Verkaufsmesse variieren auch hier Qualität der angebotenen Ware, Stil und Talent der Marktschreier sowie die Kauflust der Klientel. Während in Genf Autos, in Hannover Kühlschränke und in Las Vegas Computer verkauft werden, sind es in Cannes Filme.
Vornehmlich amerikanische Produzenten und Zwischenhändler aus Europa bieten an Messeständen billigst produzierte Actionware und Softpornofilme feil, Hongkong-Chinesen verkaufen Kung-Fu- und Karatefilme. Originelle Geschichten, gewagte Kameraeinstellungen oder schauspielerische Leistungen sind nebensächlich. Was zählt, sind Explosionen, Verfolgungsjagden, Autounfälle – und nackte Brüste.
Männer in Anzügen aus billigen Stoffen locken im Untergeschoss des Festivalpalastes, vor allem aber in den kitschig-luxuriösen Hotels an der Meerpromenade von Cannes während elf Festivaltagen potentielle Käufer in ihre Suiten. Die Filme, die sie anbieten, tragen meist alltagspoetische Titel. Wichtig sind klare Aussagen, zuweilen sogar Originalität. Zu haben sind «Kraa! The Sea Monster», «Zarkoor! The Invader» oder «G-String Murders». Derweil kann ein Titel schon einmal in die Irre führen. «The Size of Watermelons» ist eine Komödie und hat nichts mit Pamela Anderson zu tun.
Die Marktteilnehmer sind durchgehend männlich. Gehandelt wird trotz Euro, Franc und Mark ausschliesslich in Dollar. Die Verkehrssprache ist Englisch, das Gebaren schnörkellos. Sogar die Namengebung der Käufer und Verkäufer erweist sich als identisch und wirkt veraltet. Fast alle benutzen Mittelinitialen. In Cannes heissen die Männer Howard L. Kohn, Todd L. Blatt oder William L. T. Hong. Mister Hong steht der Golden Sun Films vor, einer von 200 Filmproduktionsgesellschaften in Hongkong. Die Firma funktioniert im herkömmlichen Sinn als Familienunternehmen. William Hong, der Patron, repräsentiert, seine Frau Kathy L. P. Hong organisiert und kümmert sich um die Finanzen. William führt Regie und produziert, Kathy erklärt der Kundschaft aus Europa und den USA den Plot ihrer Filme; Englisch spricht nur sie. Er trägt Goldketten, sie ein gelbes T-Shirt.
In Cannes verkaufen sie Kung-Fu- und Karatefilme. Das Auseinanderhalten der beiden Kampfsportarten sei wichtig, betont Kathy. Kung-Fu-Fans würden sich vom Karate-Publikum abgrenzen.
Nach Cannes kamen L. P. und L. T. Hong vornehmlich, um ihre europäische Fangemeinde zu vergrössern. Sie setzen auf «Death Cage», ein brandneues Kick-Boxing-Drama, das in Bangkok spielt. In der Hauptrolle agiert ein blonder, blauäugiger Hüne, der während 90 Minuten Filmdauer 100 Asiaten vermöbelt. In Europa, sagt Frau Hong, würde das Publikum halt lieber weisse Schauspieler sehen als Asiaten.
Der Kalifornier Howard L. Kohn wiederum stellt sich bei der Besetzung keine ethnischen Fragen. Er offeriert Helden, Männer mit enormem Brustumfang, tiefer Stimme und makellos gestählten Körpern. In Filmen wie «The Omega Factor», «2027: Signals from Space» oder «Suspicious Minds» besiegen titanenhafte Giganten das Böse. Unterwegs retten und begatten sie fragile Frauen. «Action, gepaart mit Sex, verkauft sich nach wie vor am besten», sagt Kohn, «und zwar überall.»
Kohns Filme laufen nie durch Kinoprojektoren. Obwohl er neben den Ausstrahlungs- und den Videorechten auch die Kinoauswertungsrechte der Filme verkauft, gelangt keines seiner Werke in die Kinos. Kohn peilt den Pay-TV- und Videomarkt an.
Zufrieden ist Kohn dieses Jahr nicht. Kann er nicht sein. Sein Geschäft läuft trotz zweier neuer Filme und einer eigens für das Festival engagierten Vorzimmerdame schlecht. 2000 französische Franken müsse er täglich für die Blondine aufwerfen. Sie soll potentielle Kunden veranlassen, seine Suite zu betreten, Videos zu visionieren und mit ihm über Verträge zu reden. «Die Asiaten», sagt er, «mögen halt solche Dinge.» Und sie bezahlen gutes Geld dafür. Filmeinkäufer aus Indonesien, Singapur, Südkorea und Japan sind wichtige Kunden.
Allein steht Kohn nicht da. Über den flauen Geschäftsgang klagen fast alle. Der Markt von Cannes, sagt ein indonesischer Filmeinkäufer, der nach Actionware mit muskulösen Männern und Sexfilmen mit grossbusigen Frauen Ausschau hält, habe seinen Stellenwert eingebüsst. Die umsatzstärksten Umschlagplätze der bewegten Bilder liegen woanders. Früher sei ein Grossteil des Geschäfts an der Côte d’Azur abgewickelt worden. Das warme Wetter, das blaue Meer, die französische Cuisine, vor allem aber die rauschenden Feste mit Stars haben Marktteilnehmer in den Midi gelockt.
Bloss noch die Brosamen werden heute im Mai feilgeboten. Der American Film Market in Los Angeles und die italienische Filmmesse Mifed in Mailand haben Cannes den Rang abgelaufen. Jene Filme, die im Kino ausgewertet werden, suchen im Februar in Los Angeles und im Herbst in Mailand ihre Abnehmer. Wer Qualität will, muss an die Mifed oder den American Film Market reisen. Beginnt das Festival von Cannes, sind die Verträge meist schon abgeschlossen. Was bleibt, ist Trash, bestimmt für den Video- und Fernsehmarkt. «Cannes ist schmuddelig geworden», sagt selbst Kohn. Damit verletzt er gleichsam eine Grundregel des Business: Cannes ist eine Illusion, und Illusionen zerstört man nicht. Schlecht darf öffentlich niemand über das eigene Geschäft sprechen. Wie an jeder anderen Industriemesse geht es am Marché von Cannes allen immer «very well», führt jeder nur die besten Produkte in seinem Sortiment. Dass überwiegend zelluloider Schrott verkauft wird, will niemand wahrhaben. Schliesslich lebt man ja davon. Filme wie «Iron Monkey 2» oder «Blondes Have More Guns» werden daher als «Meilensteine der Filmgeschichte» angepriesen.
Ein Handicap für Cannes sind die langen Wege. Es muss zuviel marschiert werden. Der Markt ist auf mehrere Hotels, das Festivalpalais und in der ganzen Stadt verstreute Kinos ver- teilt. Wer Übersicht über das enorme Angebot von an die 1000 zum Verkauf stehenden Filmen gewinnen will, braucht festes Schuhwerk und Ausdauer.
Früher war das anders. Markt und Festival verliefen parallel zueinander. Das eine bedingte das andere. Filme, die später Kultstatus erlangten, wurden oftmals auf dem Markt von Cannes entdeckt. Mit dem Zerfall des Filmschaffens zerfiel auch das Niveau des Markts. In Folge verbannte Festivaldirektor Gilles Jacob den Schmuddel aus dem Palais. Seither logieren die meisten Anbieter in Hotelsuiten. Dort dominiert die Monotonie. Künstlicher Marmor. Neonlicht. Zimmer ohne Fenster. Kunstledersessel. Kaffee aus Plastikbechern.
Während ein Grossteil der Kundschaft aus Asien kommt, haben die Verkabelung Europas und die vielen Privatfernsehstationen das Geschäft neu belebt. Vertreter von deutschen, italienischen und französischen Anstalten kommen nach Cannes, um visuellen Rohstoff für ihre Tages- und Spätabendprogramme zu finden.
Bei den Händlern besonders beliebt sind deutsche Kunden, Einkäufer von Pro 7, Premiere oder Vox. Deutschland hat sich seit der Wiedervereinigung zum wichtigsten ausseramerikanischen Territorium der Filmindustrie entwickelt, auch beim Trash. Nirgends ist die Nachfrage grösser, nirgends werden bessere Preise bezahlt. «Selbst für qualitativ schlechte Ware», sagt Kohn, «bezahlen die Deutschen Höchstpreise.»
Die asiatische Kundschaft ist zwar zahlreich, leben kann er davon aber nicht. Kohn muss froh sein, wenn ihm ein chinesischer Einkäufer 3000 US-Dollar für die Kino-, Video- und Fernsehrechte eines Filmes bezahlt. Lukrativer ist das begüterte Deutschland. «Germany» bezahle bis zu 500 000 Dollar für die Rechte eines einzelnen Films. «Wenn er gut ist und ein Star mitspielt», fügt Kohn an. «Ein deutscher Kunde pro Jahr, und der Besuch in Cannes hat sich für mich gelohnt.»
Im Preis nicht inbegriffen ist die Synchronisation. Englisch verstehen nicht alle. Viele Anbieter führen deshalb zwei Versionen ihrer Filme im Sortiment: eine englische und eine stumme. Es ist dann den Käufern freigestellt, welche Dialoge wie beigemischt werden. Besonders aufwendig ist das allerdings nicht. Da in Kohns Produktionen vornehmlich Action- und Sexszenen zu sehen sind, brauche es ja bloss «raffiniert choreografierte Kampf- und Stöhngeräusche». Und diese Geräusche tönen in Beverly Hills, Kuala Lumpur und Seoul ähnlich.
Grundlegend verändert hat sich der Markt seit 1989. Damals fiel die Berliner Mauer. Jährlich tummeln sich seither mehr Osteuropäer auf der Croisette von Cannes. Russen, Bulgaren oder Rumänen versuchen, Kontakte zu westlichen Filmhändlern zu knüpfen – oder Geld zu waschen. Das Filmgeschäft, sagt ein Insider, werde zunehmend von der russischen und bulgarischen Mafia unterwandert. Vor allem mit den billigen Action- und Softsexfilmen liessen sich Mafiagelder reinwaschen. Es falle auf, sagt ein Marktbeobachter, dass russische Einkäufer «enorm hohe Preise» böten, besonders für Ramschfilme, die niemand sehen wolle.
Im offiziellen Programm des Festivals von Cannes werden jeweils die besten Filme der Welt gezeigt. Cannes ist jährliche Bestandesaufnahme des Zustands der siebten Kunst. Wer hier gewinnt, gilt etwas.
Der Markt ermöglicht ebenfalls tiefere Einsichten. Er sei, schrieb das Branchenblatt «Variety», eine «Bestandesaufnahme des Zustands der Welt».