«Der Dokumentarfilm ist die Zukunft des Kinos»

Der neue Direktor Jean Perret gibt dem Dokumentarfilmfestival von Nyon vom 18. bis 24. September neuen Schwung.

Interview: Peter Hossli

Jean Perret, was ist ein Dokumentarfilm?
Jean Perret: Ein Dokumentarfilm ist ein Film, der mit den Füssen fest auf dem Boden steht, mit dem Kopf aber in die Sterne hinaus blickt.

Spielfilme erzählen Geschichten, Dokumentarfilme sagen die Wahrheit. Stimmt das überhaupt noch?
Perret: Die Wahrheiten der Welt vermitteln zu können, ist der alte Traum des Kinos. Gleichzeitig aber ist es eine grosse Lüge. Der Film kann nur Fragmente der Realität aufnehmen. Diese Fragmente kann er ordnen und in eine narrative Struktur bringen. Daraus entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem, was auf der Leinwand passiert, und dem Publikum. Solange ein Film beim Publikum aber eine intellektuelle und emotionale Regung hervorruft, erfahren die Zuschauer etwas über die Realität. Die im Kino abgebildete Realität ist jedoch immer ein Konstrukt des Regisseurs.

Es kommt häufig zu einer Vermischung zwischen dem fiktionalen und dem dokumentarischen Film.
Perret: Nichts ist innovativer als die Mischform. Der Spielfilm steckt in einer Krise, nicht nur thematisch, sondern auch ästhetisch. Er ist postmodern, hat keine Wurzeln mehr. Seine Identität hat er verloren. In Spielfilmen werden die immer gleichen Geschichten mit den immer gleichen dramaturgischen Mitteln und Helden erzählt. Darum ist der Dokumentarfilm die Zukunft des Kinos.

Der Dokumentarfilm ist im Kino eine Randerscheinung. Er gilt als didaktisch, ja langweilig.
Perret: Die Vorstellung in den Köpfen der Leute bezüglich des Dokumentarfilms ist oft von Vorurteilen geprägt. Der Dokumentarfilm ist neugierig, setzt sich mit der Welt auseinander, nimmt Risiken auf sich …

… ein grosses Publikum hat er aber nicht. Was muss geschehen, dass der Dokumentarfilm, einmal abgesehen vom Spätabendprogramm im Fernsehen, wieder unter die Leute kommt?
Perret: Es braucht Ereignisse wie das Festival von Nyon.

Das vor allem dem Veranstaltungsort dient?
Perret: Im Gegenteil. Wir machen kein narzisstisches Festival, das uns mehr nützt als den Filmen. Die Filme müssen im Zentrum stehen. Wir wollen zeigen, wie anregend Dokumentarfilme sind, dass die Schweiz über ein hochkarätiges Dokumentarfilmschaffen verfügt.

Das Image des Schweizer Films ist aber nach wie vor negativ.
Perret: Viel zu negativ! Die Solothurner Filmtage kämpfen jedes Jahr dagegen.

… und nun Sie in Nyon?
Perret: Wir haben den Vorteil, dass der Dokumentarfilm zusammen mit dem
Animationsfilm ein Renommee besitzt, das über die Schweiz hinausreicht.

In ein paar Tagen wird hier in Nyon der erste Dokumentarfilm durch die Projektoren laufen. Sind sie nervös?
Perret: Nervös bin ich nicht, ich habe Lampenfieber. Die Erwartungen sind gross. Wer die Schweizer Filmszene kennt, weiss, dass keine Geschenke gemacht werden.

Im Herbst 1993 wurde das Festival letztmals durchgeführt. Nyon erhielt staatliche Subventionen von mehreren hunderttausend Franken. Das Publikum liess sich aber kaum mobilisieren. Die Festivalleitung wurde nach über 20jähriger Tätigkeit abgesetzt. Sie wagen nun einen Neubeginn. Dennoch bleibt die Frage: Warum braucht es Nyon?
Perret: Im Vordergrund steht die Bedeutung der Schweiz als Produktionsland für hochwertige Dokumentarfilme. Nyon soll für den heimischen Dokumentarfilm ein Tor zur Welt werden. Zudem bietet ein Festival die Möglichkeit zur Diskussion. Wir haben bewusst darauf geachtet, weniger Filme zu zeigen. Statt dessen nehmen wir uns Zeit zum Nachdenken und Diskutieren. Eine Veranstaltung wie Nyon leistet Widerstand gegen das dominante Kino. Nyon will den Leuten, die mit der Kamera auf der Schulter ins Land hinaus gehen und Menschen einfangen, die Möglichkeit bieten, ihre Filme zu zeigen. Wir wehren uns gegen die immer schnellere Zirkulation inhaltsloser Bilder.

Mit einem Festival treiben Sie diese Zirkulation doch an.
Perret: Wir wollen bremsen. Man muss sich Zeit nehmen, sich Bilder anschauen, längeren Einstellungen Platz lassen.

Ein zentrales Ziel des Festivals ist der Einbezug der Filmbranche. Auch das Fernsehen soll nach Nyon kommen und Filme einkaufen. Erfüllt die SRG ihre Aufgabe im Bereich Dokumentarfilm?
Perret: Nein. Das Schweizer Fernsehen erfüllt ihren Kulturauftrag nur bezüglich der Produktion, nicht aber der Ausstrahlung von Dokumentarfilmen. Die SRG agiert wie eine private Fernsehanstalt, die nur noch auf Einschaltquoten bedacht ist. Dabei benötigt gerade der Dokumentarfilm zugänglich gestaltete Sendegefässe, die aus dem gängigen Rahmen von 26 oder 52 Minuten heraustreten.

Es fehlt auch die journalistische Auseinandersetzung mit dem Film.
Perret: Sowohl das welsche als auch das Deutschschweizer Fernsehen haben keine journalistisch aufbereitete Filmsendung, die diese Bezeichnung verdiente.

Im Deutschschweizer Fernsehen gibt es «Ciné-Clip» …
Perret: Genau. Der kurze Clip kann bloss noch Promotion sein. Keine Sendung aber nimmt den Film ernst.

Die kleine Schweiz erlebt derzeit eine Filmfestivalschwemme. Es gibt die Solothurner Filmtage im Januar, das Trikont-Filmfestival in Freiburg und das Gstaader Cinémusic im März, Locarno im August, Nyon Mitte und das Badener Animationsfilmfestival «Fantoche» Ende September, das Luzerner Experimentalfilmfestival «Viper» im Oktober. Sind das nicht zu viele?
Perret: Wenn die Festivals ihre Aufgabenbereiche klar abgrenzen, können sie gut nebeneinander agieren. Mancher Film würde sonst nicht mehr gezeigt.

Gibt es unter den Festivals kein Gerangel um die Bundesgelder?
Perret: Der Bund ist natürlich gezwungen, Richtlinien festzulegen. Die Unterstützung sollte von der Qualität einer Veranstaltung abhängen. Es gilt herauszufinden, welche Festivals kulturell wirklich wichtig sind und welche einen reinen Selbstzweck verfolgen.

Viel Erfahrung
Jean Perret, 43, wurde in Paris als Sohn einer Französin und eines Schweizers geboren, hat zwei Staatsbürgerschaften und ist mit einer Deutschschweizerin verheiratet. 1994 wurde der Filmjournalist von Radio Suisse Romande (Espace 2) und vormalige Leiter der renommierten «Semaine de la critique» des Filmfestivals von Locarno aus über 30 Bewerbern zum Direktor des Dokumentarfilmfestivals von Nyon gewählt. Vom 18. bis 24. September wir das traditionsreiche Festival am Lac Léman in redimensionierter Form erstmals unter Perrets Leitung über die Bühne gehen. �