Lernen gegen den Terror

Der IS hat sie vertrieben, sie waren Zeugen brutaler Akte – wie Kinder im Nordirak den Gräueln trotzen und von einer besseren Zukunft träumen.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

arbat_schuleKinder kreischen. Buben in dicken Pullis spielen Fangen. Bis die Männer sie mit Stöcken in Zelte treiben.
Es ist kurz nach zehn Uhr, die Pause an der Schule im nordirakischen Lager Arbat ist zu Ende. Lehrer weisen 1250 Buben der ersten bis zur neunten Klasse Zelten zu.

Bei den ganz Kleinen sitzen 156 Schüler gemeinsam in einem Zelt. Es riecht nach ungewaschenen Kindern. Ein Mann mit buschigem Schnauz erteilt Rechenunterricht. Auf Arabisch zählt er bis zehn. Vorne sprechen sie ihm artig nach, hinten treiben sie Schabernack. «Viel profitieren die Kinder nicht», sagt der Lehrer. «Aber sie kommen trotzdem.»

Es sind vertriebene Schüler. Sie lernen, um den Terror zu vergessen. Die meisten wohnten in und um Tikrit, der westirakischen Stadt und Heimatort von Ex-Diktator Saddam Hussein († 69).

Letzten Juni eroberte die Terrorbande Islamischer Staat Tikrit. An einem Tag ermordeten ihre Schergen 1566 irakische Soldaten. Wer konnte, floh. Derzeit sind im Irak 2,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Über die Hälfte hat Kurdistan aufgenommen, die sicherste Region des Zweistromlandes. Sie wohnen in Zeltlagern, in halbfertigen Häusern und bei Familien.

schuleNahe der iranischen Grenze, bei der Stadt Sulaimaniya liegt Arbat, eines der grössten Lager. Beim Eingang verkauft jemand Orangen. Getrennt warten Frauen und Männer auf Kochkerosin. Es regnet. So weit das Auge reicht: Zelte. Darin leben 18 200 Binnenflüchtlinge – Iraker, die im Irak vertrieben wurden. Araber, Jesiden, Kurden, Christen. «Es ist Klein-Irak!», so der Lagerleiter.

300 der 3000 Zelte kommen aus der Schweiz. Letztes Jahr lieferte die Humanitäre Hilfe wintersicheres Material mit Platz für sechs Menschen. Laster karrten sie von Wabern BE nach Kurdistan.

Auf einem Hügel steht die Schulhalle. Kinder haben den Eingang mit Minaretten und Kirchtürmen bemalt, mit dem isla­mischen Halbmond und dem Kreuz Christi.

Das Kinderhilfswerk Unicef lieferte die Zelte, die als Klassenzimmer dienen. Weil hier geflohene Iraker und nicht ausländische Kinder lernen, muss der irakische Staat die Schule organisieren. Die Lehrer? Sind ebenfalls Vertriebene aus der Provinz um Tikrit.

Morgens büffeln Knaben, nachmittags Mädchen. «Dann ist es jeweils ruhiger», sagt einer der Lehrer.

Wali, 13

Wali, 13

Ein ruhiger Kerl ist Wali. Er ist 13, schlaksig, besucht die sechste Klasse. Islamwissenschaften sind sein Lieblingsfach. Lehrer möchte er werden. Warum ist er hier? «Daesh hat uns vertrieben», sagt er und verwendet ein abschätziges arabisches Wort für die Terrorbande. «Islamischer Staat» sei eine Beleidigung für seine Religion, sagt der künftige Islamwissenschaftler. «Das sind keine Muslime, das sind Tiere.» Denkt er daran, selbst zur Waffe zu greifen, Daesh zu bekämpfen? «Nein, ich will Lehrer werden und in Frieden leben.» Vor allem will er nach Hause, wo nur 20 Knaben in seiner Klasse sassen. Mehr mag er nicht sagen. Die Flucht hat ihn traumatisiert.

Bandar, 14

Bandar, 14

Bandar (14) sah, wie Granaten auf Tik­rit fielen. Wie maskierte Männer durch die Strassen zogen, welche Polizisten und Soldaten meuchelten. «Wir fürchteten, dass sie uns holen», sagt er. «Meine Eltern packten, was sie tragen konnten, und wir flohen.» Vor allem um seine Kameraden zu treffen, gehe er täglich zur Schule, sagt Bandar. Er rechnet gerne, Mathematik ist sein Lieblingsfach. Wie Wali will er Lehrer werden.

Ali, 12

Ali, 12

Der zwölfjährige Ali floh von Tikrit in die Hauptstadt Bagdad, vor drei Monaten kam er in Arbat an. Bärtige Männer hätten das Haus seiner Eltern zerstört. «Sie töteten alle, die ihnen im Weg standen.» Noch immer höre er Schreie von Sterbenden. «Oft dachte ich, jetzt bin ich dran.» Das Leid beeinflusst seinen Berufswunsch: «Ich will Arzt werden und anderen helfen.»

Farhan, 16

Farhan, 16

Um vier Uhr in der Früh weckten Mörser und Gewehrschüsse die Familie von Farhan (16). Soldaten und Daesh-Terroristen lieferten sich ein Feuergefecht. Farhan entkam mit seinem Vater. Gemeinsam schwammen sie über einen Fluss in Sicherheit. Farhan spricht ein paar Brocken Englisch. Später will er Fremdsprachen unterrichten.

Peter Hossli befragt Schülerinnen

Peter Hossli befragt Schülerinnen

Kurz vor Mittag verlassen die Buben die Schulhalle, machen den Mädchen Platz. Die älteren tragen Kopftücher, ihre Wimpern und Lippen sind geschminkt. Viele sind Sunnitinnen – wie Daesh. Und doch verachten sie die Terroristen. «Wer an Gott glaubt, macht nicht, was diese Menschen tun», sagt Noor. Sie ist 16, besucht die neunte Klasse. Sie flüchtete mit fünf Geschwistern. Daesh zerstörte ihr Quartier.

Von vorne fotografieren lässt sie sich nicht. Sie gehe gerne zur Schule. «Wir lernen das Gleiche wie die Jungs», betont sie. Sie will studieren wie ihre Freundinnen. «Wir wollen Karriere machen, nicht heiraten», so Noor. Und was will sie werden? «Journalistin», sagt sie zum BLICK-Reporter. «Damit ich der Welt erzählen kann, was hier geschieht.»