“Wir sind hier lediglich Gäste”

Er ist studierter Maschinenbauer und Chef der einzigen familiengeführten Universalbank der Schweiz: Vittorio Cornaro sagt, warum er so viel Sport macht, die Berge schützen will – und wann die Familie eine Dividende erhält.

Interview: Peter Hossli

Vittorio Cornaro, 51, eilt den steilen Berg hinauf. Auf den Schultern trägt der Chef der Cornèr Bank ein Mountainbike. Im Blick hat er die Corno-Gries-Hütte, eine der schönsten Herbergen des Schweizer Alpen-Clubs. Sie liegt auf 2338 Metern über Meer im oberen Bedrettotal im Tessin. Hierher kommt der Bankchef, um den Kopf zu leeren und Ideen zu entwickeln. Seit 2016 amtet er als CEO.

Herr Cornaro, Ihre Bank muss gut aufgestellt sein …
Vittorio Cornaro: … ja, schon, aber warum meinen Sie?

Sie können es sich als CEO der Cornèr Bank leisten, an einem Dienstag einen Tag in den Bergen zu verbringen.
Ich bin ja nicht der Einzige, wir haben über 1000 Mitarbeitende, die jeden Tag grossartige Arbeit leisten.

Wer gut führt, kann loslassen?
Dass ich heute wandere und bike, hat natürlich einen kleinen Preis. Die Mails, die ich tagsüber nicht beantworte, muss ich am Abend erledigen. Aber ich habe zum Glück ein starkes, eingespieltes Team und kann daher gut ein paar Stunden aussetzen.

Wir sind umgeben von einer atemberaubenden Landschaft, tiefen Tälern, Hügeln mit Geröll. Was gibt Ihnen dieser Ort?
Wie sagt man «calma» auf Deutsch?

Ruhe.
Ruhe! Dieser Ort gibt mir Ruhe. Und Zeit, um nachzudenken. Für mich sind die Bank, meine Familie und der Sport die drei Grundpfeiler meines Lebens.

Und in die Natur ziehen Sie sich zurück?
Die Natur ist mein Kraftort. Das Stadtleben liegt mir nicht sonderlich. Überspitzt gesagt, bin ich ein wenig ein Eremit. Mir gelingt es nicht immer, im Alltag gute Gedanken zu formulieren. Bin ich allein, finde ich aber Wege, um Probleme zu lösen – in den Bergen, wenn ich schwimme, auf dem Velo bin oder laufe. In diesen Momenten entsteht in meinem Kopf Platz für neue Gedanken.

Gehen Sie in den Bergen lieber rauf oder runter?
Eindeutig rauf, sowohl beim Wandern wie beim Laufen. Mit dem Mountainbike ist Runterfahren aber lustiger.

Sie besteigen die Berge nicht nur, Sie schützen sie. Warum?
In dieser Welt sind wir lediglich Gäste, wir verhalten uns aber nicht immer so, wie wir das sollten. Als Schweizer Bank unterstützen wir Projekte, die etwas mit der Schweiz zu tun haben. Deshalb ist für uns die Partnerschaft mit dem Schweizer Alpen-Club eine Herzensangelegenheit. Junge Generationen sollen die Berge neu entdecken – und sie schützen.

Finden Sie in der Natur etwas, das die Bank besser macht?
Uns war es stets wichtig, bodenständig zu bleiben. Um unabhängig zu bleiben, müssen wir uns verantwortungsvoll verhalten und dürfen nicht abheben.

Die Cornèr Bank ist im Familienbesitz. Unterstützen alle Aktionäre Ihr Engagement für die Berge?
Ganz ehrlich: Dazu hat die Familie nichts zu sagen, da eine klare Trennung zwischen Familie und Geschäft besteht. Ich führe die Bank in der dritten Generation. Mit Ausnahme von mir ist niemand operativ tätig. Mein Vater ist Verwaltungsratspräsident, und eine Cousine sitzt im Verwaltungsrat.

Die Cornèr Bank ist die einzige familiengeführte Universalbank der Schweiz. Führen Sie ein Unternehmen – oder eine Familie?
Zusammen mit meiner Frau führe ich unsere Familie, aber nicht die erweiterte. Ansonsten leite ich einfach ein Unternehmen, das eine Bank ist.

Wie bringen Sie die Interessen der Bank und der Familie zusammen?
Die Bank steht immer an erster Stelle. Wir entscheiden, was sie braucht, um zu wachsen, um stabil zu bleiben und zu investieren. Nur wenn etwas übrig bleibt, schütten wir eine Dividende aus.

Und das akzeptieren alle?
Unser Ansatz ist einfach: Geht es der Bank gut, profitiert die Familie. Wenn es nur der Familie gut gehen soll, könnte dies die Bank schädigen. Und das gilt es zu vermeiden.

Ihr Grossvater hat die Cornèr Bank gegründet, Ihr Vater brachte die Kreditkarten in die Schweiz. Wohin wollen Sie die Bank führen?
Es ist meine Aufgabe, die Cornèr Bank mit ihrer heutigen Komplexität so weiterzuführen, dass ich sie der vierten Generation übergeben kann – in spätestens 20 Jahren, aber hoffentlich früher.

Ist die vierte Generation bereit?
Das Interesse ist sicherlich da. Einer meiner Söhne hat Mathematik studiert und absolviert derzeit einen Finanzmaster. Der zweite studiert Ingenieurwesen an der ETH Zürich und schliesst momentan einen Einstieg in die Bank nicht aus. Der dritte Sohn ist noch unschlüssig. Es ist also alles noch offen, aber meine Frau und ich möchten unsere Kinder zu nichts zwingen. Sie sollen den Beruf ausüben, der ihnen Spass und Freude bereitet.

Sie haben an der ETH in Zürich Maschinenbau studiert. Kann ein Ingenieur ein Banker sein?
Mir half das Ingenieurwesen, die Gedanken zu strukturieren. Im heutigen Banking-Business sind Dinge wie IT und künstliche Intelligenz essenziell. Ich habe an der ETH gelernt, komplexe Probleme zu analysieren und zu lösen. Das kommt mir zugute. Und wie in anderen Bereichen braucht es im Bankgeschäft gesunden Menschenverstand.

Benützen Sie noch Bargeld?
Praktisch nicht. Für Notfälle habe ich jedoch stets ein paar Zehner- und Zwanzigernoten dabei, da leider immer noch nicht alle Händler in der Schweiz Zahlungskarten akzeptieren.

Bargeld ist zu einem Politikum geworden. Es gibt solche, die sagen: Bargeld sei der letzte Hort der Freiheit. Wer Karten benütze, werde überwacht.
Diese Meinung ist legitim, ich respektiere sie. Persönlich sehe ich in der Benützung von Zahlungskarten keinerlei Verlust von Unabhängigkeit oder Freiheit. Fast alle von uns erhalten das Salär auf ein Konto. Das könnte der Staat theoretisch ebenfalls kontrollieren.

Es gibt neue Player in der Finanzbranche. Banken wie Neon oder Revolut, die nur noch aus einer App und einer Karte bestehen. Für Sie eine Gefahr?
Wir nehmen sie selbstverständlich ernst. Sie verpflichten uns traditionelle Banken, gleiche oder bessere Dienstleistungen anzubieten und noch innovativer zu werden. Die Situation ist vergleichbar mit Low-Cost-Airlines und traditionellen Fluggesellschaften.

Es hiess: Traditionelle Fluggesellschaften gehen unter.
Das ist nicht passiert, weil es beides braucht und für beides Raum hat. Fliege ich nach Sizilien in die Ferien, wähle ich eine günstige Airline. Auf längeren Reisen benütze ich eher eine traditionelle Fluggesellschaft, weil ich einen anderen Anspruch habe. Bei Bankangeboten ist es gleich.

Es gibt nur noch eine Schweizer Grossbank. Ist das gut für Ihr Geschäft?
Seit 70 Jahren kursiert in der Finanzbranche die Aussage: Grösse, Grösse, Grösse. Ohne Grösse bist du tot. Als mein Grossvater die Bank gründete, gab es fünf Schweizer Grossbanken. Heute haben wir nur noch eine. Die Cornèr Bank ist in den letzten 70 Jahren gewachsen, weil wir uns immer wieder die Frage stellen: Wie können wir uns von einer Grossbank unterscheiden, um erfolgreich zu sein? Wie der kleine Gemüseladen oder die Bäckerei, die anders sein müssen als ein Supermarkt.