Von Peter Hossli (Text) und Bruno Muff (Illustration)
Angetan hatten es ihr die Kleinstadtnutten, mit ihren roten Lippen und engen Röcken, tiefen Ausschnitten und endlosen Absätzen. Als die strenge Mutter dem Töchterchen einbleute, die leichten Mädchen seien nichts als «Trash», wusste die Kleine, wie sie dereinst aussehen würde – so billig wie die «läufigen Ladys» an der Ecke. «Wie Trash», sagt Dolly Parton, mittlerweile hundertfache Millionärin im Gewand einer würdevoll gealterten Kleinstadtnutte, «nur so fühle ich mich wirklich wohl in meiner Haut.»
Überdreht erzählte mir das die Diva vor Jahren im Ballsaal eines New Yorker Hotels. Sie sprühte vor Witz und Charme. Ein Heustock, beim Country üblich, komme ihr nicht auf die Bühne. «Den trage ich als Perücke auf dem Kopf.» Ihr Gesicht war faltenfrei, allein die Hände verrieten ihr Alter. «Sie können sich nicht vorstellen, wie teuer es ist, so billig wie ich auszusehen.» Sie betonte: «All das mache ich nur für mich.» Gutes Make-up und gute Ärzte würden ihr helfen, comicartig zu erscheinen. «Cartoon-Figuren altern nicht.»
Dolly Parton wird im Januar 75 Jahre alt. Jetzt feiert sie mit der Welt Weihnachten. Auf Netflix zu sehen ist ihr neustes Musical «Christmas on the Square». Sie produzierte den Film, schrieb die Songs und verkörpert einen blonden Engel, der eine Stadt vor der kaltherzigen Unternehmerin rettet. Auf ihrem neuen Weihnachtsalbum «Holly Dolly Christmas» singt sie Duetts mit Willie Nelson und Miley Cyrus, ihrem Patenkind. Unlängst veröffentlichte die Songwriterin ein Buch über ihre besten Lieder. Darunter Klassiker wie «Jolene», der gerade ein Revival erlebt.
Oder «I Will Always Love You», den Whitney Houston zu einem der grössten Hits aller Zeiten sang. Parton schrieb den Song 1973 als Abschiedsgruss für ihren Bühnenpartner. Elvis Presley wollte ihn aufnehmen, verlangte aber die Hälfte der Urheberrechte. Die weitsichtige Geschäftsfrau wies den King zurück. Später spottete Parton, sie habe mit dem Song genug verdient, «um Graceland zu kaufen», das Anwesen von Elvis.
Aus der einstigen «Hinterwald Barbie» war die unbestrittene «Leading Lady of Country» geworden, versehen mit einer grandiosen Stimme, mächtig und vielseitig wie ein Orchester, das jeden Ton zielgenau trifft, ob Pop, Country, Bluegrass, Rap oder Gospel. Sie kann schreiben, erzählt bildhaft und präzise. Ihre Songs wirken wie Kurzfilme im Cinemascope-Format, berühren und verdichten grosse Wahrheiten zu kleinen Zeilen.
Ihr Talent führt sie auf eine harte Kindheit zurück. Dolly wuchs mausarm auf, als eines von zwölf Kindern in einer Blockhütte. Ihr Vater baute in den Hügeln von Tennessee Tabak an. «Wir hatten laufendes Wasser», erzählt sie. «Lauf, und hol Wasser!» Zu fünft lagen sie im Bett, als die Mutter sie mit alten Liedern in den Schlaf sang. Mit zehn trat sie am Radio und in Kirchen auf. Wer sie live hörte, konnte nicht wegsehen. Johnny Cash stellte das «Bergbauernkind» vor, als Dolly mit 13 im Grand Ole Opry auf der Bühne stand, im Country-Olymp von Nashville.
Nach der Highschool zog sie in die Stadt, wild entschlossen, es dort alleine zu schaffen. Am ersten Tag lernte sie in der «Whishy-Washy Washeteria» den Handwerker Carl Dean kennen, er 21, sie 18. Liebe im Waschsalon. Zwei Jahre darauf heirateten sie. Die kinderlose Ehe hält seit 54 Jahren. Vielleicht, weil er ihr das Rampenlicht überlässt. Keines ihrer Konzerte soll Dean besucht haben.
Dolly Parton weiss, was sie tut, erreicht, was sie will. Sie hat über 100 Millionen Alben verkauft, zig Filme gedreht, besitzt rund 600 Millionen Dollar, gewann zehn Grammys, war nominiert für Emmys, Tonys und Oscars. Jährlich drei Millionen Menschen besuchen ihren Vergnügungspark Dollywood in Tennessee. Ihr Rezept? «Meine Leidenschaft, etwas zu tun, ist grösser als die Angst davor.»
Als Feministin hat sie sich nie bezeichnet, lebt aber selbstbestimmt wie kaum jemand. Bereits als junge Frau besang sie die Gleichberechtigung. Ihr Titellied zum gleichnamigen Spielfilm «9 to 5» (1980) gilt heute als frühe #MeToo-Hymne. Sie verkörpert darin eine Sekretärin, die droht, ihren sexistischen Chef «vom Hahn zur Henne» zu schiessen.
In jeder Filmszene trägt sie Highheels, was sie privat selbst in der Küche tue. «Ich muss hohe Absätze anziehen, um die Schränke zu erreichen.» Sie misst nicht viel mehr als eineinhalb Meter. Fast alles an ihr ist klitzeklein, offenbarte eine kurze Umarmung am Ende des Treffens in New York. Unvergleichlich gross hingegen all das, was sie erreicht hat.